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Eddy stirbt
Eddy stirbt
“Ich sterbe!”, sagt Eddy. Das klingt nicht traurig, sondern eher überrascht.
“Quatsch, du stirbst nicht!” Melanie schaut noch nicht einmal von ihrem Eisbecher auf. Genüsslich fischt sie nach einer Amarenakirsche.
“Ich sterbe!”, wiederholt Eddy. Er hat seinen Eisbecher schon geleert und überlegt gerade und parallel zur größten aller philosophischen Fragen, ob er sich nicht noch zwei Kugeln Eis bestellen soll. Pistazie und Zitrone vielleicht.
“Man stirbt nicht an MS!” Melanie ist nun doch etwas beunruhigt. “Die Therapie hat super angeschlagen, du hast keine Entzündung mehr. Wenn du Glück hast, merkst du in deinem ganzen Leben nie wieder etwas von der multiplen Sklerose.” Melanie spricht mit Nachdruck und Fachwissen. Sie ist Arzthelferin bei Eddys Hausarzt und hat sich ausführlich informiert.
“Ich mein ja auch nicht wegen der MS. Es ist einfach so, dass ich das komische Gefühl habe, dass ich sterbe. Genau jetzt.”
“Eddy!” Melanie klingt leicht gereizt. Sie kennt ihren Eddy und weiß, dass er hin und wieder zu ziemlich absurden Ideen neigt. “Eddy, eines Tages müssen wir alle sterben. Aber nicht heute. Heute gehen wir zum Endspiel!”
Sie hat zwei Eintrittskarten für das Endspiel der Fighting Farmers. Nach dem Eis essen wollen sie ins Stadion gehen. Das ist der Plan für diesen Samstag. Ein Gespräch übers Sterben kann einem doch die ganze gute Laune verderben.
“Wie meinst du das: eines Tages? Das Sterben kann viel länger dauern als nur einen Tag?” Eddy ist jetzt ziemlich konzentriert. “Bei meiner Oma hat es fast drei Jahre gedauert.”
“Das kann gar nicht sein.” Melanie ist jetzt sehr beunruhigt.
“Weißt du noch, sie hatte Darmkrebs und war im Krankenhaus. Es war nichts mehr zu machen. Und Oma wollte unbedingt zuhause sterben. Die ganze Familie war besorgt. Aber es hat über drei Jahre gedauert, bis sie tot war. Wir haben sie dauernd besucht, weil sie ja im Sterben lag.”
Eddy ist immer noch etwas traurig. Er hat Oma sehr gemocht.
“Bei ihr hat das Sterben drei Jahre gedauert. Und vielleicht hat es viel früher begonnen. Wir haben es nur nicht bemerkt.”, sinniert er.
“Also weißt du, das ist doch wirklich Blödsinn! Sie ist nicht drei Jahre gestorben sondern hat noch drei Jahre gelebt. Das ist doch wirklich was ganz Anderes.” Melanie schüttelt den Kopf und fragt sich insgeheim, ob das wirklich so ein großer Unterschied für Eddys Oma gewesen ist.
“Also, nur mal so als Frage, wenn man drei Jahre sterben kann, dann kann man doch auch vier Jahre sterben oder zehn?” Eddy führt seinen Gedanken weiter, ohne auf Melanies Einwand einzugehen.
“Unsinn. Man stirbt und dann ist man tot!” Melanie beginnt, wirklich genervt zu sein.
“Ja eben, das meine ich. Tod ist ein Zustand aber Sterben ist eine Tätigkeit. Wie laufen, Fußball spielen oder Bus fahren. Es gibt einen Anfang und ein Ende. Das Ende vom Sterben ist der Tod. Aber wann beginnt es?” Eddy läßt sich nicht aus der Spur bringen.
“Also dich hat´s ja richtig erwischt.” Aber ein wenig interessiert ist sie jetzt doch. “Aber eigentlich lebst du ja dann noch. Du stirbst und lebst noch. Irgendwie passiert das zusammen.” Melanie beginnt sich richtig auf das Gespräch einzulassen.
“Stell dir vor, das Leben ist der Eisbecher, den ich gegessen habe.” Eddy kichert, er weiß nicht wohin das führt, aber irgendwie ist es eine lustige Vorstellung. “Ich bestelle ihn, das ist die Empfängnis. Der Becher wird zubereitet, Schwangerschaft. Toni bringt mir den Becher, Geburt.” Beide lachen prustend! “Okay weiter”, sagt Eddy.
“Ich beginne zu essen, das ist quasi das Leben. Erst die Sahne” - so machte Eddy das immer, die Sahne zuerst. “Dann die Kugel Schockoeis, dann Vanille, zum Schluss Banane.”
“Und schon ist das Eis tod.”, kichert Melanie.
“Aber wann beginnt es zu sterben? Wenn ich die bei der Kugel Bananeneis angekommen bin? Oder schon bei Vanille?”
“Eigentlich schon bei der Sahne”, meint Melanie etwas betroffen.
“Ja, der Becher stirbt, sobald ich anfange, zu essen.”
“Armer Eisbecher,” seufzte Melanie. “Aber du kannst doch nicht ernsthaft behaupten, wir sterben mit der Geburt.”
“Und warum nicht?”
“Na, da sind wir ja Babys und wachsen doch erst noch. Wir sind nicht fertig wie dein Eisbecher.” Sie freut sich, ihn doch noch erwischt zu haben.
“Also du meinst, das Sterben beginnt, wenn man Erwachsen ist, also so mit 20 Jahren.”, hakt Eddy nach.
“Manche werden nie erwachsen,” lacht Melanie “die könnten dann ja überhaupt nicht sterben.” Sie merkt, dass irgendetwas am dem Bild nicht stimmt.
“Und wie war das mit Frau Schreiber?”, fragt Eddy. Ihr Baby war mit drei Monaten an plötzlichem Kindstod verstorben. “Wann hat das Baby begonnen, zu sterben?”
“Okay, akzeptiert. Wir fangen an zu sterben, sobald wir auf die Welt kommen.” Sie sagt das nur, um Eddy am Weiterreden zu hindern. Ihr wird es allmählich zu mulmig. Das ganze Gespräch ist viel zu unbequem und nervt.
“So ein idiotisches Gespräch.”, mault sie.
“Lass uns ins Stadion gehen!”, drängt sie.
Eddy hat ihr nicht richtig zugehört. Aber den einen Satz hört er deutlich: wir beginnen zu sterben sobald wir geboren werden. Irgendwie tröstet ihn die Vorstellung. Er hat eine unheimliche Krankheit, verborgen, nicht heilbar und daher auch immer präsent. Zu wissen, dass jeder Mensch von Geburt an stirbt, ist irgendwie wichtig. Ich sterbe seit meiner Geburt, sagt er sich. Daran ist nichts zu ändern, Krankheit hin oder her. Aber ich lebe auch bis zu meinem Tod. Auch daran ändert meine MS nichts! Eddy fühlt sich leichter, irgendwie jünger, gesünder. Während er aufstand kam ihm noch ein kleiner Gedanke, so leise, dass er in der Vorfreude auf das Spiel sofort wieder unterging: und wenn das Sterben schon mit der Bestellung beginnt?
“Klar, los, auf ins Stadion!” Eddy springt auf. Sie würden einen Haufen Spaß haben.