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Eddie und die schwarze Schildkröte
Es ist zehn Uhr. Frau Vogelmann, die alte Witwe vom hinteren Ende des Ganges, kommt vom Einkauf zurück. Es muss zehn Uhr sein, denn sie kommt jeden Tag um genau diese Uhrzeit mit ihrem Wägelchen an seiner Wohnungstür vorbei. Einige Male hat er sie dabei durch den Briefschlitz beobachtet. Eddie erkennt das Wägelchen an dem Quietschen, das eines der beiden Räder verursacht. Er glaubt, es sei das linke.
„Frau Vogelmann hat also ihre Einkäufe, bestehend aus einer Packung Fleischsalat, zwei Semmeln und zwei Büchsen Bier für heute erledigt”, denkt er sich. „Sie wird ihren schwarzen Umhang und die schwarzen Stiefelchen ablegen und es sich in ihrer kleinen Wohnung bequem machen.” Eddie stellt sich das so vor. Er hat sie später am Tag noch nie im Treppenhaus bemerkt. Immer nur morgens.
Dass es Fleischsalat, Semmeln und Bier sind, die Frau Vogelmann da einkauft, weiß Eddie, weil einmal an einem Dienstag im Februar direkt vor seiner Wohnungstür das Wägelchen umkippte und alles herauspurzelte. Er stürzte voller Hilfsbereitschaft in den Hausflur und sammelte die Sachen wieder zusammen. Frau Vogelmann brabbelte die ganze Zeit missmutig etwas vor sich hin und machte ungelenke Versuche, sich zu bücken. Eddie hatte den Eindruck, dass sich im Inneren des Wägelchens etwas bewegte, aber genau konnte er es nicht erkennen. Dazu war das Licht des Februarmorgens zu schummerig gewesen und Frau Vogelmann hatte ihm plötzlich mit unerwartet flinken Händen alle Sachen entrissen, sich die Bierbüchsen an ihre flache Brust gedrückt und war, das quietschende Wägelchen hinter sich her zerrend, zu ihrer Wohnungstür getippelt. Ein modriger Geruch blieb eine Weile im Hausflur hängen und verflog nur zögerlich.
Eddie lehnt sich zufrieden in seinem Stuhl am Küchentisch zurück und streicht dabei mit den Händen die Tischdecke glatt. Er hört die Spatzen im Hinterhof streiten. Fröhlich klingt das. Frech. Er sollte das Fenster schließen, weil ihm langsam kalt wird, aber er hört das Gezwitscher so gerne. Er hat Zeit. Viel Zeit. Ihn braucht schon lange Zeit niemand mehr. Ein bisschen sitzt er noch.
Er schließt die Augen, um die Sonnenstrahlen, die sich für einen kurzen Moment über das Dach in den Hinterhof verirrt haben, in sein Gesicht scheinen zu lassen, und spürt der Wärme auf seinen Wangen noch nach, als die Sonne schon längst weitergezogen ist.
Eddie weiß, nun wird bald ein anderes Geräusch die ruhige Vormittagsidylle zerstören. Fast wartet er darauf. Gegen elf Uhr wird es dem Herrn, der über Eddies Wohnung wohnt, pressieren und sein Stuhlgang steht an. An seinem Klingelschild steht „Lubinski”. Eddie kennt ihn nur vom Hören. Gesehen hat er ihn noch nie. Doch die Hellhörigkeit des Hinterhofes lässt kaum Fragen offen.
Es beginnt ganz harmlos mit einem gepressten Grunzen.
Pause.
Dann mehrmaliges stakkatoartiges Grunzen.
Pause.
Jetzt steigern sich die Intervalle und auch die Lautstärke.
Schließlich, zum Höhepunkt hin, ein gewaltiger Seufzer der Erleichterung. Fast kann Eddie es plumpsen hören. Nüchternes Geräusch der Klospülung. Eddie rümpft die Nase. Widerlich! Aber für heute ist's geschafft!
Er hat von diesem Mieter im vierten Stock ein klares Bild vor Augen. Der ist ja oft zu hören. Mittleres Alter, lautstarkes Familienoberhaupt, an dessen kräftigen Nacken unbedingt eine auffällige Goldkette baumeln muss, mit sicherlich vielen Haaren auf der Brust, aber wenigen auf dem Kopf. Eddie stellt sich Herrn Lubinski dunkelhaarig vor. Seine Frau hingegen muss zart und klein sein. Vielleicht haselnussbraunes Haar? Ihre leisen, schlichtenden Worte gehen immer sehr schnell in Lubinskis donnerndem Gebrüll unter. Manchmal träumt Eddie von ihr, wenn er in die Wolken schaut. Stellt sie sich vor. Hat sie braune oder grüne Augen?
Er träumt, sie zu beschützen. Vor Lubinski. Sie zu begleiten, bei den Ämtern und Behörden. Das kann er gut. Formulare und so. Danach würde er sie gerne einladen zum Picknick im Park. Mit Blick auf den See. Auf der karierten Decke könnten ihre Kinder spielen. Er würde sie nie anschreien. Nie. Irgendwann würde sie vielleicht seine Hand halten wollen.
Ganz vorsichtig rückt Eddie den Salzstreuer auf dem Küchentisch zurecht. Millimeter für Millimeter. Er muss ganz genau zum Pfeffer ausgerichtet sein. So. Jetzt passt es!
Unter die hellen Tschilper der immer noch streitenden Spatzen mischen sich nun die ersten Küchengeräusche. Klappern von Schüsseln, Besteck und Töpfen. Bald werden die ersten Essensdüfte durch den Hinterhof wabern. Hühnersuppe? Braten? Cevapcici?
Das ist das Zeichen für Eddie, sich um sein eigenes Mittagessen zu kümmern. Er streicht das Tischtuch erneut glatt, zieht die Kanten mit dem Daumennagel nach und stemmt sich mühsam aus seinem Küchenstuhl hoch. Er schließt das Fenster und schlurft langsam über die knarrenden Dielen zum Regal in der Ecke. Viel Auswahl ist nicht mehr. Er war schon lange nicht mehr draußen. Zum Einkauf. Er wählt eine Dose Hühnersuppe. Die mochte er schon immer. Früher hat seine Frau die Suppe manchmal gekocht. Aber das ist lange her. Bevor der Laster sie erfasste und sie unter sich begrub. Er konnte ihr nicht helfen. Jetzt isst er allein.
Rhythmisches Wummern lässt die Wände dröhnen. „Ach! Hussein ist wieder da!”, stöhnt Eddie.
„Dann muss es schon später Nachmittag sein!” Eddie ist nach dem Essen eingedöst. Das ärgert ihn. Das passiert in letzter Zeit öfter.
Noch leicht benommen vom Schlaf zieht Eddie ein frisches Hemd über, klemmt sich das Schachbrett unter den Arm und verlässt seine Wohnung. Das Wummern ist inzwischen verklungen. An der Wohnungstür eine Treppe tiefer öffnet ein junger Araber auf sein Klingeln.
„Hussein!”, sagt Eddie, „Musst du immer diese schreckliche Musik so laut aufdrehen, wenn du heimkommst?”
„Ach Eddie, mein Freund! Das tu' ich doch nur, um dich wach zu kriegen! Komm rein! 'Ne Partie Schach mit 'nem Glas Tee ist jetzt voll gut nach so 'nem verrückten Tag.”
Und schon wird Eddie in ein winziges Wohnzimmer geschoben, welches von oben bis unten mit Teppichen ausgelegt ist.
„Hey, ich hab seit gestern 'nen neuen Job auf'm Friedhof”, berichtet Hussein, während er mit geübten Handgriffen ein Teetablett anrichtet. „Und rate mal, wen ich da heut' Morgen gesehen hab'?”
„Keine Ahnung? Wen denn?”, gibt Eddie ratlos zurück.
„Na, uns're liebe, brummige Nachbarin. Von über mir, neben dir. Die, die immer schwarz trägt.”
„Meinst du Frau Vogelmann?”, fragt Eddie.
„Ja, Mann! Die hab' ich heute Morgen gesehen. Glaubste nich'? Die saß erst ganz reglos da, auf 'ner Bank auf'm Friedhof mit 'ner Schildkröte. Ne Schildkröte! Auf'm Friedhof! Sah ganz schön meschugge aus, die Alte! Und später dann, da hat sie geschimpft! Geschimpft hat 'se! Mann, das glaubste nich'! Hat einfach den Grabstein ausgeschimpft.”
Eddie fragt: „Was hat sie denn geschimpft?”
„So genau konnt' ich's nicht hör'n. Aber ich glaub', die hat einfach so generell geschimpft. Eher gebrabbelt ...”, sagt Hussein. „Voll kaputt, die Alte!”
Schweigend baut Eddie das Schachspiel auf.
„Die anderen auf'm Friedhof, die da arbeiten, sag'n, dass die Alte jeden Tag kommt. Wirklich jeden Tag, seit Jahren! Jahrzehnten! Überleg dir das mal! Sitzt da mit 'ner Schildkröte auf'm Arm. Schimpft und dann geht sie wieder. Voll kaputt, sag ich.”
Eddie richtet alle Spielfiguren ganz akkurat aus. So mag er es. Akkurat. Was er von Hussein über Frau Vogelmann hört, stimmt ihn nachdenklich und traurig. Warum, weiß er nicht. Er kennt sie ja nur von der einen Begegnung letzten Februar. Er hört sie eigentlich nur im Vorbeigehen oder beobachtet sie durch den Briefschlitz. Er hat keine Lust mehr auf Schach.
Plötzlich schwillt der Lärm einer Sirene an. Blaues Licht flackert durch die Fenster. Rufe und Kommandos werden laut. Weiteres Sirenengeheul folgt und türmt sich vor dem Haus auf. Alles leuchtet. Und blinkt. Gefahr liegt in der Luft. Durch das Treppenhaus poltern schwere hastige Schritte. Eddie und Hussein schauen in den Hausflur und werden sofort von Feuerwehrmännern nach draußen geleitet. Von anderen Mietern mitgerissen, die letzten Stufen rennend, stehen sie im Hinterhof und schauen an der Hauswand empor. Eddie hält sich die Brust. Er ist nicht mehr so sportlich. War er nie. Die anderen Mieter keuchen oder jammern. Einige Kinder weinen.
Aus einem der Fenster im dritten Stockwerk schlagen Flammen. Eddie zählt die Fenster ab und erkennt, dass es ein Fenster von Frau Vogelmann sein muss. „Bei Frau Vogelmann brennt's!”, ruft er Hussein zu, der mit einem Feuerwehrmann spricht. Doch der winkt nur und zeigt auf zwei Rettungssanitäter, die gerade eine Trage aus dem Treppenhaus schleppen. Darauf liegt Frau Vogelmann. Ihr Gesicht ist rußgeschwärzt und sie weint.
„Aber sie lebt!”, denkt Eddie. Ein warmes Gefühl durchfließt seine Brust. Es ist pure Freude. Eddie ist von dieser Empfindung überrascht und nestelt an seinem Hemdskragen herum.
Hussein zwängt sich durch die Menschenmenge zu Eddie durch. „Mann, Eddie! Da hatten wir doch gerade noch von der Alten gesprochen und dann sowas. Is' krass, oder? Hat wohl Feuer gelegt, die Alte. Wollte wohl nich' mehr leben.”
Etwas abseits baut sich ein bulliger Mann mit auffallender Goldkette am Hals vor den Einsatzkräften auf und verlangt wieder Zugang zum Haus. Hinter ihm duckt sich eine zierliche Frau. Ihre Arme sind mit blauen Flecken übersät. Ihr Haar ist hellbraun. Zwei kleine Kinder klammern sich wimmernd an ihren Rock.
Mit seinem Kinn weist Eddie zu den beiden hin. „Hussein, wer ist das da drüben?”
„Der wohnt über dir! Das ist Lubinski mit seiner Frau Mena. Er ist 'n ungemütlicher Kerl, dem man besser nich' im Dunkeln begegnet.”
Bald sind die Feuerwehr- und Rettungswagen abgefahren, die Mieter können wieder in ihre Wohnungen zurück. Eddie verabschiedet sich von Hussein, verspricht eine baldige Wiederholung ihres Spiels und schleicht langsam die Stufen in den dritten Stock hinauf. Schon von weitem sieht er die Absperrbänder, mit der Frau Vogelmanns Wohnung versiegelt wurde. Leichter Brandgeruch liegt noch in der Luft.
Nach dem Trubel und dem Lärm auf dem Hinterhof umfängt ihn nun eine gespenstische Stille. Er geht auf seine Wohnungstür zu, kramt nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche und erinnert sich an das schöne Gefühl, das ihn vorhin bei Frau Vogelmanns Rettung durchflutet hat. Und an blaue Flecken auf dünnen Ärmchen.
Eine Schildkröte, die vor seiner Tür zu warten scheint, hebt er vorsichtig hoch, wischt ein wenig Ruß von ihrem Panzer und trägt sie wortlos in seine Wohnung.
Es ist wieder zehn Uhr. Frau Vogelmann, die alte Witwe vom hinteren Ende des Ganges wird heute nicht an seiner Wohnungstür vorbeigetippelt kommen. Kein quietschendes Wägelchen heute. Vermutlich bleibt sie noch einige Tage im Krankenhaus. Ihre Schildkröte leistet Eddie derweil Gesellschaft. Er lehnt sich zufrieden in seinem Stuhl am Küchentisch zurück und beobachtet die Schildkröte, wie sie ganz langsam ein Salatblatt frisst. Genüsslich. Unbeirrt von seinen Blicken. Eddie schmunzelt. Ob sie auch Gurke mag?
Er hört wieder die Spatzen im Hinterhof streiten. Das klingt für ihn nicht mehr ganz so fröhlich und frech wie gestern. Etwas hat sich verändert. Er mag das Gezwitscher zwar immer noch, aber jetzt ist es ihm wichtiger, den Müll runter zu bringen. Dann Gurken kaufen.
Scheu blickt sie aus einem ihrer schönen Augen zu ihm auf. Das andere ist zugeschwollen. Über ihre Wangenknochen ziehen sich blutige Spuren. In ihrem Schoß eingerollt liegen zwei schlafende Kinder mit verweinten Gesichtchen.
„Mena. Ihr kommt mit mir!”, sagt Eddie und wundert sich selbst über die Entschlossenheit in seiner Stimme. Er reicht ihr seine Hand und zieht sie behutsam hinter der Mülltonne hervor.
Rehbraune Augen sind es!