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Eddie Eisbär mag nicht mehr
Eddie Eisbär saß im Schnee vor dem Höhleneingang. Er hatte schlechte Laune. Das Leben war langweilig. Emmie schlief im Höhlendunkel. Sie schnarchte immer dann, wenn Eddie sie dringend zum Spielen brauchte. Mama war natürlich auch nicht da. Sie tat das, was alle Eisbärenmütter taten, sie jagte Robben.
„Immer bin ich allein!“, jammerte Eddie Eisbär. „Ich mag nicht mehr!“
Er dachte daran, wie er neulich Hirko, den Schlittenhund, getroffen hatte. ‚Endlich einmal ein spannender Tag!’, hatte Eddie gedacht und sich lange mit Hirko unterhalten. Der Schlittenhund gehörte zur Forschungsstation und hatte eine Menge von der Welt gesehen. Er war sogar schon in Deutschland gewesen und hatte dort viele seltsame Wesen kennen gelernt. Hirko hatte Eddie von seinen wunderbaren Bekanntschaften erzählt.
Von Ameisen, die in riesigen Hügeln lebten und Langeweile nicht kannten, weil sie nie allein sein mussten. Von Schwalbenkindern, die mit ihren Geschwistern in luftigen Höhen in ihren Nestern saßen und von den Eltern gefüttert wurden. Von Kaulquappen, die in Schwärmen durch grünliches Teichwasser schwammen und tun und lassen durften, was sie wollten, ohne dass eine strenge Mama ihnen Vorschriften machte.
Eddie Eisbär stampfte mit den Hinterpfoten in den Schnee, dass es nur so stäubte. Alle hatten es besser als er – die Schwalben, die Kaulquappen und ganz sicher die Ameisen.
Doch was war das? Unter dem Schnee, den er weggetreten hatte, lag etwas Glänzendes – ein schimmernder Stein. Eisbär Eddie packte den geheimnisvollen Stein mit den Vorderpfoten und hob ihn hoch. Behutsam wischte er einen Schneerest fort, um die glitzernde Oberfläche des Steines besser zu sehen – da schoss eine blaugrüne Flamme zischend empor. Eddie machte vor Schreck einen Riesensatz und ließ den Stein in den Schnee plumpsen. Die Flamme brannte ruhig in der klaren Nordpolluft und tauchte die arktische Schneelandschaft in einen zauberischen Schimmer. Neugierig näherte sich Eddie dem seltsamen Stein. Mitten im Feuerschein entdeckte er ein winziges Flackerwesen mit langen schimmernden Haaren.
„Wer bist du denn?“, stotterte Eddie verwirrt.
„Ich bin Fiona, die Eisfee“, antwortete das Wesen und tanzte in der Flamme wie ein Frühnebelfetzen über dem Eismeer. „Wie kann ich dir helfen?“
„Mir helfen?“, fragte Eddie verdutzt.
„Ja“, nickte Fiona und ihre langen Haare flatterten flackernd. „Du bist doch der unglückliche Eisbär Eddie?“
Eddie nickte, sprachlos vor Erstaunen.
„Dann bin ich hier richtig“, fuhr Fiona fort. „Du findest dein Leben langweilig? Wo willst du denn wohnen?“
Einen winzigen Augenblick lang wusste Eddie Eisbär nicht, was er sagen sollte, doch dann wurde ihm klar, dass dies die Chance seines Lebens war. Eine echte Fee war zu ihm gekommen, um ihm einen Wunsch zu erfüllen!
„Wow! Cool!“, seufzte Eddie und strahlte über sein ganzes, weißbepelztes Eisbärengesicht. „Ich möchte nicht mehr einsam und allein nur mit Mama und Emmie leben ... Kannst du machen, dass ich bei den Ameisen wohne?“
„Nichts leichter, als das!“, sagte Fiona und begann, zu tanzen und sich in ihrer Flamme zu wiegen. Immer schneller drehte sich die Eisfee und die kalte Flamme flackerte wild. Plötzlich zischte eine Flammenzunge in die Höhe und leckte kühl über Eddies Schnauze. Dem Eisbären wurde schwarz vor Augen.
Was war das für ein Gezischel und Gewisper, Geflüster und Gezirpe? Eddie rieb seine Augen und sah sich neugierig um. Er lag auf einem sonnigen Waldweg, umgeben von Hunderten von flinken Ameisen, die um ihn herum kribbelten und krabbelten und unaufhörlich vor sich hin flüsterten.
„Wasss issst dasss denn für eine ssseltsssame Ameissse?“
„Sssie issst genaussso großßß wie wir, aber ganzzz weißßß!“
„Wasss will sssie hier?“
„Wie heißßßt sssie?“
„Warum sssagt sssie nichtsss?“
„Vielleicht kann sssie nicht sssprechen?“
„Doch!“, rief Eddie und sprang. „Ich kann sprechen. Ich bin Eddie Eisbär. Fiona, die Eisfee hat mich zu euch gebracht, weil es bei mir zu Hause so langweilig ist. Darf ich bei euch bleiben?“
Die Ameisen berieten sich tuschelnd und wispernd. Schließlich sagte eine von ihnen:
“Natürlich kannssst du bei unsss wohnen, wenn du fleißßßig an unssserem Ameisssenhügel mitbaussst.“
„Ich mache alles, was ihr wollt!“, rief Eddie begeistert. „Hauptsache, ich darf zu eurer großen Familie gehören – denn dann wird mir nie mehr langweilig sein!“
Von da an lebte Eddie Eisbär bei den Ameisen. Er schleppte Tannennadeln und kleine Holzstöcke, genau wie sie. Eddie war nicht so geschickt, wie die Ameisen, aber er war ein kräftiger Eisbär und konnte schwere Lasten tragen. Er freute sich darüber, dass immer jemand da war, der sich mit ihm unterhielt, und dass er nun nie mehr allein sein musste. Die Ameisen wuselten Tag für Tag durcheinander. Sie liefen emsig die lange Ameisenstraße entlang. Auf Schritt und Tritt trafen sie ihre Brüder und Schwestern, ihre Onkel und Tanten, ihre Nichten und Neffen. Es verging keine Sekunde, ohne dass sie ein Familienmitglied begrüßten oder einen schnellen Plausch hielten.
Eines Morgens wachte Eddie auf und fühlte sich müde und erschöpft, obwohl er die Nacht über fest geschlafen hatte. In seinem Kopf brauste es, wie ein Polarsturm. Eddie seufzte. Jetzt musste er aufstehen und an die Arbeit gehen. Um ihn herum wimmelten seine Ameisenfreundinnen bereits durch die Gänge des Hügels. Sie fütterten die Babys, besserten die Tunnel aus und versorgten die Blattläuse. Eddie musste mit anpacken. Im Ameisenhügel durfte niemand faul in einer Ecke dösen und seinen Gedanken nachhängen. Hier arbeiteten alle, Tag für Tag, ohne Unterbrechung.
Eddie stand auf und reihte sich in die Schlange der Trägerinnen ein. Fröhliches Geflüster und Gezischel begrüßte ihn.
„Hassst du gut geschlafen?“ – „Ein herrlicher Tag heute – findessst du nicht auch?“ – „Hallo, wie geht’sss? Wie sssteht’sss?“ – „Morgen Eddie, bisss nachher!“
So viele Ameisen, die alle mit ihm reden wollten! Eddie murmelte ab und zu ein mürrisches „Morgen zusammen!“ und trottete mit hängendem Kopf hinter den Ameisen her. Konnten sie nicht einmal für ein paar Minuten ruhig sein? Konnten sie ihn nicht einfach in Frieden lassen? Das ununterbrochene Gezischel und Geflüster machte ihn verrückt. Er sehnte sich nach Ruhe. Nach absoluter, arktischer Nordpolruhe. Er wollte im Schnee vor der Höhle sitzen, hinter sich die schlafende Emmie und irgendwo, weit draußen auf den Eisschollen des Meeres, Mama, die von der Robbenjagd einen großen Brocken leckeres Fleisch mitbringen würde. Eddie wollte endlich einmal wieder ...
„Allein sein!“, brüllte er verzweifelt. „Einfach nur ein wenig allein sein! Das will ich! Könnt ihr mich nicht einmal für ein paar Minuten in Ruhe lassen?“
Stille umgab den kleinen Eisbären. Die Ameisen standen starr vor Schreck und sahen ihn fassungslos an.
„Bitte“, flüsterte Eddie. „Ich muss allein sein. Ich kann nicht mehr!“
Mit diesen Worten verließ er die Ameisenstraße und verkroch sich unter einem Steinpilz.
Es dauerte nicht lange und die Ameisen nahmen ihre unterbrochene Arbeit wieder auf. Wie eh und je wuselten sie vom Ameisenhügel in den Wald und zurück. Eine Weile unterhielten sie sich noch über den seltsamen Besucher Eddie, der allein sein wollte.
„Allein sssein! Hassst du ssso wasss schon mal gehört?“ – „Allein sssein! Wo gibt’sss denn dasss?“
Doch dann vergaßen sie ihn. Sie hatten einfach zu viel zu tun.
Eddie aber lag im Moos und sehnte sich. Er sehnte sich nach der Einsamkeit der arktischen Schneelandschaft. Er sehnte sich nach Emmie und nach Mama und nach Robbenfleisch. Vor allem aber sehnte er sich nach der Ruhe und Beschaulichkeit seiner kleinen Eisbärenfamilie. Eddie seufzte tief.
„Ach, wenn ich doch wieder daheim am Nordpol sein könnte“, flüsterte er und eine dicke Eisbärenträne kullerte aus seinem Auge und platschte in das Moos. – In das Moos? Nein! Die Träne fiel auf die glitzernde Nordpolschneedecke und schmolz dort ein kleines Loch. Verdutzt setzte Eddie Eisbär sich auf. Wo war er jetzt? Er sah sich um und eine warme Freude erfüllte ihn. Er war daheim. Er saß vor seiner Eisbärenhöhle. Emmies leises Schnarchen drang durch die kalte Winterluft und vom Fuß des Berges näherte sich ein großer Schatten. Ein Schatten, den Eddie sehr gut kannte. Das war Mama. Sie kam von der Robbenjagd zurück.
„Mama!“, rief Eddie so laut er konnte und seine Stimme überschlug sich vor Freude. Er war wieder daheim, am wunderbarsten Ort der Welt!
„Und wo möchtest du nun hin?“
Erstaunt sah Eddie sich um. Das war die Stimme der Eisfee Fiona. Eddie entdeckte das Flackerwesen unter einem Felsblock.
„Wohin ich möchte?“, fragte er, ohne zu verstehen, was die Fee von ihm wollte.
„Du warst jetzt bei den Ameisen. Soll ich dich zu den Kaulquappen oder zu den Schwalben schicken?“
„Nein!“, rief Eddie. „Ich will nirgends mehr hin. Hier bin ich zu Hause. Hier ist meine Familie. Sie ist zwar nur klein und vielleicht ab und zu ein wenig langweilig, aber hier bin ich daheim. Und“, fügte er verträumt hinzu, „hier ist es so schön ruhig.“
Da drehte Fiona sich kichernd um sich selbst und das blaugrüne Flämmchen schrumpfte, bis es schließlich in genau dem Augenblick verschwand, als Mama Eisbär um die Ecke bog und liebevoll brummte:
„Eddie, mein Junge, hast du Hunger?“