Eckta Rubino
Ich konnte ihm nicht mehr vertrauen. Die Vorfälle der letzten Monate hatten mir gezeigt, was mir blühen würde, wenn ich mich wieder auf ihn einließe. Da half auch der versöhnliche Blick meiner Mutter nichts, so wie sie vor uns stand in ihrer zementverschmutzten Hose – Helm aufm Kopf, Hammer in der Hand – und diesem Ausdruck, als sei doch alles halb so schlimm.
Ich wüsste jetzt gar nicht, wo ich anfangen sollte zu erzählen. Aber eins ist sicher: Das Letzte, was er mir eingebrockt hatte, war der absolute Höhepunkt gewesen. Nie hätte ich mir vorgestellt, dass er sich zu so etwas herablassen würde, nie erträumt, dass er es wagen würde. Wie sollte ich da in sein Hotel zurück? Zurück zu dieser Horde deutscher Gäste, die nur darauf warteten, mich an den Pranger zu stellen und mir den Prozess zu machen.
Da stand er nun mit seinem Sunnyboy-Grinsen, so als ob er noch nie etwas verbrochen hätte. Die 20 Kilometer zum Haus meiner Mutter war er gefahren, weil er mich dringendst brauchte. Sein Hotel und die fluchenden Gäste – anscheinend weit weg, abgeschoben im Hintertürchen seiner Erinnerungen. Er hasste es, sich Problemen zu stellen. Und deshalb war ihm nichts Besseres eingefallen, als meine Mutter zu überreden, mich zu ihm zurückzuschicken.
Meine Mutter stand gerade auf dem Dach und deckte es mit Ziegeln. Sie hatte sich diese Baracke in Norditalien gekauft, um sie auszubauen. Und das tat sie nun. Das heißt, sie tat es seit zwei Jahren. Hier ein Stein, da ein Stein, dazwischen ein Schichtchen Mörtel. Auch jetzt sah ich noch keine Veränderung, außer dass zwei neue Fenster und eine Tür eingebaut waren, aber die Böden und Wände waren noch nicht verputzt, das Dach nur halb gedeckt. Begann man den Ausbau eines Hauses nicht von unten? Kam das Dach nicht zuletzt?
Wenn ich sie fragte, warum sie denn nicht ein paar Bauarbeiter engagierte, antwortete sie: »Die können das nicht.«
Egal. Ich saß also unten im sogenannten Wohnzimmer zwischen Zement und Sandsäcken und Coco, dieser Nervensäge von Rauhaardackel, als plötzlich die Tür aufsprang.
»Hallo, ist deine Mama da?«
Fassungslos sah ich ihn an. Schon wieder hier? Wie wagte er es? Und überhaupt: meine Mutter? Warum musste er immer mit ihr reden, wenn es um meine Angelegenheiten ging? Ich gab ihm nicht mal eine Antwort, zuckte nur mit den Achseln und blickte in eine andere Richtung. Aber dann kam meine Mutter auch schon vom Dach gekrochen, zog sich ihre Maurerhandschuhe von den Händen und begrüßte ihn in ihrer überschwänglichen Art.
»Signor Scippooone! Welch eine Überraschung!«
Eine Frechheit. Sie wusste doch genau Bescheid. Ich hatte ihr das letzte von ihm gedrehte Ding in jeder Einzelheit erzählt, und sie hatte den Kopf geschüttelt und zugegeben, er sei ein hoffnungsloser Fall. Und jetzt? Diese Begeisterung? Oh doch, ich kannte sie. Sie war ja meine Mutter.
Vier Monate zuvor, an einem warmen Junitag, war ich in seinem Hotel aufgetaucht, weil ich einen Job suchte. Mein Fehler war es, mich von diesem pompösen, am Meer gelegenen Gebäude beeindrucken zu lassen. Acht große Fahnen hingen majestätisch am Eingang. Die Lettern HOTEL LIGURIA lachten mich an. Ich stand also da, vor dem Hoteleingang, überlegte und betrachtete einen Mann, der vor einem Moped kniete und mit einem Schraubenzieher herumhantierte.
»Guten Tag. Wüssten Sie, wo ich den Hoteldirektor finde?«, fragte ich.
»Der ist verreist«, sagte er, ohne hochzublicken. »Was wollen Sie?«
»Ich suche Arbeit«
Er schien nicht sehr gesprächig, obwohl er anscheinend Bescheid wusste. Jedenfalls fummelte er an dieser Zündkerze herum, montierte sie ein, dann holte er sie wieder heraus, blies sie an, rieb sie an seiner Hose und sagte schließlich, noch immer ohne mich anzusehen: »Gehen Sie in den vierten Stock, da sind die Bar und das Restaurant. Bestellen Sie sich was zu trinken. Ich werd dann jemandem Bescheid sagen.«
Sehr geheuer war mir die Ansage nicht, sondern ehrlich gesagt mehr als verwirrend. Wer war er? Und wem wollte er Bescheid sagen? Ich sollte mir in der Bar etwas zu trinken bestellen? Nun ja, wir waren ja in Italien, er war Italiener, und wie man weiß, können Italiener sehr fantasievoll sein. Na dann, überrasch mich mal, dachte ich, und da ich nichts zu verlieren hatte, fuhr ich mit dem Aufzug rauf, bestellte mir eine Cola und suchte mir einen Tisch mit Blick aufs Meer. Keine fünf Minuten später flatterte er, derselbe Mann, ins Restaurant, kam auf mich zu und stellte sich als der Hoteldirektor vor. Ja, Signor Scippone in Person. Aber da er nicht mit jedem spreche und noch lange nicht jedem eine Auskunft gäbe, sei dies der Trick, den er hin und wieder anwende. Plan B sozusagen. Als er dann während des Gesprächs sichtlich erfreut erfuhr, dass ich Deutsche war, stellte er mich noch am selben Tag ein.
Anfangs sollte ich an der Rezeption stehen und mich um die Gäste kümmern, weil ich Deutsch sprach. Dabei konnte er die Sprache selber. Er hatte schon mal in Deutschland gelebt und war sogar mit einer Kölnerin verheiratet gewesen. Irgendwo in Deutschland hatte er auch eine Tochter, die er nach der Scheidung von seiner Frau jedoch nie wiedergesehen hatte. Ein halbes Jahr nach seiner Heirat, so erzählte er mir, habe ihn die Sehnsucht gepackt. Sehnsucht nach seiner bella Italia und nach dem Espresso morgens in der Bar; Sehnsucht nach der Pasta mit Pesto und dem Geruch nach Meer. Da seine Frau sich aber weigerte, nach Italien zu ziehen, trennten sich ihre Wege. Wie dem auch sei.
Mein Arbeitsplatz an der Rezeption war mir irgendwann nicht mehr geheuer. Dies ergab sich, als ich am Nachmittag meines dritten Arbeitstages eine Frau aus dem Zimmer Nº 108 kommen sah. Dieses Zimmer lag gegenüber dem Tresen, an dem ich stand, nur zehn Meter Luftlinie entfernt. Die Frau verschloss ihre Tür, kam langsam in meine Richtung geschlurft und fixierte mich mit einem so ungeheuer bösen Blick, dass es mir kalt über den Rücken lief. Sie war um die achtzig, hatte schneeweißes, schulterlanges, glattes Haar und türkisfarbene Augen, die so lebhaft leuchteten, als sei sie der Teufel selbst. Ich lächelte ihr freundlich zu, dachte noch, sie sei eine Deutsche, also ein Gast des Hauses, die vielleicht einen schlechten Tag hatte. Aber meine Täuschung wurde mir bewusst, als diese Frau plötzlich vor mir auf die Knie fiel, ein handtellergroßes Kruzifix in die Höhe hielt und mir alle nur denkbaren Flüche auf Sizilianisch zurief. Ich konnte nicht alles verstehen, aber einiges war schon hart an der Grenze: Der Teufel solle mich holen, schrie sie, weil ich verflucht sei und das Unheil in ihr Hotel gebracht hätte. Psycho pur. Zwei Hotelgäste, die gerade das Foyer betraten, gingen an ihr vorbei, drehten sich verwirrt um und warfen ihr dementsprechende Blicke zu. Ich war nur froh, dass sie vermutlich nichts von dem, was sie sagte, verstanden. In der Hölle solle ich schmoren, krächzte sie, während ich zweifelte, ob das, was sich hier abspielte, real war oder ob ich gerade im Kino saß. Dass es real war, merkte ich, als die Tür des Lifts aufsprang und Scippone plötzlich herausstolperte. Er lief auf die Frau zu, half ihr auf die Beine, murmelte ihr irgendetwas zu und brachte sie dann zurück in ihr Zimmer.
»Meine Mamma …!«, murmelte er kurz darauf, und es sollte wohl wie eine Entschuldigung klingen. »Mach dir nichts draus. Sie ist schon sehr alt und äh … nicht ganz beisammen.«
Ich hatte mich von dieser Sache noch nicht ganz erholt, als schon das Nächste kam. Eine Woche nach diesem Vorfall stand ein Hotelgast, (irgend so ein hohes Tier von Mercedes Benz) an der Rezeption und wollte sein Geld aus dem Hoteltresor zurückhaben. Ich war gerade vom Restaurant runtergekommen, wo mir der feixende Koch (noch so eine Nummer) Scippones Schlafzimmer gezeigt hatte.
»Was? Du kennst noch nicht das Schlafzimmer deines Chefs?«, wollte er wissen.
Einige Zimmermädchen, die an einem der Tische saßen und frühstückten, warfen mir Blicke zu und lachten sich kaputt. Ich reagierte ziemlich kühl, weil ich nicht wusste, ob dies eine Anspielung unter der Gürtellinie sein sollte – oder was. Was interessierte mich das Schlafzimmer des Chefs? Aber da hatte mich der Koch bereits in die Mitte der Küche gezogen.
»Da ist es!«
Ich blickte auf den Herd, auf die vielen Kochtöpfe und Pfannen und auf all das, was man halt in einer Hotelküche so sieht, bis mein Blick auf ein Bett fiel, das zwischen Kisten voller Gemüse und Obst stand, und dann auf ein riesengroßes Bild des Papstes, das über dem Kopfende an der Wand hing.
»Hier?«, war alles, was ich herausbrachte.
»Ja, dies ist das Schlafzimmer deines … äh, unseres Chefs.«
Eines der Zimmermädchen hatte sich vor Lachen mit dem Kaffee verschluckt und prustete die ganze Flüssigkeit in die Luft, was wiederum alle anderen zum Feixen brachte. Der Koch sah mich grinsend an, während ich wirklich meine Zweifel hatte, ob ich hier nicht doch im Irrenhaus von Santa Maddalena gelandet war – oder wo.
Ich lief also gerade zur Rezeption herunter, als ich die aufgebrachte Stimme von diesem Mercedes-Menschen hörte: »Ich bestehe darauf, in den nächsten zwei Stunden mein Geld aus dem Safe zu erhalten!«
Seine Forderung war deutlich. Anscheinend hatte er seine Barschaft im Hotelsafe deponiert und wollte sie nun, einen Tag vor seiner Abreise, zurückhaben. Aber auf der anderen Seite des Tresens stand Scippone, nervös, mit Schweißperlen auf der Stirn und wild gestikulierend, so wie er es immer tat, wenn er nicht weiterwusste: »Meine Herre … Ick habe de Schlüssel verlora … Ick mussa jetza erst kucka …wie Safe aufkriega …«
Ganz klein stand er da, wie ein Häufchen Nichts, und ich war nur froh, dass ich mit dieser Sache nichts zu tun hatte. Aber dann sah er mich hinter dem Gast stehen, strahlte übers ganze Gesicht und rief: »Meine Frau! Meine Frau wird Ihna helfe …!«
Der Mercedes-Mann drehte sich verwirrt nach mir um, musterte mich von Kopf bis Fuß –, und Scippone war weg. Da stand ich nun vor diesem intelligenten und erfolgreichen Menschen, der dafür sorgte, dass Mercedes-Autos in die ganze Welt verkauft wurden, während ich aus Scippones Schlafzimmer kam und mir gerade vorstellte, dass auch er, dieser Mercedes-Mensch dieses Schlafzimmer sehen könnte, wenn er sich nur mal zufällig in die Küche des Hotels Liguria verirren würde. Ein Skandal.
»Was ist denn hier los!«, sagte er empört. »Er kann doch nicht einfach den Schlüssel des Hotelsafes verbummeln und dann so tun, als ob nichts wäre. Also ich muss schon sagen, dass ich diesmal enttäuscht bin … Seit drei Jahren komme ich in dieses Hotel, aber so etwas ist mir noch nie passiert.«
Ich beneidete seinen Sinn für Logik und sein sachliches Denken, mit denen er sicherlich auch seine Arbeit in dem großen Autokonzern versah. Der Mann hatte ja recht, so wie er da stand, weißes Polohemd, Adidas-Shorts, knackig, frisch und sportlich. Er hatte ein schönes Hotel gebucht, war im Mittelmeer baden gewesen, hatte Tennis gespielt, und jede Menge Spaghetti gegessen, aber jetzt war sein Geld weg, und ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich sah ihm fest in die Augen und suchte nach einer (logischen) Erklärung, die ich jedoch nicht fand. Diese ganze Situation, dieser Stress; all das bereitete mir Verdauungsbeschwerden. Meine Mutter hatte gut reden da oben auf ihrem Dach unter der Sonne und dem blauen Himmel; hier ein Nagel, da ein Nagel, zwischendurch ein Käffchen … Während ich mich hier abrackern musste.
»Mach doch einmal was zu Ende!«, pflegte sie zu sagen. »Bleib doch einmal bei einer Sache!«
Und ich versuchte es ja auch, obwohl ich – und das muss ich an dieser Stelle ehrlich erwähnen – mal wieder nah dran war, alles hinzuschmeißen. Aber ich riss mich zusammen, lächelte den Gast freundlich an und sagte einfach: »In zwei Stunden werden Sie Ihr Geld zurückhaben, das versichere ich Ihnen.«
Er musterte mich mit einer Spur von Misstrauen, aber mein zuversichtlicher, fester Blick schien ihn dann doch zu beruhigen. »Na gut. Dann wollen wir mal sehen, ob das auch stimmt.« Als er auf den Lift zuging, drehte er sich noch mal zu mir um: »Also dann, bis später, Frau … äh … Scippone!«
Es klang wie der Witz des Jahres.
In den nächsten fünf Stunden war Scippone nirgends auffindbar. Niemand hatte ihn gesehen, und ich verbrachte den Vormittag damit, immer wieder seine Handynummer zu wählen. Ich beschloss, mich in der Küche zu erkundigen, wo er sein könnte, und fand den Koch vor einer Anrichte inmitten eines Bergs von Salatköpfen und Artischocken, in denen er gerade herumpopelte.
»Na?«, fragte er grinsend und wischte sich seine wurstigen Finger an der Schürze ab. »Mamma Scippone schon kennengelernt?«
»Oh ja«, sagte ich. »Wo ist denn Scippone? Ich brauche ihn ganz dringend. Habe ein Problem an der Rezeption.«
»Nur eins?«
Er war blond. Trug eine Igelfrisur. Fettes, feistes Gesicht mit blassrosa Haut wie die eines Babys. Ich weiß nicht, wie viel Kilo er draufhatte, aber sein Hinterteil, eingepfercht in diese weiße, viel zu enge Hose sah aus wie das eines Nilpferds. Er reckte das Kinn in Richtung eines Handys, das auf Scippones (ungemachtem) Bett lag, und sagte: »Sein Handy ist da. Und es hat schon x-mal geklingelt. Aber ich weiß nicht, wo er steckt. Frag doch seine Mutter!« Er grinste wie ein aufgehender Hefeteig, wandte sich von mir ab und begann seelenruhig, Sektflaschen in einen Gefrierschrank zu stopfen.
»Sollte man Sektflaschen nicht eher in den Kühlschrank stellen?«, fragte ich kühl.
»Sollte man«, antwortete er, ohne mich anzusehen. »Aber erklär das mal deinem Chef.«
Später am Abend, ich war gerade in dem kleinen Zimmer, welches ich im Hotel bewohnte (erste Etage, neben dem Liftschacht, über den Garagen und mit Blick auf die Mülltonnen), da rief Scippone mich an. Er wollte wissen, ob ich nicht rauf zur Terrasse kommen könnte, um ein Gläschen Sekt zu trinken; ab und zu müsse ich mich auch mal unter die Gäste mischen, denn schließlich spräche ich doch Deutsch.
»Ich komme nirgends hin, bevor der Gast nicht sein Geld aus dem Safe zurückhat«, sagte ich wütend. »Was soll ich dem denn noch erzählen?«
»Geld zurücka, meine lieba«, sagte er lachend. »Gast hatta Geld zurück, alles keine Problema. Komme raufa, ein bisschen, bitta …!«
Mir war so was von mulmig. Was sollte ich da oben? Und dann noch mit dieser Witzfigur? Und überhaupt, war dies nicht meine Freizeit? Eine Frechheit, bei dem Gehalt. Ich zog ein Kleid an, schlüpfte in hohe Schuhe, legte mir eine Stola über die Schultern und fuhr hoch. Na gut, dachte ich, dann sollen sie doch alle denken, ich sei die Frau dieses Armleuchters. Vielleicht hatte der eine oder andere ja Mitleid.
Beim Verlassen des Lifts sah ich, dass alle Tische auf der Terrasse besetzt waren. Die Gäste plauderten, lachten und hoben gut gelaunt ihre Cocktails in die Höhe. Eine am Rande sitzende Gruppe schunkelte und sang: Volare! Oho … Cantare …! Irgendwo dazwischen saß Scippone – weißes Hemd, weiße Jeans, seidenes Halstuch – und ziemlich genervter Ausdruck im Gesicht. Als er mich sah, winkte er mir sofort zu: »Da issa!«, rief er. »Meina Engel aus Germania!«
Alle Köpfe drehten sich in meine Richtung. Wie eine Diva lief ich dort entlang, es war schon seltsam, plötzlich Frau Scippone zu sein. Einige der männlichen Gäste standen auf, um mir sofort einen Platz anzubieten (Scippone, wäre nicht im Traum aufgestanden). Ich nickte den Herren freundlich zu und setzte mich neben meinen ›Mann‹, der sofort seinen Arm über meine Stuhllehne legte, sich vorbeugte und mir ins Ohr flüsterte: »Lasse mick nikt alleina mit diesa Leuta … Bitta … die Leuta hier alle verrückta, von andra Stern.«
Als Antwort lachte ich nervös, um sein Getuschel zu überspielen, und hielt Ausschau nach dem Mercedes-Mann, der aber nirgends zu sehen war. Alles hätte ich ertragen können, aber nicht noch eine dieser Szenen hier vor allen Leuten. Scippone nahm eine der Sektflaschen, entkorkte sie und füllte die auf dem Tisch stehenden Gläser. Die Damen klatschten erfreut in die Hände; alle bedienten sich und stießen an. Kurz darauf vertieften sich einige der Gäste mit Scippone in ein Gespräch, und ich sah nur, wie er mir schnelle Blicke zuwarf und die Augen rollte. Es ging um den ADAC. Jemand erklärte ihm, wie viele Vorteile man habe, wenn man diesem Verein angehört. Scippone nickte, trank und schien gar nicht richtig zuzuhören.
»Egal, welche Panne man auch hat«, sagte der Gast, »ein Anruf, und schon ist alles geregelt.«
»Issa da gleicha in Italien«, antwortete Scippone. »In Italien, wenn linksa an die Makt oder Rektsa an die Makt … Issa egal … Wenn de Napoliano eine Worta saga, issa ein Befehl nickt … Issa nickt wie in Deutschland. Auch hiera wenn de Tasse nixa bezahle, du bekomma grosse Problema, aber keine Problema, wenn du a guta Freunde biste …«
Nun mal ehrlich. Was soll man dazu sagen? Ich sah in die verwirrten Gesichter der Gäste und wünschte mir ein tiefes Loch, ein tiefes Loch unter meinem Stuhl, in dem ich versinken könnte. Aber nach einem kurzen Augenblick der Verwirrung und des Schweigens nickten sie ihm zu und hoben ihre Gläser. »Da haben Sie recht, Herr Scippone, völlig recht, haha, Salute!«
Und während das Gerede der Gäste wieder in ein gemütliches Plaudern überging, wandte Scippone sich mir zu und sagte: »Siehst du? Alle verrückta. Nix kapiere.«
»Wo hast du ihn denn gefunden?«, wollte ich wissen. »Wo war er denn?«
»Wo warre was?«
»Wo war der Schlüssel? Der Safeschlüssel?«
»Ick habe nikt verlora … Ick hatta Schulden – und ick habe Geld genomma aus der Safe.«
»Du schuldetest jemandem Geld und hast dir das Geld von dem Gast genommen?« Ich war verwirrt.
»Ja, was solle icka machen?«, fragte er mit weit aufgerissenen Augen. »Ick haba Schulden bezahlt, neue Geld von Freund geliehen und in de Safe getan … Was solla icka machen?«
Scippone hatte also nicht nur eine Mutter, die in die Klapsmühle gehörte, er hatte auch noch Schulden. Und dann besaß er noch die Frechheit, mich seine Frau zu nennen, wo er doch bestimmt dreißig Jahre älter war. Ein Wurm!
Eine Woche später kam meine Mutter ins Hotel spaziert. Ich stand gerade an der Rezeption und spielte mit dem Gedanken, einfach zu verschwinden, weil Scippone nirgends zu finden war und seine weggetretene Mutter zwischen der Waschküche und der Bügelkammer herumgeisterte. Und so erschien mir ihr Besuch wie eine Erlösung.
»Können wir mal in Ruhe einen Kaffee trinken?«, fragte ich sie. »Du weißt ja gar nicht, was hier los ist – was ich dir alles erzählen muss.«
Ich hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, da kam Scippone um die Ecke gefegt, in einer Hand ein Bügeleisen, in der anderen eine Hose.
»Oho! Schwiegermutter issa gekommen! Schwiegermutter! Bitta, bitta Hose bügeln. Icka brauche ganze dringend, weil ihre Tockter nickt fähig …«
Der Höhepunkt.
Er zog meine Mutter hinter den Tresen, drückte ihr das Bügeleisen in die Hand und warf ihr die Hose vor die Nase.
»Ihra Tockter kanna nikt mal a Hosefalte bügeln. Kucka! Kucka meine Hose! Ohna Bügelfalte!«
Meine Mutter lachte sich krank. »Das glaube ich«, sagte sie. »Braucht ja auch ein fünf Jahre langes Studium an der Uni, wenn man so eine Hose bügeln will.«
Aber Scippone hörte es nicht mehr, weil er bereits weg war. Zwei Minuten später sah ich ihn auf seinem Moped vor dem Hoteleingang vorbeirattern. Meine Mutter bügelte seelenruhig die Hose und summte sogar ein Lied dabei. Es war ja auch nur eine Hose, die sie bügeln sollte. Sonst nichts. Was hatte sie schon zu verlieren? Es würde nicht mehr lange dauern, und sie würde sich mit ihrem VW-Bus aus dem Staub machen, einkaufen gehen wie jeden Samstag, im »Da Lucia« Cappuccino trinken, dabei in einer Zeitschrift blättern und wenig später wieder auf dem Dach ihres rustikalen Landhauses unter der Sonne Ziegel legen. Während ich hier in diesem Irrenhaus saß.
»Ist das wahr?«, fragte sie in einem aufgeregten Ton, als ich ihr die Geschichte mit dem Bett in der Küche erzählte. »Mensch, das muss ich mir mal anschauen. Wie iss’n der Koch so? Ob der mir’n bisschen was für Coco gibt? In Hotelküchen haben die doch immer so viel …«
Das war das Einzige, was sie wirklich interessierte. Der verwöhnte Köter, der den ganzen Tag nur auf dem Rücken lag und nur dann ein Auge einen Spaltbreit öffnete, wenn er den Geruch nach etwas Essbarem witterte. Wir gingen in die Küche, wo das Nilpferd uns freundlicherweise zwei große Tüten Gulasch aus dem Kühlschrank gab und somit bei meiner Mutter hoch punktete.
»Der ist doch total nett!« Als sie das Bett und das Bild des Papstes sah, entfuhr ihr ein Kichern, und alles, was sie sagte, war: »Ein ulkiger Kauz … Muss man schon sagen.« Und eine halbe Stunde später war sie wieder weg.
Mitten im August hatten wir Overbooking – und Scippone fast einen Nervenzusammenbruch.
Er stand am Rezeptionstresen, in seinen Notizheften blätternd, am Computer herumklickend, und verstand nicht, wie es möglich war, eine höhere Anzahl an Gästen als an verfügbaren Zimmern zu haben. »Ick werde verrückta … Ick werde verückta!«, rief er mit weit aufgerissenen Augen. »Mir fehle fünf Doppelzimma.«
Plötzlich fiel sein Blick auf eine junge Deutsche, die gerade mit ihrem Boxerhund durchs Foyer spazierte.
»Ah! Da issa die Tockter von Fraua Gerber … Und das iss Fraua Gerber Schwiegersohn. Ick mussa sage, Tockter und Schwiegersohn in andra Zimma. Ick braucha ihre Doppelzimma.«
Es dauerte einen Augenblick, bis bei mir der Groschen fiel. »Der Hund ist der Schwiegersohn?«, fragte ich.
»Ja. Fraua Gerber komme jedes Jahr, und Tockter auch, Tockter imma mit de Boxa, imma mit Schwiegersohn in eine Zimma.« Er grinste mich breit an, und ich musste lachen. Aber das Lachen verging mir einen Augenblick später, als die Familie Gerber zur Rezeption kam, um sich nach den Liegestühlen am Strand zu erkundigen, und Scippone aufgeregt sagte: »Fraua Gerba, ihre Tockter und Schwiergersohn mussa ina andere Zimma … Ick haba keine Doppelzimma, Tockter und Schwiergesohn mussa wechsla ina Einzelzimma.«
Ich stand da wie ein zentnerschwerer Betonblock und spürte das Blut in meinem Kopf hochsteigen. Frau Gerber, sichtlich verwirrt, blickte zuerst mich an und dann Scippone. Ich wartete auf das Hochziehen ihrer Augenbrauen, auf einen kühlen Blick und die spitze Frage: »Wie Bitte?«
Doch stattdessen sagte sie: »Ach so! Für den gesamten Aufenthalt?«
Als Scippone sich am darauffolgenden Montag tausend Euro aus dem Safe nahm und etwas von einer unbezahlten Stromrechnung murmelte, warf ich alles hin. Ich sagte Adieu, nahm meine Handtasche und lief aus dem Hotel in Richtung Bushaltestelle. Aber er lief hinter mir her und holte mich an der Bushaltestelle ein, wo er fluchte und wild gestikulierend anfing zu schreien, bis alle Leute sich nach uns umdrehten.
»Das kannst du nickta machen! Du kannsta nickt einfach so abhaua!«
»Tut mir leid«, sagte ich entschieden. »Das mit dem Geld aus dem Safe halte ich nicht länger aus … Soll ich noch im Knast landen?«
»Ach … Deutscha!«, tobte er. »… Du bist Deutscha … Alles immer korrekte, alles organisierte … Du Deutscha makste nie was verkehrta, hä? Maksta alles immer ricktik hä? Was maksta du, wenn du Schulden hast und die ganze Tresor volla Geld? Du betest eine Ave Maria und nimmsta Geld und gibsta späta zurück!«
Ich beachtete ihn nicht, hielt lässig Ausschau nach dem Bus, aber innerlich waren wir beide kurz vor der Explosion.
»Du kannsta nickt einfach geha! Anke! Du hasta Vertrag unterschrieba! Du kannsta mik nickt einfach so stehelasse …!«
»Ach ja?«, schrie ich wütend zurück. »Und was ist eigentlich mit mir, hä? Was ist mit meinen Nerven? Neulich, als du mich in die Bank geschickt hast, tauchte deine Mutter plötzlich vor der Apotheke auf. Und weißt du, was sie gemacht hat? Sie ist mitten auf der Straße auf die Knie gefallen, hat mir mal wieder ihr Kruzifix entgegengehalten und geschrien, der Teufel solle mich holen! Was meinst du, wie ich mir da vorgekommen bin? Mitten auf der Straße! Alle Leute sind stehen geblieben und haben mich angestarrt. Sie hat mich vor allen Leuten blamiert! Bin ich hier zwischen lauter Bekloppten – oder was?«
»Pippifaxa!«, zischte er zurück und wedelte mit den Händen vor meinem Gesicht herum. »Meine Mutta alt, Elisabetta kranke … Du einfach ignoriera. Issa doch meine Mutta, nikt deine …«
Aber dann kam der Bus, ich stieg ein, und er blieb zurück. Am Ende der Straße drehte ich mich nach ihm um, und er stand noch immer an derselben Stelle, wild gestikulierend und hinter mir herschreiend.
Drei Tage später kam er auf seinem Moped in unser Dorf und erkundigte sich in der Trattoria, wo wir wohnten. Und dann stand er plötzlich in unserem Garten, in einer Hand einen Riesenblumenstrauß, in der anderen eine große Erdbeersahnetorte, grinsend wie ein Kamel. Meine Mutter war entzückt, deckte sofort den Tisch und kochte Kaffee, und als sie sich das erste Erdbeertortenstück in den Mund schob, wusste ich, wie die Sache ausgehen würde. Was sollte ich auch machen? Als meine Mutter in die Küche ging, zog Scippone ein kleines Kästchen aus seiner Jackentasche, öffnete es und entnahm ihm ein mit dunkelroten Steinchen besetztes Armband. Er reichte es mir über den Tisch, sah mir dabei in die Augen und schaffte es fast – aber auch nur fast –, eine Träne herauszuquetschen.
»Eckta Gold«, sagte er in dramatischem Ton. »Eckta Rubino. Ick habe jahrelange aufbewahrte für meine Tockter … Aba meine Tockter, ick weiss nickt wo. Armband jetzt für dich, weil du lieb und schön wie meine Tockter …«
Ich fuhr mit ihm zurück. Allein schon, um mir sein Geheule nicht länger anhören zu müssen. Aber ich ahnte nicht, dass das Dickste noch auf mich zukommen sollte. Das, was wirklich dem Fass den Boden wegsprengen würde.
Ein paar Tage lang lief alles ruhig, aber mein Gefühl war nicht gut. Ich ahnte, es war die Ruhe vor dem Sturm. Und dann geschah es. Das Unheil. Es brach über mich herein wie ein dröhnendes Gewitter in einer dunklen Winternacht. Ich fuhr gerade mit dem Lift rauf ins Restaurant, weil ich mir bei dem Nilpferd ein Sandwich holen wollte. Oben angekommen sah ich Scippone, der völlig aufgebracht mitten im überfüllten Restaurant stand und wie wild um sich brüllte. Ein vor ihm stehender Gast brüllte zurück, und die Blicke aller anderen Gäste waren auf beide gerichtet. Oho!, dachte ich und wollte umgehend wieder in den Lift, um mich noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, als Scippones schrille Stimme mich auf halbem Weg einholte.
»Da! Meine Frau! Sie hatta aus Versehen de Sekte in de Gefrierschranke gestellt! Meine Lieba! Wassa hastu gemackta? Weißt du nickt, dass Flascha in de Gefrierschranke explodiere könne?«
Völlig verwirrt drehte ich mich nach ihm um, aber da stelzte der erste Gast bereits mit seinem Teller auf mich zu, hielt ihn mir unter die Nase und brüllte mich an: »Hier! Parma Schinken mit Glas! Wie finden Sie das? Haben Sie eine Erklärung dafür? Wir alle haben Glassplitter in unserem Schinken gefunden. Wissen Sie, was das für Ihr Hotel bedeuten könnte, wenn wir Sie anzeigen?«
Ich stand da, als wäre ich gerade vom Mond abgestiegen. In einem Spalt der Durchreiche zur Küche sah ich die Augen des Kochs hin und her blitzen, aber als ich ein zweites Mal hinsah, war das Fensterchen verschlossen, Scippone längst verschwunden. Und als sich sämtliche Gäste von ihren Stühlen erhoben und protestierend mit ihren Tellern auf mich zukamen, um mir die Glasstücke in ihrem Parmaschinken zu zeigen, überfiel mich das sichere Gefühl des Versagens, egal, was ich ihnen auch erzählen würde. Also ergriff ich die Flucht, stolperte zur Treppe hin und dann die Stufen hinab, vorbei an der Rezeption, raus auf die Straße, die Allee entlang bis zur ersten Telefonzelle, wo ich meine Mutter anrief und ihr sagte, dass ich nie wieder ein Wort mit ihr reden würde, wenn sie nicht auf der Stelle käme, um mich abzuholen.
Dreißig Minuten später war sie da.
Diese Nacht verbrachte ich bei meiner Mutter in meinem kleinen Zimmer mit unverputzten Wänden – hier und da ein krabbelnder Skorpion – und dann noch dieses Loch in der Decke mit Blick auf den Mond. Aber ich schlief wie ein Stein.
Eine Woche später stand er wieder da, winselnd wie ein Hund. Aber ich ließ mich auf nichts ein, sondern schlich mich fort, verschwand zwischen den Büschen, ging runter zu dem kleinen Bach und hielt mich bis zum Abend dort versteckt. Auch die lauten Rufe von Scippone und anschliessend die meiner Mutter, die irgendwann vom Dorf bis runter ins Tal hallten, beeindruckten mich nicht. Als ich sehr viel später – es war fast dunkel – zurückkehrte, war Scippone nicht mehr da.
»Tja Anke, dann musst du dir wohl was Neues suchen«, keuchte meine Mutter, die gerade einen Presslufthammer durch die Küche schleppte.
Am nächsten Morgen wartete sie, bis ich gefrühstückt hatte, und dann sagte sie doch tatsächlich, ich solle doch bitte mal die Zementmaschine anschmeißen und ihr die Zementeimer aufs Dach tragen.
»Dann muss ich nicht jede halbe Stunde die Leiter runterkraxeln.«
Dafür musste ich sie jede halbe Stunde hinaufkraxeln. Aber egal. Auf jeden Fall stand ich nun wieder da zwischen Gips und Zement und Staub, bei meiner Mutter, der großen Architektin.
Am darauffolgenden Wochenende ging ich in ein Pfandhaus, um mich nach dem Wert des Armbands zu erkundigen. Ich dachte, das Geld könne mich vielleicht eine Zeit lang über Wasser halten, wenigstens so lange, bis ich eine neue Stelle fände. Aber der Herr hinterm Tresen – aus Neapel, eins fünfzig, schwarze Knopfaugen und drei Haare auf der Glatze – legte sein Monokel ab, schüttelte den Kopf und sagte: »Tute mir leite, Signorina … Aber Armband nur eine Goldbad, und Steina nikt eckt.«