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- 01.09.2005
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Echtes Leben
Wenn man nirgendwo mehr hingehen konnte, um vier Uhr morgens mit Kotze auf der Jacke oder so was, dann ging man in die Klause. Obenrum war Mark sauber, aber er glaubte, Scheiße zu riechen. Als er seine Schuhe überprüfte, setzte Breuer sich neben ihn.
Mark trank gerade das dritte Bier in der Klause. Jedenfalls ging er davon aus. Auf den Abend gerechnet musste es etwa das sechzehnte sein. Er war bei Rocho gewesen und gemeinsam hatten sie sich vor dem Fernseher wegen des zumindest in dieser Höhe vermeidbaren 0:3-Untergangs ihrer Mannschaft geschämt. Rocho hatte sogar seinen Fanschal in den Papierkorb geschmissen, später aber wieder herausgeholt.
Nach dieser Demütigung hatten sie noch einen Film über Bergsteiger gesehen, mit bösen und guten Bergsteigern und zum Schluss müssen alle wegen eines Schneesturms zusammenhalten oder so. Rocho war danach ins Bett gegangen, weil er am nächsten Tag seine Eltern in Köln besuchen wollte, und Mark war allein weiter ins Heide Witzka, wo er nur noch den Bühnenabbau irgendeiner Bluesband mitbekam.
In regelmäßigen Abständen war er zur Theke und wieder zurück zur Wand gestolpert, damit er sich anlehnen konnte. Blicke trafen ihn, als hätte er einen Fleck im Schritt gehabt, und als ihm die Augen zufielen und das Kinn auf die Brust sackte und ihm schließlich im Sekundenschlaf das Bier aus der Hand fiel, da stand plötzlich ein lächerlich schmalbrüstiger Türsteher vor ihm und sagte irgendwas, das endete mit Deshalb würde ich Sie bitten, jetzt zu gehen.
Aber ihm war nicht nach zu Hause, noch nicht. Er hatte auch vergessen, Bier zu kaufen. Im Kühlschrank lagen Fleischwurst und Peperoni. Da blieb nur die Klause.
Besoffen, wie er war, geriet er mit dem Thekenhocker ins Wanken, als er seinen Schuh untersuchte. Breuer fing ihn auf.
„Junger Freund!“, rief er. Von der anderen Seite der Theke schielte der Wirt misstrauisch zu ihnen rüber. Breuer gab ihm ein Zeichen: Ich habe das hier unter Kontrolle. „Das wäre ja fast was gewesen!“ Breuer lachte.
„Entschuldigung“, sagte Mark. „Hab was getrunken.“
„Merkt man nicht“, sagte Breuer und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. Mark lächelte. Ein Kraftakt. Breuer orderte zwei Ouzo.
„Auf den Schrecken“, sagte er. Mark nickte. Sie stießen an. Heiße Lakritze brannte in seinem Hals.
„Alles in Ordnung?“, fragte Breuer.
„Alles gut“, sagte Mark.
Breuer zupfte an den Stoppeln seines graumelierten Sechs-Tage-Barts. „So richtig glaube ich dir nicht.“ Er schob Mark einen neuen Ouzo vor die Nase und hob sein Glas. Sie stießen an und tranken. Diesmal musste Mark würgen.
„Du bist zu jung, um dich allein an der Theke volllaufen zu lassen“, sagte Breuer. „Da stimmt was nicht.“
„Ich bin fast dreißig“, sagte Mark.
„Zu jung“, erwiderte Breuer. Er legte eine Hand auf Marks Schenkel. „Finde ich.“
Auch wegen der Uhr an Breuers Handgelenk widerstand Mark dem Reflex, seinen Schenkel zurückzuziehen. Die ins Gold eingelassenen Edelsteine reflektierten das warme, gelbe Thekenlicht. Mark hatte keine Ahnung von Uhren und das Ding mochte eine gefälschte Wasauchimmer sein. Aber sie schien zu dem SLK zu passen, den er draußen gesehen hatte. Der war auf jeden Fall echt.
„Was ist los?“, fragte Breuer.
Mark beobachtete den Wirt drei Gläser lang beim Spülen. „Hab einen kranken Vater zu Hause“, sagte er schließlich.
„Oh“, sagte Breuer. Sein Mund fror kurz ein in der Position für diesen Laut. „Richtig krank?“
Mark entfuhr ein Laut, irgendwo zwischen Lachen, Krächzen und Husten. Sein Hals war trocken. Sie saßen in dichtem Nebel. Die Klause würde das Recht, drinnen zu rauchen, notfalls mit Waffengewalt gegen diesen Staat verteidigen.
„Kann man wohl sagen.“ Mark räusperte sich. „ALS.“
Breuers Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Wie Stephen Hawking“, sagte Mark.
„Bitte?“
„Der Wissenschaftler. Schwarze Löcher und der Kram. Im Rollstuhl der, mit der Roboterstimme."
"Ach ja."
"Ist jetzt tot.“
„Wer?“
„Der Hawking.“
Breuer griff seinen Hals, als wollte er sich selbst würgen. „Ach, du Scheiße“, sagte er und kniff in Marks Schenkel.
Mark nickte. „Das haben wir auch gedacht, nach der Diagnose. Wenn du im Internet liest, steht da, der Hawking hat abnormal lang mit dem Kram gelebt. Eigentlich geht das schneller. Mein Vater hat es jetzt vier Jahre und da passiert nicht mehr viel. Nicht allein aufs Klo, gar nichts." Er zeigte auf seinen Bauch. "Hat so einen Schlauch hier, fürs Essen. Machen meine Schwester und ich. Und der Pflegedienst. Meine Mutter ist weg, als er in den Rollstuhl musste. Da wurde es ihr zu krass.“
Breuer streichelte Marks Bein. „Oh, Junge“, sagte er.
Mark sah von der Uhr zu seinem fast leeren Bier. „Weißt du, was das Schlimmste ist?“, fragte er.
Breuer schüttelte den Kopf.
„Wir waren früher im Sommer ein paar Mal an der Nordsee“, sagte Mark. „Da haben wir Videos von. Mein Vater heult sich die Augen aus dem Kopf, wenn wir sie gucken, aber er will sie immer wieder sehen. Der Typ vom Pflegedienst sagt, wir sollen das lassen, wegen Depressionen, aber dann machen wir sie doch immer wieder an, die Videos, weil er es sagt und weil er unser Vater ist.“
Breuer nahm die Hand von Marks Bein. „Junge“, sagte er. Er schüttelte sich, als wäre ihm kalt. „Meine Güte. Du hast alles Recht der Welt, dich allein an der Theke zu besaufen.“
Mark nickte. „Danke.“ Wieder ging sein Blick zu Breuers Uhr. „Weißt du, meine Schwester und ich, wir würden gern mit ihm hochfahren, an die See, aber im Grunde brauchst du dafür einen Bus. Ein behindertengerechtes Hotel. Ein Pfleger muss auch mit.“
Breuer verstand den Sinn dieser nachgereichten Information nicht. Mark sah es in seinen Augen. „Kannst du vergessen“, half er ihm auf die Sprünge. „Kostet alles ein Schweinegeld. Meine Schwester hat das Studium abgebrochen, damit sie sich um ihn kümmern kann. Er hat sich dagegen gewehrt. Ich bin bei Edeka im Lager. Da wirst du auch nicht reich von.“
„Was hat sie studiert?“
„Meine Schwester?“
Breuer nickte.
„Medizin.“
„Wow.“ Breuer, der ebenso eingefallen auf dem Hocker saß wie Mark, streckte anerkennend den Rücken durch.
„Sie ist schlau“, sagte Mark. „Ich nicht.“ Er lächelte schief. „Und ausgerechnet ich muss jetzt die Kohle ranschaffen. Reicht natürlich vorne und hinten nicht.“
Die Worte hingen nicht in der Luft, sie saßen auf den Rauchschwaden zwischen ihnen. Breuer studierte sie eine Weile.
„Was meinst du denn, was kostet so eine Reise?“, fragte er schließlich.
Jetzt nicht zu hastig. Mark zuckte die Schultern. „Zwei-, dreitausend Euro, wenn du jemanden wie meinen Vater dabei hast. Ich meine, damit du wirklich entspannen kannst und keine Schnürsenkel zum Abendbrot essen musst. Vielleicht vier.“
Breuer dachte darüber nach. Er nahm eines der leeren Ouzogläser und klopfte damit einen Takt auf seinen unteren Schneidezähnen. „Ich gebe dir zehn“, sagte er und stellte das Glas wieder ab.
Nüchtern wäre Mark beim Gedanken an so viele Hunderter schwindelig geworden, aber die Welt drehte sich ja bereits. Trotzdem war er kurz sprachlos. Zehntausend Euro, um Gottes Willen. Ein Hunderter war der größte Schein, den er jemals selbst in der Hand gehalten hatte, deshalb stellte er sich Hunderter vor. Hundert Stück. So ein Stapel war sicher ein paar Millimeter dick. Richtig was in der Hand. Er schüttelte den Kopf. Leine geben.
„Das kann ich nicht annehmen“, sagte er. Breuers Finger fanden den Weg zurück auf seinen Schenkel. „Du bist ein guter Kerl“, sagte er.
„Meinst du?“
Breuer nickte etwas zu heftig. „Ein guter Kerl, ein stolzer Kerl. Ich will dir das Geld auch nicht schenken. Du sollst mir dafür einen Gefallen tun.“
Er will hinten rein, dachte Mark. Eine populäre Losung aus Teenagertagen schoss ihm durch den Kopf. Mein Arsch bleibt Jungfrau, hatte man sich da gegenseitig versichert. Niemand wollte eine Schwuchtel sein. Aber jenseits von achtzehn wurde das Leben nun mal komplizierter.
Zehntausend Euro. Mindestens. Dazu all das, was in einem Haus herumliegen mochte, in dem jemand wie Breuer wohnte. Vielleicht hatte das Ding an seinem Handgelenk Kumpels, jeder einzelne davon mehr wert als zehntausend Euro. Und wenn er ansatzweise so besoffen ist wie ich, dachte Mark, kriegt er eh keinen mehr hoch.
„Was denn für einen Gefallen?“, fragte er.
Breuer zwinkerte ihm zu und legte auch die andere Hand auf Marks Schenkel.
Der SLK schwebte durch die Nacht. Mark fühlte sich wie in einem Raumschiff, mit den dezent grün und orange leuchtenden Anzeigen, Sprit, Geschwindigkeit, Radio, ein GPS, alles gedimmt, damit es nicht so blendete. Er wäre eingeschlafen, getragen ins Traumland auf einer Sänfte aus leise aus dem Radio säuselnden Chansons, aber der Gedanke an zehntausend Euro und den bevorstehenden Arschfick hielten ihn wach. Alles hatte seinen Preis. Zehntausend Euro. Menge Holz.
Breuers Fahrweise schien sicher und Mark fragte sich, wie viel weniger als er der geile Bock getrunken haben mochte. Niemand in der Klause hatte ihm dazu geraten, das Auto stehen zu lassen und sich ein Taxi zu rufen. Allerdings war die Klause auch kein Ort, an dem die Leute aufeinander aufpassten.
Die Kurven wurden mehr. Breuer wohnte dort, wohin die Geldsäcke sich zurückgezogen hatten, am Waldrand mit Blick auf den Fluss, hoch gelegen. Um dort hin zu gelangen, mussten sie ein Stück durch Serpentinen fahren. „Je ne regrette rien“, sang Breuer leise mit.
„Das kenne ich“, lallte Mark.
Breuer lachte. „Das kennt jeder.“
Dann waren die ersten Häuser zu sehen. Die Dächer zumindest und die obersten Stockwerke. Der Rest lag versteckt hinter hohen Zäunen. Um überhaupt auf den Hof zu gelangen, mussten Besucher an Sprechanlagen vorstellig werden.
„Wie sind die Nachbarn?“, fragte Mark. „Wer Bekanntes dabei?“
Breuer zuckte die Schultern. „Kann sein“, sagte er. „Kenne ich nicht. Nur mal Hallo. Ich bin lieber in der Klause und höre da den Leuten zu. Wie man zu Geld kommt, weiß ich ja selbst.“
Ach?, dachte Mark.
„Da gibt es auch nicht viel zu erzählen“, sagte Breuer. „Im richtigen Moment rein und im richtigen Moment wieder raus. Mehr ist es im Grunde nicht. Da habe ich das Gefühl für, schon immer gehabt.“
Breuers Haus war das letzte an der Straße. Zwischen den Anwesen wäre Platz gewesen für drei oder vier Häuser von Leuten, die das nicht so im Gefühl hatten mit den Momenten. Die Nachbarschaft legte trotz aller Kameras, die Mark auf dem Weg hierher gesehen hatte, offenbar Wert auf Privatsphäre.
Breuer fummelte eine kleine Fernbedienung aus der Hemdtasche hervor. Das Tor öffnete sich wie das einer Burg, nur nicht von oben nach unten, sondern von links nach rechts. Mark stellte sich Elfenkinder in Ketten vor, die tief unter der Erde nach Breuers Knopfdruck einen Stromstoß versetzt bekamen, sodass sie vor Anstrengung stöhnend den Mechanismus aus riesigen Zahnrädern in Gang setzten, mit dem das Tor geöffnet und geschlossen wurde.
„Was grinst du so?“, fragte Breuer.
Mark winkte ab. „Nichts.“
„Hast dir selbst einen Witz erzählt, was? Ich bewundere ja Leute, die das können.“
Der Mond schien auf blaue Dachpfannen. Darunter lagen die zwei Stockwerke eines strahlend weißen Domizils. Mark kannte solche Häuser nur aus Actionfilmen. Der Böse lebte darin, hatte seine vier Wände mit Drogengeld oder Waffenlieferungen an Terroristen bezahlt.
„Wohnst du hier allein?“, fragte er Breuer.
„Im Grunde ja.“
„Im Grunde?“
Breuer parkte den Mercedes neben einem stillstehenden Brunnen, den vier nackte Bogenschützen aus Bronze bewachten. Sie spannten ihre Waffen und zielten nach oben in die vier Himmelsrichtungen.
„Ich habe ihn nie laufen lassen“, sagte Breuer. „Der Architekt hat drauf bestanden. Ich fand es kitschig, aber ich dachte, was soll's. Jetzt steht das Ding da und ich nehme mir schon ewig vor, es wegreißen zu lassen, komme aber nicht dazu.“
„Verstehe“, sagte Mark, so als müsse jeder sich in seinem Leben mal mit diesem Thema auseinandersetzen. Dass einem der Brunnen nicht mehr gefällt, zu dem man sich von seinem Architekten hat überreden lassen.
Innen war das Haus weniger pompös, fast eine Enttäuschung. Das Wohnzimmer war größer als die Klause und es roch besser darin, es gab einen Kamin und einen Fernseher, hinter dem der größte Teil der Wand verschwand, aber keine Tafelrunde, keine Ritterrüstungen und keine Porträts, die Breuer oder seine Ahnen zeigten. Stattdessen ein Filmplakat von Fritz Langs Die Frau im Mond, gerahmt. Mark blieb davor stehen.
„Ist original“, sagte Breuer. Mark nickte anerkennend, aber seine Gedanken waren woanders. Der Gang durch die frische Luft vom Auto zur Haustür und gut eine Dreiviertelstunde ohne Bier ließen ihn wieder klarer sehen. War er wirklich bereit für Sex mit einem Mann, wegen zehntausend Euro? Fick doch Fritz Lang. Und sich die Taschen vollzumachen, wenn Breuer eingeschlafen war? Er würde nicht zum ersten Mal jemanden bestehlen, aber sich davonzuschleichen, durch den Wald? Die Strecke zurück musste zu Fuß zwei oder drei Stunden dauern. Große Scheiße. Ein Hoch auf die Ideen, die früh morgens kamen, besoffen.
„Willst du was trinken?“, fragte Breuer. Er hielt seinem Gast ein Bier hin, das er geholt hatte, während Mark in Gedanken versunken gewesen war.
„Oh, Mann“, sagte Mark und nahm es. Breuer grinste.
„Setz dich.“ Er zeigte auf ein schwarzes Ledersofa. Mark nahm Platz und stellte sein Bier auf dem Glastisch davor ab. Breuer ließ sich in gehörigem Abstand auf das Sofa sinken, was Mark überraschte.
„Schön, dass du hier bist.“ Er prostete Mark zu, nahm einen Schluck Bier und stellte seine Flasche ebenfalls auf dem Tisch ab. „Was denkst du, warum ich dich eingeladen habe?“
Mark schluckte unwillkürlich. „Du hattest keinen Bock, allein noch ein Bier zu trinken?“
Breuer schüttelte den Kopf, als wäre die Antwort ernst gemeint gewesen.
„Sondern?“, fragte Mark. Ficken, dachte er. Für zehntausend Euro, also stell dich nicht so an.
Breuer sah zur Decke. „Deine Geschichte“, sagte er. Er blickte wieder zu Mark. „Das hat mich berührt.“
Mark überlegte. „Ja“, sagte er nach kurzem Zögern. „Ist krass.“
Breuer hatte Gespür für die richtigen Momente und Rocho konnte Melodien rülpsen, auch wenn er sie nur einmal gehört hatte. Das Lügen war schon immer Marks größtes Talent gewesen. Oft tat er es nicht mal bewusst. Die Lügen kamen ihm hoch wie ein Schluckauf, waren schneller draußen als die Wahrheit. Manchmal vergaß er den Quatsch, den er erzählte, auch genauso schnell wieder, insbesondere, wenn er trank. Er hatte keine Schwester und seinem Vater ging es gut, mal abgesehen von Sorgen um den Sohn ohne Schulabschluss oder Ausbildung und die Leute, mit denen er sich herumtrieb. Die Geschichte mit Bruder und Schwester und ALS hatte er irgendwo im Netz gelesen. Eine von diesen Seiten, Zeilen, die mitten ins Herz treffen, etwas in der Art. Seine Mutter war weg, der Teil stimmte. Ein Fahrradunfall, als er vier gewesen war. Als noch kaum jemand einen Helm trug, außer Rennradfahrern. Die Kante des Bürgersteigs hatte ihren Kopf geknackt wie eine Walnuss. Der Job bei Edeka war nicht echt, Gott sei Dank.
„Es ist eine Tragödie“, sagte Breuer. „Liebe Güte, es tut richtig weh beim Zuhören.“ Er trank einen Schluck Bier. „Umso schöner, dass das Schicksal uns zusammengebracht hat, damit wir beide was voneinander haben.“ Er machte die obersten Knöpfe seines Hemdes auf. Schwarzes Kraushaar mit ein paar grauen Ausreißern darin kam zum Vorschein.
„Ja“, sagte Mark. Zehntausend Euro, dachte er. Du frisst Schwanz, aber danach bist du reich.
„Ich habe auch eine Schwester“, sagte Breuer. „Sie wohnt hier mit mir.“
Im Grunde ja. Mark sah sich um. „Ich denke, du lebst allein?“
Breuer atmete tief ein und wieder aus, als wäre er beim Yoga. „Es ist nicht ganz so einfach.“ Er stellte sein Bier ab. „Und es ist jetzt auch nicht wichtig.“
In Marks Kopfkino lief nicht die Frau im Mond. Stattdessen schlurfte da eine andere Frau verschlafen ins Wohnzimmer, während ihr Bruder gerade mit einem zwanzig Jahre jüngeren Kerl in Fahrt kam, den er in einer Spelunke aufgegabelt hatte. Nicht wichtig. Vermutlich wäre der Anblick für sie also nichts Neues gewesen.
„Wichtig ist, meine Schwester liebt Geschichten“, sagte Breuer. „Und deine, die ist Wahnsinn. Das hat sie unheimlich berührt.“
Mark nickte. „Du meinst, die wird sie berühren.“
„Was hatte ich hier schon für Leute“, sagte Breuer. „Tolle Erzähler. Kennst du Hans Nimmer? Diesen Lokalautor, der die Krimis geschrieben hat mit dem Bauern, der immer die Mordfälle löst? Den habe ich übrigens auch in der Klause getroffen.“
Mark war kein Leser, aber er kannte Nimmer wegen der Schlagzeilen vor ein paar Jahren. Der Autor war spurlos verschwunden. Kleine, feine Eiskristalle pieksten in Marks Nacken.
„Das Problem ist“, fuhr Breuer fort, „und es hat eine Weile gedauert, bis ich das verstanden habe: Jutta will echte Geschichten. Echtes Leben. Es ist ja nun mal nicht so einfach für sie, daran teilzunehmen, und so nimmt sie teil.“
„Jutta?“
„Ach so, entschuldigung.“ Breuer nickte. „Jutta. Meine Schwester.“
Mark rieb sich nervös die Hände. „Hör mal ...“, sagte er. „Ich weiß nicht, ob das hier so eine gute Idee gewesen ist. Vielleicht sollte ich einfach los. Brauchst mir auch kein Geld zu geben.“
„Es war eine gute Idee“, erwiderte Breuer. „Die beste. Und du bist jeden Cent wert. Ich habe Jutta noch nie so zufrieden erlebt.“
Er hat die Haustür abgeschlossen, oder? „Wenn du meinst.“
„Meine ich!“ Breuer klatschte in die Hände. Dann senkte er den Kopf. „Eigentlich hätte ich es schon viel früher ahnen können“, sagte er. „Das hätte ...“, er rieb sich die Stirn, „... insgesamt einfach zu weniger Unglück geführt.“
Mark sah ihn fragend an. Breuer blickte im Raum umher, als hätte er die Antwort verlegt wie Autoschüssel. Plötzlich schnipste er mit den Fingern und zeigte auf das Frau im Mond-Plakat. „Ich liebe Filme“, erklärte er. „Jutta hasst sie. Egal, wie gut sie sind. Sie mag auch nicht, wenn ich ihr was vorlese. Weil das alles gelogen ist.“
Breuer knüpfte sein Hemd weiter auf, doch die Nähte blieben übereinander und bedeckten den Bauch. Eine kleine Schlange kroch unter dem Stoff hervor.
Marks Finger schlossen sich fester um sein Bier. Die Schlange verharrte kurz, so als hätte sie sich genauso erschreckt wie er. Als sie sich wieder bewegte, erkannte Mark, dass es keine Schlange war, sondern ein Arm, etwa so dick wie der eines Babys, aber nicht so fein, nicht so unberührt. Flaum wuchs auf der faltigen Haut.
Der Kopf dessen, was er zunächst für eine Schlange gehalten hatte, war eine Hand, eine unfertige kleine Hand ohne eigenes Gelenk. Zwei Finger vom Durchmesser eines Kugelschreibers zogen Breuers Hemd zur Seite wie einen Vorhang.
Der Schlitz in einer Vertiefung, die Mark zuerst für den Bauchnabel hielt, öffnete sich. Ein kleiner, grauweißer Ball mit einem schwarzen Punkt in der Mitte lag dahinter. Der Ball drehte sich wild in alle Richtungen, bis der schwarze Punkt schließlich auf Mark zeigte. Der machte einen Laut, als hätte ihn jemand in den Unterleib geboxt.
„Ganz ruhig“, sagte Breuer. „Jutta tut niemandem was. Außer mir natürlich.“
„Jutta?“ Mark rückte von Breuer weg, bis die Lehne seiner Flucht ein Ende setzte.
„Sie kann mir wehtun, da machst du dir keine Vorstellung von“, sagte Breuer. „Und so mache ich dann Sachen, die ich gar nicht machen will. Teile von ihr hängen an meiner Prostata.“
„Was?“
„Im Mutterleib habe ich noch geübt“, sagte Breuer. „Im richtigen Moment rein, aber ich habe sie nie wieder raus bekommen.“ Er hustete. „Nein, tut mir leid, natürlich ist das nicht witzig.“
Breuers Bauch war voller Narben, so als hätten sie ihm nicht einen, sondern diverse Blindarme entfernt. Wie er Mark ansah, schien er dessen Aufregung nicht zu verstehen. „Es wird sich nicht wiederholen“, versprach er. „Die anderen waren Lügner. Alles nur erfunden. Wie die Filme. Und Nimmer. Netter Kerl eigentlich, aber, na ja. Früher oder später merkt Jutta das immer. Dann ist sie enttäuscht und wird wütend. “
Breuer legte die Hand auf den Schoß. Liebevoll griff seine Schwester danach. Er küsste ihren Unterarm
„Völlig egal“, sagte Breuer. „Denn du bist anders. Du erzählst vom echten Leben. Von deinem Vater. Und von deiner Schwester. Und vor allem von dir.“
Mark rechnete seine Chancen aus. Er fühlte sich nüchtern vor Angst, aber natürlich war er noch immer betrunken, unendlich viel betrunkener als Breuer. Vielleicht waren die Ouzo sogar dessen einziger Alkohol an diesem Abend gewesen. Mark wollte nicht da enden, wo Nimmer jetzt war. Er wollte nicht herausfinden, wie viele Nimmers es gegeben hatte und was mit ihnen passiert war. Mit all den Lügnern. Die beste Chance, die er hatte, war, der beste Lügner von allen zu sein. Der König der Lügner. Dafür hatte Gott ihm diese Gabe gegeben: Für diesen frühen Morgen auf dem Sofa, besoffen.
„Also, mein Vater hat selbst nur Volksschule und wollte immer, dass aus mir und meiner Schwester was wird“, begann er. Danach kam es einfach so aus ihm heraus, eigentlich wie immer, so wie das Bier nun mal rausfließt, wenn man die Flasche auf den Kopf stellt. Mark log sein Leben daher. Juttas Blick hing an seinen Lippen. Sie verschlang jedes Wort.