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Echte Wirklichkeit
„Weißt du, was ich an diesen Talkshows liebe?“
„Was?“ Frank hatte die Arme verschränkt und guckte desinteressiert in Richtung Bildschirm.
„Dass die Menschen noch richtig sagen, was sie denken. Mann, der in der ersten Reihe, der ist ja prollig. So ’n richtiger Asi. Wetten, dass die den drannimmt?“
„Klar nimmt die den dran. Dafür sitzt er ja da.“
„Wie meinst du das?“
„Mann, Ulf, sei doch nicht so naiv. Bei diesen Talkshows ist alles getürkt. Die ganzen Typen in der ersten Reihe kriegen Regieanweisungen, damit die Diskussion ordentlich in Gang bleibt. Ist so.“ Frank stopfte sich ein paar Kartoffelchips in den Mund und setzte seine abgeklärteste Miene auf.
Ulf starrte ihn schockiert an. „Das meinst du nicht ernst.“
„Natürlich. Stand doch in der ‚TV-Woche’. Die casten extra Typen, damit sie im Studio rumpöbeln, und halten sich sogar Vorklatscher. Siehst du die beiden da? Die waren auch letzte Woche schon da.“
Ulf schlug fahrig die Zeitschrift auf. Tatsächlich: Der Redakteur beschwerte sich darüber, dass die Gäste alle aus der Unterschicht "gecastet" würden. „Aber … Aber das ist doch …“
„Voll die Verarsche. Hast es erfasst, Kumpel.“
„Wenn das alles getürkt ist, will ich es nicht sehen. Mach was anderes an.“
„Und was? Vielleicht eine von diesen Gerichtsshows? Meinst du, dass da irgendwas echt ist?“
„Also wenn du so fragst … nicht wirklich.“ Ulf fühlte sich plötzlich sehr desillusioniert.
„Aber ich möchte mal etwas sehen, das echt ist, weißt du, etwas, das …“ Er rang einen Moment nach Worten.
„Authentisch.“
„Auwas?“
„Du suchst nach etwas, das authentisch ist.“ Frank schob sich wieder einen Batzen Chips rein und schaute gewichtig aus der Wäsche.
„Na ja, wie auch immer.“ Ulfs Miene hellte sich einen Augenblick lang auf. „Dann ziehen wir uns halt ‚Kopernikus’ rein.“
„Kopernikus?“ Frank schnaubte verächtlich. „Klar, Infotainment nennen die das. Die würden dir erzählen, dass jemand uns den Weltuntergang prophezeit hat, und dann fragen: ‚Ist da wirklich was dran?’ Oder die erklären dir, wie du den besten Champagner-Cocktail mixen kannst, wie die Schokolade in die Kekse kommt und so'n Scheiß. Du bist nachher kein bisschen schlauer als vorher, hast dich aber super unterhalten gefühlt.“
Ulf dachte fieberhaft nach, dann schaute er in die Programmzeitschrift. Es musste doch noch etwas geben, das Wirklichkeit vermittelte … „Du, im Zweiten läuft gerade eine Doku über Afrika!“
„Doku?“ Frank lachte humorlos. „Dokutainment heißt das heute. Dokufilmer wollen heutzutage Geschichten erzählen, nicht dokumentieren. Die greifen sich das raus, was zu ihren Thesen passt, und basteln sich eine Handlung zusammen. Eigentlich war das noch nie anders, nur das Niveau ist beschissener geworden.“
Ulf knallte die Zeitschrift auf den Tisch, von plötzlichem Frust erfasst. „Verdammt noch mal. Ich will aber keinen Müll gucken. Ich will was erleben, was wirklich ist.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust.
„Erleben sagst du?“ Frank sah ihn direkt an. „Du meinst richtig Wirklichkeit zum Anfassen? Mein Gott, Ulf, das kriegst du doch nicht vor dem Fernseher. Wenn du real was erleben willst, warum gehst du dann nicht aus der Bude hier raus und lernst neue Menschen kennen?“
Ulf trat hinaus in die pralle Mittagssonne. „Ahh, das ist wirklich mal 'ne Abwechslung. Man weiß echt nicht mehr, wie das ist, wenn man ständig nur vor der Glotze hängt."
„Das will ich meinen.“ Frank pflückte eine Orchidee und roch daran. Dann ließ er sie in der sanften Brise davongleiten.
"Die Leute wissen das heute immer weniger zu schätzen. Die frische Luft, die Brise, die dir über das Gesicht streicht, die natürlichen Gerüche und Farben ..."
Die Wald- und Wiesenlandschaft vor der Siedlung erstreckte sich bis zum Horizont.
„Wollen wir zu der Gruppe gehen, die da hinten picknickt?“
Die Familie am Waldrand winkte ihnen fröhlich zu.
„Das ist hier alles so ... real.“ Ulf schüttelte den Kopf. "Nicht zu fassen, dass die Leute immer vor den Mattscheiben rumhängen. Die Dinger könnten wir wegschmeißen. Dann würden alle das pralle Leben kennenlernen."
„Vor allem, weil es ja auch Geld kostet, ständig im Virtual Reality Space rumzuhängen. Fernsehen könnten die doch auch draußen."
„Bloß weil es hier keine Werbeunterbrechungen gibt." Ulf breitete die Arme aus. Die Rezeptoren an seiner VR-Maske übermittelten ihm einen richtig echten Waldgeruch.
In die Eiche, unter der die Familie picknickte, war eine Botschaft in Herzform eingeritzt: "Schöner werden mit nitrea. Wenn auch Sie ihre Jahre loswerden wollen."
Ein kleiner Junge streckte seinen Finger in die Luft: "Mama, guck mal."
Am Himmel hatten die Wolken das Werbelogo der Reisefirma TUnis gebildet.