Echte Schokolade
Sie sah aus dem Fenster. Es war so ungewohnt und etwas komplett anderes, so etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Gehört hatte sie schon davon, aus Büchern, die ihre Mutter ihr vorlas, oder aus Geschichten, die ihr Vater ihr erzählt, wenn er nach langer Zeit auf Montage endlich wieder für einige Tage zu Hause war. Ihr Vater, ob es ihm wohl gut ginge? Ob er das, was gerade geschah, verkraften konnte? Die Gedanken an ihn ließen wieder die Trauer zu, die sie eigentlich zu unterdrücken versuchte, etwas das sie nicht fühlen wollte, während ihre kleine Schwester in der Nähe war. Denn immer, wenn sie die Trauer übermannte und einige Tränen ihre Wange herunterliefen, bemerkte das die kleine Schwester und fing fürchterlich an zu weinen und zu schluchzen. Ihre Mutter durfte sie dann die ganze Zeit über trösten, obwohl sie selber mit Angst, Wut und Ungewissheit zu kämpfen hatte.
Aber an all das wollte sie gerade nicht denken, also richtete sie ihren Blick aufs Neue aus dem Fenster, die Neugier packte sie und das zuvor Gesehene sprang ihr wieder förmlich ins Gesicht.
Die Berge. So etwas Schönes, Imposantes, Mächtiges und Ehrfurchtgebietendes hatte sie nicht erwartet. Diese Beständigkeit aus Stein, die die Erde hervorbrachte, zeigt die Schönheit und Stärke des Planeten. Sie konzentrierte sich auf die Gipfel des Gebirges und stellte sich vor, wie die Tiere wohl aussehen mögen, die dort leben. Dass es Ziegen und Steinböcke gab, wusste sie, aber sie stellte sich vor, dass diese ein so weiches und langes Fell hatten, dass man sich einfach so in sie hineinkuscheln konnte. Und so übermannte sie endlich ein Schlaf, den sie seit mehreren Tagen unterdrückt hatte…
„NEIN, BITTE, PAPA, MAMA, OMA….“ „Schhhh! Es ist alles gut Kleines, komm wach auf, du hattest einen Alptraum. Es wird alles wieder gut.“ Ihre Mutter wiegte sie im Arm und im Hintergrund hörte sie das Geheule ihrer Schwester. Immer wieder der gleiche Traum, Schreie, Explosionen, Getrampel, Flüche, aber nie Gesichter, Gebäude oder sonst irgendetwas, nur Schwärze. Sie beruhigte sich allmählich durch das Geratter und Klimpern des Zuges, in dem sie alle gemeinsam saßen. Sie waren auf dem Weg in etwas Ungewisses. Niemand wusste, wie das alles zu Ende gehen würde. Wenn man sie gefragt hätte, wäre sie niemals von zu Hause weggegangen. Das schöne große Haus, der weite große Garten, aus dem sie Obst und Gemüse pflückte, wann immer sie wollte, und dann die Tiere, ihre Ziege und die Schweine, die immer so lieb zur Begrüßung grunzten. Nein, das hätte sie für kein Geld der Welt eingetauscht. Aber es war nicht Geld, das sie von zu Hause wegtrieb.
Sie schaute wieder aus dem Fenster und musste enttäuscht feststellen, dass die Berge hinter ihr lagen. Kurz bevor sie aufgebrochen waren, hatte ihr Papa zu ihr gesagt: „Wenn ihr an den Bergen vorbei seid, Liebes, dann seid ihr schon fast da. Es wird dir gefallen, du brauchst keine Angst zu haben.“ Das hatte sie aber, denn sie kannte in der Fremde niemanden genau, weder die Sprache noch die Menschen. Und das Schlimmste war, dass ihr Papa nicht da war. Er musste da bleiben, sie alle ziehen lassen. Und warum? Er hatte ihr nur etwas gesagt, woran er eigentlich gar nicht selber glaubte, etwas, das viele sagten, vielleicht auch nur nachplapperten: „Ich muss unsere Heimat verteidigen!“ Das hatte sie weder vor einigen Tagen verstanden, als er es zu ihr sagte, noch verstand sie es jetzt. Heimat war für sie nichts anderes als ihr Haus und ihre Familie, aber diese war nicht vollständig. „Aber wieso verteidigst du die Heimat und wir müssen in eine neue? Dann ist diese doch sowieso nichts mehr wert!“ „Du kannst das noch nicht verstehen, dafür bist du noch zu klein, Maus!“ Dann drehte er sich in seiner Uniform um und ging. Mama stand neben ihr und weinte. Sie wusste, dass dies der Augenblick war, der bedeuten konnte, dass sie sich nie wieder sehen und sie wusste, dass ihre Eltern das genauso wussten.
Der Zug hielt und der Schaffner schrie laut, in einer Sprache, die sie nicht verstand. Ihre Mutter packte sie und ihre Schwester bei den Armen und sprach leise: „Nun kommt Kinder, wir müssen hier raus. Wir sind da.“ So wuselten sie sich zwischen den anderen Passagieren hindurch. Jeder wollte natürlich als erster aus dem Zug raus, in dem sie alle schon seit Tagen fest saßen. Draußen angekommen, knallte die pralle Sonne auf ihr Gesicht und blendete sie. Dadurch konnte sie nicht erkennen, wo sich befanden. Eine Stadt, ein Dorf? „Nun los Kinder der Onkel wartet schon auf uns. Ihr wisst doch, dass er schon so lange in diesem Land ist, dass er es einfach nicht ausstehen kann, wenn irgendjemand zu spät kommt.“ So zerrte sie an ihren Kindern, bis sie an ein Auto kamen, dass sie schon einmal gesehen hatte. Der Onkel lehnte am Wagen, mit einer Zigarette im Mund und drehte sich dabei noch die nächste. Er bemerkte sie zuerst gar nicht. Sie blieben vor ihm stehen, da richtete sein Blick sich zum ersten Mal auf: „Da seid ihr ja endlich. Ich warte schon eine Ewigkeit auf euch. Ihr wisst doch, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn jemand zu spät kommt. Naja, ist eben nun einmal so… Hallo Kinder, ich hab euch echte Schokolade mitgebracht. Hier esst ruhig, das gibt es doch bei euch zu Hause nicht oft. Nun jetzt werdet ihr ganz oft so etwas Schönes essen können, hier in eurer neuen Heimat.“ Meine kleine Schwester nahm die Schokolade aus der Hand des Onkels und vertilgte diese sofort. Sie jedoch starrte auf die Hand, die ihr die Schokolade reichte an und wünschte sich die Berge zurück.