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Echt nicht deine Nacht heute
Jenny stützt sich keuchend an die Mauer. Ihre Hand hinterlässt einen blutigen Schmierfilm. Langsam sinkt sie in die Knie, während Blut und Rotz aus ihrer Nase laufen. Die Nackenmuskeln schmerzen bei jeder Bewegung, als sie angestrengt in die Dunkelheit stiert. Nur eine einzige Laterne am Ende der Straße verbreitet ein müdes, kränkliches Dämmerlicht.
Jenny tastet ihren Unterleib ab. Die Wunde ist nicht tief, aber sie brennt trotzdem und fühlt sich warm und glitschig an. Der Schnitt am linken Arm ist schlimmer. Er hört nicht auf zu bluten. Mit den Zähnen und der rechten Hand zieht sie den Stofffetzen fester, den sie sich aus ihrem Sommerkleid gerissen hat. Das Blütenmuster ist längst einer verklebten, rotbraunen Schmiere gewichen. Sie merkt, wie sie schwächer wird. Ihre Kraft verlässt sie schnell.
Eine Gestalt tritt aus der pechschwarzen Dunkelheit. Sie ist im Lichtkreis der Laterne kaum zu erkennen, als sie sich lauernd umsieht. Wie ein Jagdhund, der die Nähe seiner verwundeten Beute wittert.
Taumelnd zieht sich Jenny an der Mauer hoch. Sie kann spüren, wie ihr geschwollener Knöchel pocht. Während der hektischen Flucht war sie öfters gestrauchelt und einmal sogar umgeknickt. Gebrochen ist er wahrscheinlich nicht, aber trotzdem schießen ihr Tränen des Schmerzes in die Augen, als sie so leise wie möglich weiterhumpelt.
Die Gestalt am Ende der Straße stößt ein heiseres, bellendes Lachen aus. Im nächsten Moment hört Jenny das Stakkato wiederhallender Schritte, die auf die Straße trommeln. Ein Trommelschlag, der in ihre Richtung donnert.
Mit einem verzweifelten Winseln mobilisiert Jenny die letzten Kräfte und ignoriert ihr schmerzendes Fußgelenk. Immer schneller hastet sie die Straße entlang. Hinein in die tintige, bleierne Dunkelheit. Ihre rechte Hand fährt dabei ständig an der Mauer zu ihrer Rechten entlang.
Die Schritte kommen näher. Jenny hat das Gefühl, schon beinahe den Atem ihres Verfolgers im Nacken spüren zu können.
„Gleich hab ich dich, Schlampe!“
Da! Ihre rechte Hand tastet nicht mehr über den rauen Backstein der Mauer, sondern spürt schmiedeeisernes Metall. Das Tor. Sie drückt es auf und schlüpft durch den schmalen Spalt. Dann wirft sie es schwungvoll zu. Mit einem befriedigenden Klacken verriegelt das Schloss.
Keine Sekunde zu spät. Ihr Verfolger knallt mit voller Wucht gegen das Tor. Die Scharniere quietschen protestierend, als er wie ein Wahnsinniger an dem verschlossenen Portal zerrt und reißt.
„Ich kriege dich, du Dreckstück!“
Jenny sieht, wie ihr Verfolger eine Brechstange unter seinem Mantel hervorzieht und wuchtig zwischen die beiden Flügel des Tores rammt. Mit einem animalischen Grunzen hebelt er die Stange hin und her. Schon beginnt das Metall zu quietschen und zu knacken.
Die Dunkelheit jenseits des Tores umfängt Jenny, während sie hastig weitereilt. Ihr Unterschlupf. Das Tor muss nur noch ein paar Augenblicke halten.
Mit einem lauten Schnalzen fliegt das Schloss aus den Angeln, begleitet vom triumphierenden Brüllen ihres Verfolgers. Als würde er sie tatsächlich wittern, schlägt er sofort dieselbe Richtung ein, in die sie geflohen ist.
Nur noch wenige Schritte, dann hat Jenny den Unterschlupf erreicht. Schon kann sie im schwachen Licht des kalten Mondes, der zaghaft zwischen dichten Wolken hindurchscheint, die Treppe sehen, die hinab führt. Sie spürt, wie ihre Schmerzen schwächer werden.
Ein brutaler Schlag reißt Jenny von den Füßen. Hart schlägt sie auf den Boden auf. Ihr Sichtfeld dreht sich und zittert wie ein Kreisel. Benommen richtet sie sich auf. Da trifft sie ein erbarmungsloser Tritt in den Bauch und schleudert sie auf den Rücken.
Schwer atmend ragt der Verfolger über Jenny auf. Langsam zieht er eine lange, schimmernde Machete hervor.
„War nicht leicht, dich aufzuspüren. Aber die Suche hat sich gelohnt. Ich werde dir ...“
Er hört nicht, wie der Schlagstock die Nachtluft zerschneidet und auf seinem Hinterkopf landet. Mit einem erstickten Grunzen bricht er zusammen.
Im nächsten Moment flammt eine Taschenlampe auf und leuchtet Jenny ins Gesicht. Wimmernd weicht sie zurück.
„Keine Angst, ich bin von einer Sicherheitsfirma. Ich hab Lärm am Tor gehört und dachte, dass die Gothictypen aus der Gegend hier mal wieder ne Friedhofs-Party feiern wollten. Warten Sie, ich rufe am besten gleich die Polizei.“
Stöhnend richtet sich der Verfolger auf. Sein blutender Kopf sieht aus wie eine gequetschte Tomate.
„Warte, du Idiot! Du verstehst nicht …“
Der Wachmann schaut drohend auf ihn herunter.
„Schnauze, sonst fängst du dir noch eine. Bei mir bist du nicht so stark wie bei dem Mädel hier.“
„Ich brauche keine Polizei. Das erledige ich selbst.“
Verwirrt dreht sich der Wachmann um. Jenny steht direkt hinter ihm. Alle Schwäche und Furcht sind aus ihrem Gesicht verschwunden. Diabolisch lächelnd entblößt sie ihre Fangzähne und leckt sich genüsslich über ihre Lippen.
Mit einem erstickten Schrei versucht der Verfolger, auf die Füße zu kommen.
„Schlag zu, verdammt. Oder halt sie fest! Man kann sie verletzen. Mach schon, wir müssen sie töten.“
Jenny kichert leise und kommt näher.
„Stimmt, ich bin jetzt noch schwach. Aber je näher ich meiner Gruft komme, desto stärker werde ich. Und dank euch beiden wird es mir gleich noch besser gehen.“
Sie sieht dem Wachmann direkt in seine Augen. Dann zuckt sie beinahe bedauernd mit den Schultern. Ihre Pupillen haben sich blutrot verfärbt.
„Ich wollte eigentlich nur den Schwachkopf da hinten in meine Gruft locken und dann hätte ich ein bisschen mit ihm gespielt. Aber leider hast du mich nun mal gesehen. Und ich mag keine Zeugen.“
Angewidert sieht sie zu ihrem Verfolger, der sich immer noch stöhnend den Kopf hält.
„Was wolltest du überhaupt von mir, du Vollidiot? Ich hab dir doch gar nichts getan. Oder macht dich das an, einfach so Mädchen mit ner Machete anzugreifen?“
„Du hast meine Freundin umgebracht, du scheiß Miststück. Vor zwei Jahren. Und als die Bullen nicht weitergekommen sind, hab ich die Sache eben selbst in die Hand genommen.“
„Also was Persönliches? Hätt‘ ich mir ja denken können. Es ist immer was Persönliches. Na schön, du hattest deine Chance und hast’s versaut. Jetzt bin ich dran. Aber zuerst …“
Mit übermenschlich schnellen Reflexen packt Jenny den Unterarm des Wachmanns wie eine Schraubzwinge.
„Schrei nicht oder bettle um dein Leben, denn das kotzt mich jedes Mal so richtig an. Du wolltest mir immerhin helfen, auch wenn ich deine Hilfe nicht wirklich gebraucht habe. Deshalb werde ich es bei dir schnell und absolut schmerzlos machen.“ Höhnisch grinsend sieht sie zu ihrem Verfolger hinüber. „Das kann ich dir allerdings nicht versprechen.“
Der Wachmann sieht Jenny mit aufgerissenen Augen an. Er öffnet den Mund. Seine Lippen verziehen sich und dann … fängt er an zu lachen. Er wirft den Kopf in den Nacken und lacht immer lauter. Dann schüttelt er sich und sieht Jenny spöttisch an.
„Was für eine verrückte Nacht. Eine Vampirin, ein Spinner, der sich für einen Jäger hält und alle beide stolpern mir genau vor die Füße. Das wird der Kracher, wenn ich das meinen Kumpels erzähle.“
Mit einem wuchtigen Rückhandschlag fegt der Wachmann Jenny von den Füßen. Hart prallt sie gegen einen Marmorgrabstein und stürzt zu Boden. Der Wachmann drückt seinen Rücken durch und streckt den Kopf in die Höhe. Schlagartig beginnt er zu wachsen. Die Nähte der Uniform dehnen und spannen sich. Dann reißen sie. Sein Körper wird von krampfartigem Zittern geschüttelt und überall sprießen schwarze, dunkle Haare hervor. Mit einem Geräusch, als würden Knochen brechen und Holz zersplittern, schiebt sich der Kiefer des Wachmanns aus seinem Gesicht und nimmt immer abnormere Formen an. Seine Ohren ziehen sich weiter und weiter und die Pupillen färben sich in ein heimtückisch leuchtendes Gelb.
Das Ding, das vor einem Augenblick noch der Wachmann gewesen ist, springt Jenny an und rammt ihr seine riesigen Krallen in die Brust. Dann wirft er den Kopf in den Nacken und stößt ein markerschütterndes, langgezogenes Heulen aus. Jenny hat noch Zeit für einen panischen Schrei. Erbarmungslos zuckt sein Raubtiermaul vor, reißt ihr die Kehle zusammen mit dem größten Teil ihres Halses weg und schneidet ihren Schrei abrupt ab. Ein weiterer Biss, und ihr Kopf fliegt in hohem Bogen in die Dunkelheit.
Geräuschvoll schmatzend leckt sich der Wachmann mit seiner langen Zunge über die Schnauze. Dann dreht er seinen Kopf zu dem Verfolger, der mit offenem Mund zu ihm hinüberstarrt.
Langsam richtet sich der Wachmann auf.
„Tut mir leid wegen deiner Freundin. Immerhin ist sie jetzt gerächt, und zwar gründlich.“ Die Stimme des Wachmanns gleicht dem kehligen Knurren eines großen Hundes.
„Aber was das Miststück hier gesagt hat, gilt auch für mich – ich mag keine Zeugen. Ist wohl echt nicht deine Nacht heute!"
Der Wachmann fletscht seine riesigen Zähne. Dann duckt er sich und springt.