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Ecgonin infinite
Das monotone, dröhnende Geräusch des Weckers ertönt. Es ist wieder drei Uhr morgens. Wir haben zwanzig Minuten Zeit für das Einnehmen des Ecgonin infinite, Duschen, Anziehen und vor die Tür Treten. Bei Verstoß eines dieser Sachen oder beim Überschreiten des Zeitlimits führt es zu Konsequenzen, die bis zu einer Entlassung reichen können. So verkündet das Sprachmemo jeden Tag mit der selben Stimme die selbe Nachricht über den selben Ablauf des Tages. Und bisher kam kein Arbeiter zurück, der gegen eines der Gebote verstoßen hatte:
1. Sprich keine Arbeiter an! Rede nur, wenn du von dem Zentralcomputer angesprochen wurdest! Antworte ehrlich und direkt!
2. Nimm jeden Tag das Ecgonin infinite ein und erledige deine Arbeit sorgfältig und schnell!
3. Begib dich niemals in den verbotenen Ostflügel und verlasse nie die Fabrik der PFc Company.
4. Um zwanzig Uhr wird geschlafen! Dazu werden die bereitgestellten Schlaftabletten eingenommen! Um drei Uhr morgens wird aufgestanden! Um halb vier wird sich am Arbeitsplatz eingefunden und bis halb acht abends gearbeitet!
5. Essenszeiten sind um sechs, zwölf und achtzehn Uhr und sind nicht zu verpassen!
OBERSTES GEBOT: Auf Verstöße eines dieser Gesetzmäßigkeiten folgen unwiderruflich sofortige, negative Sanktionen.
Soviel ich weiß, kontrolliert der Zentralcomputer praktisch alles in der Fabrik. Er steuert die Security-Roboter und ich denke, dass auch von dem Computer alle Sprachmemos und Durchsagen stammen.
Ich habe heute meinen freien Tag und mir zu diesem Anlass vorgenommen, in einem Brief mein schlichtes Leben festzuhalten und den Alltag kurz zu dokumentieren. Jeder Arbeiter hat an einem Tag im Quartal frei. Das macht vier Tage im Jahr und vierzig in einem Jahrzehnt. Damit ist das mein 41. freier Tag. Ich ließ Papier und Stift von der Inventurzählung mitgehen. Ich habe erfahren, dass ich seit meiner Geburt hier bin und auf künstliche Art zur Welt kam. Jedes Kind beginnt mit zehn Jahren hier zu arbeiten. Für die jüngeren gab es Erziehungsräume, welche aber mittlerweile umfunktioniert worden sind, da die Arbeiter seit kurzem lediglich geklont werden, deren Entwicklung wesentlich kürzer und einfacher zu sein scheint. Man trimmt uns alle von Anfang an auf die zu verrichtende Arbeit, bis wir gereift sind. Ich habe stets vermieden, mich zu isolieren und in mich zu kehren, wo ich dann langsam verfaulen würde. Ich hatte immer ein waches Auge und ein spitzes Ohr. Außerdem hatte ich es unter größtem Risiko geschafft, mich mit einem älteren Arbeiter auszutauschen. Ich sah ihn nie wieder. Wir stellen diese ganzen elektronischen Geräte für die reichsten Menschen her, die die Erde längst verlassen haben. Wir sind zum Produzenten unserer Versklavung geworden. Unterworfene unseres Produkts. Wir hätten es aufhalten können. Es entwickelte sich langsam zu einer Abhängigkeit und schnell zu einer Sucht. Es sollte unser Leben vereinfachen, aber nicht übernehmen. Schon damals wusste man, wohin der übermäßige Konsum führen würde: durch Filme, Musik, Fernsehen, Philosophen und Schriftsteller und so weiter. Aber wir waren blind. Wir hatten die Medien hingenommen, als dienten sie zur Unterhaltung und zum Amüsement. Und wir waren dumm und unvernünftig, nicht zu verstehen, dass es gar nicht so entfernt von der Wahrheit gewesen war. Oder sie wollten es nicht glauben, es nicht einsehen. Die Ignoranz und Sturheit ist ohnehin eine Eigenschaft oder Angewohnheit des Menschen, die er leichter ablegen könnte, als er denkt. Sie war schon immer die Schaufel gewesen, mit der sich der Mensch eines Tages sein Grab hätte ausheben müssen. Vielleicht hatte er bereits vor langer Zeit damit begonnen. Das Grab wurde tiefer und tiefer. Es war nur noch etwas oder jemand nötig gewesen, der den blinden und benommenen Menschen in sein Grab stieße. Diese Pille macht den Menschen benommen, dieses Ecgonin infinite.
Trotz meines freien Tages müsse ich diese abscheuliche Pille einnehmen, die einem das Bewusstsein raubt. Die Stimme sagt, es sei besser für die Produktivität. Jeden Tag kontrollieren die Roboter bei jedem Arbeiter mit Scannern, ob man die Pille genommen hat. Danach geht es sofort an die Arbeit. Es führt eigentlich kein Weg daran vorbei, die Pille nicht zu sich zu nehmen. Jedoch habe ich ihre volle Wirkung seit etwa acht Monaten nicht mehr erlebt. Jeden Tag nach dem Scan stecke ich mir zwei Finger so tief in den Rachen, bis ich würge und anschließend die Pille erbreche. Diese verstecke ich dann in einem Spalt in der Wand hinter meinem Schrank. Ich schätze, es wäre zu gefährlich, die Pillen in den Abfluss eines komplett überwachten Gebäudes zu schmeißen.
Ständig wird die ruhige und friedliche Musik von emotionslosen Ansprachen aus den Lautsprechern unterbrochen. Allein der Satz „We love PFc Company and you love it, too!“ wird alle fünfzehn Minuten in der selben unnatürlichen, monotonen Stimmlage wiederholt. Jeden Tag wird ausschließlich gearbeitet und jeder, der frei hat, muss in seinem Zimmer verbleiben. In jedem Zimmer steht ein Fernseher, der aber nur Programme mit der PFc Company und unterschwelligen Botschaften zeigt.
Gestern erst gab es wieder einen Ausreißer, der einfach durchgedreht ist und sich quer durch die Fabrik gekämpft hat. Das passiert öfters. Sie seien eine unerwünschte Nebenwirkung des Ecgonin infinite, proklamiert die Stimme am nächsten Tag. Allerdings stellen sich diese Ausreißer oder Outsider, wie sie von den Sicherheitsrobotern genannt werden, viel zu dämlich an, um etwas zu erreichen. Ohne Plan und ohne Ziel. Sie drehen plötzlich einfach am Rad.
Ich bin nicht so. Ich weiß, was ich tue. Das ist mein Vorteil, was mich von allen anderen hier unterscheidet. Ich bin diesbezüglich sowieso nicht sicher, ob ich der einzige Mensch bin. Ich bin umgeben von Klonen und Drogen konsumierenden Menschen. Kann man diejenigen, die durch den Einfluss einer Pille täglich und langfristig ihren Verstand verlieren, als Menschen bezeichnen. Ist es das? Das rationale Denken, die Vernunft, das volle Bewusstsein seiner selbst? Ist es das, was den Menschen zum Menschen macht oder ist es seine leicht kopierbare Anatomie? Oder ist die Individualität ein Trugbild? Eine Illusion, eine Fata Morgana, die man sieht, aber nie erreichen kann? Ich fürchte um den Wahrheitsgehalt dieser Fragen. Aber mir scheint es, als stecke in allen ein wahrer zutreffender Kern. Es kommt mir alles dennoch so willkürlich vor. Alles so unerreichbar! Ich muss fliehen. Weg von all dem!
Jeder Tag ist derselbe. Jede fleischige Mahlzeit gleicht der sonderbar schmeckenden vom Vortag. Jede Nacht verschwinden Arbeiter und am nächsten Morgen stehen frische, junge, neue in diesen Zimmern bereit. Ich will gar nicht wissen, was mit ihnen passiert. Ich muss hier raus. Ich warte, bis jemand wieder durchdreht und nutze die Gelegenheit zu fliehen. Ich habe mir alles genau angesehen. Der verbotene Osttrakt ist die wahrscheinlich beste Hoffnung einen Ausgang zu finden. Durch den letzten Durchgeknallten mussten dort neue Wartungsarbeiten an mehreren Luftschächten veranlasst werden, die womöglich bis zu drei Monate dauern könnten. Es wäre ein verfluchtes Schicksal, wenn bis dahin keinem die Sicherungen durchbrennen.
Ich werde mich erst wieder melden, wenn ich es erfolgreich geschafft habe.
Naren-Jiang Shi