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Ebbe und Flut
Der Süden Schottlands mag zum Verweilen einladen. Ob das auch für meine Heimatstadt gilt, wage ich zu bezweifeln, lehrte mich Stranraer in meinen zwanzig Lebensjahren doch eines Besseren. Nun stehe ich zwar nicht in Kontakt zu den Bewohnern und darf mir deshalb nur schwerlich ein Urteil erlauben. Dennoch befürchte ich, dass hier lediglich diejenigen wohnen, die bereits angekommen sind oder sich gar nicht erst auf die Suche gemacht haben. Ich kenne niemanden, mit dem ich mich über meine kulturellen Interessen austauschen könnte. Ebenso wenig kann ich mir die depressiven, mitunter schon suizidalen Gedanken von der Seele reden. Dass es kein Theater gibt, - geschenkt. Der Therapeut hingegen fehlt mir sehr. Gleiches gilt für das Arbeitsamt. Es scheint niemanden zu interessieren, was ich getrieben habe, seit ich vor fünf Jahren von der Schule abgegangen bin. Nichts, außer meinen Niedergang voranzutreiben. Und zum Bahnhof zu gehen.
Die eintreffenden Züge interessieren mich nicht. Ich glaube, es sind zwei pro Tag. Endstation Tristesse. Wer Stranraer verlassen möchte, ist auf den Zug angewiesen, der stets um 12:50 Uhr gen Glasgow aufbricht. Mit Ausnahme des Ruhetages, den der Fahrer wohl im Kreise seiner Liebsten verbringt.
An jedem dieser sechs Tage stehe ich dort und wünsche mir nichts sehnlicher, als meinen Willen in die Tat umzusetzen. Ich möchte einsteigen. Seit nunmehr zwei Jahren scheitere ich an dem Versuch, mein altes Leben aufzugeben. Nichts hält mich hier, und obwohl die Luft Stranraers klarer ist als die in Glasgow, so sagt man, schnürt mir jeder weitere Atemzug die Kehle zu.
Die Landstraße, die von dem Fährhafen nach Stranraer führt, verliert mit den ersten Reihenhäusern das Hoffnungsvolle. Die Fassade meines Hauses ist grauer als die Straße selbst. Die triste Atmosphäre steigert sich mit jedem Schritt in Richtung Stadtleben. "Leben". Die Steinplattform am Meer ist davon ausgenommen. Ich schreite die Stufen hinab, um dort zu pausieren, wenn ich ernüchtert vom Bahnhof zurückkehre. Ich setze mich, warte, bis die Ebbe einsetzt - für gewöhnlich dauert das drei Stunden -, hebe einen rötlichen Stein auf und kratze damit meinen Wunsch in den Beton.
Trüge mich die Flut doch bloß auf das offene Meer. Raus aus dem falschen Schutz, den diese Bucht bietet. Stranraer ist mein Hafen, an dem ich zwar sicher bin, jedoch Tag für Tag mehr einroste, um schließlich unterzugehen.
Es ist mir nicht möglich, mein tägliches Pensum abzuspulen. An meinem Stammplatz sitzt ein junger Mann; ein großer Wanderrucksack verdeckt seinen Rücken. Offenbar ein Ledertourist.
Da ich sein Gesicht nicht sehe, ist es wohl der Lebensstil, den ich bewundere. Ich fühle mich von ihm angezogen. Das rotschwarze Holzfällerhemd fängt die Strahlen der Sonne auf. Der Wind wirbelt das karierte Oberteil einige Zentimeter nach oben, sodass im Hüftbereich blanke Haut zum Vorschein kommt, von der ich meinen Blick erst abwenden kann, als der Geruch des Mannes die Treppe hinaufgeweht wird. Er riecht nach grenzenloser Freiheit, samt einer Prise Geborgenheit.
Ich möchte ihm Gesellschaft leisten, fragen, ob er die Versprechen seiner Duftnote halten kann. Seine Präsenz noch intensiver zu spüren, wäre befriedigend genug und Schweigen folglich angenehmer. Zumindest vorerst.
Aber was soll er mit einem gebrochenen Mädchen wie mir? Ballast. Genauso gut könnte er sein Gepäck mit Steinen füllen. Nicht die bunten Geschenke des Meeres, eher Ziegelsteine.
Wie es scheint, kann man auch in Stranraer zwei Züge an einem Tag verpassen.
Wenn ich scheitere, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und dann nach Hause komme, fühlt es sich an, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet. Dunkel ist es immer, nun umgibt mich ein pechschwarzer Mantel.
An Glasgow werde ich mir morgen erneut die Zähne ausbeißen, aber was ist mit dem Mann vom Ufer? Mittlerweile dürfte das Meer dem Watt gewichen sein. Was er wohl mit den farbenfrohen Steinen verbindet?
Bis ich endlich einschlafe, vergehen Stunden. Ich versuche, mich in eine andere Welt zu träumen, und ende bei dem Wunsch, nicht wieder aufzuwachen. Fern von jeglichen Träumen.
Eine knappe halbe Stunde, nachdem die Uhr meines verstorbenen Vaters zwölfmal geschlagen hat, erreiche ich den Tiefpunkt meiner Feigheit. Obwohl mich Beine, Herz und Hirn zur rechten Seite der Straße ziehen, von welcher ich auf den Platz sehen könnte, an dem der Mann von gestern saß, ist es mir unmöglich, das Kopfsteinpflaster zu überqueren.
Vater, den ich nur bei seinem Namen nennen durfte, würde sich im Grab umdrehen, sähe er, was aus mir geworden ist. Sofern Ryan denn je etwas für mich empfunden hat. Wahrscheinlich selbst dann nicht. Nach sechs Jahren, neun Monaten und einundzwanzig Tagen dürfte nicht mehr allzu viel von ihm übrig sein. Seine Überreste teilen sich den Sarg mit grenzenloser Leere. Welch Sinnbild meines Inneren.
Natürlich bin ich auch heute nicht eingestiegen. Alte Männer und junge Mädchen – niemand ziert sich, nach Glasgow zu fahren. Möglicherweise steigen sie in Ayr aus, vielleicht verfolgt keiner die Intention, ein neues Leben zu beginnen, doch im Gegensatz zu mir, lassen sie Stranraer hinter sich. Ob kurz- oder langfristig, sei dahingestellt. Ein jeder von ihnen lässt mehr zurück, als ich je besessen habe.
Ich möchte auf den linken Bürgersteig wechseln, sehe mich aber nicht in der Lage dazu. Trotz der Straße, die zwischen uns liegt, dringen peitschende Wellenschläge in mein Ohr. Eines Tages hat ein gelbschwarzes Schild davor gewarnt, dass Brecher dieser Art ganz unerwartet eintreten können, beispielsweise wenn große Schiffe die Bucht verlassen. Ebenso kann der Wind das Salz in die Höhe schnellen lassen.
Eine Böe trägt den lieblichen Geruch des Mannes erneut zu mir. Er duftet nach Leben.
Erst als es windstill wird, kann ich mich von der Wurzel lösen, die meine Beine umschlingt. Ich gehe. Ich schlurfe. Ich krieche. Nach Hause.
Weder hat Alkohol eine wärmende Wirkung, noch lässt er mich vergessen. Sich Mut antrinken? Funktioniert nicht. Ich trinke um des Trinkens Willen, wobei das ziemlich paradox ist, da ich keinen Gefallen an dem Konsum finde. Jeder Schluck schwächt meine geschundenen Lebensgeister.
Sollte das bloß ein Traum gewesen sein, wird dieser meinem eigenen Bild von mir gerecht. Geschah Folgendes tatsächlich, wäre mein Verhalten keine allzu große Überraschung.
Ich saß auf der schmalen Mauer, die Straße und Steinplattform voneinander trennt. Es dämmerte bereits. Ich schloss die Augen und wähnte mich neben ihm.
Mein Kopf lag auf seinem Schoß, seine Lippen flüsterten meiner Seele neues Leben ein, und er versprach, mir die Welt zu zeigen; unwissend, dass ich ihn bereits zu meinem Universum erklärt hatte, denn noch bevor das ausgesprochen werden konnte, stürzte ich.
Keine Ahnung, ob er sich umgedreht hat. Scham, die lauter als mein Aufschrei war, nahm meine Beine in die Hand und binnen weniger Sekunden stolperte ich die Treppe hoch und verschwand aus seinem möglichen Blickfeld.
Den blauen Flecken zufolge fand dieses Trauerspiel statt. Die Schmach dröhnt schlimmer als mein Kopf.
Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Womöglich ist das gut so, denn all die Produkte meiner bisherigen Überlegungen waren zum Scheitern verurteilt.
Im wahrsten Sinne des Wortes lasse ich den Bahnhof links liegen, steige die Treppe hinab, setze mich mit einem gewissen Abstand neben den Mann, und der laute Pfeifton verrät mir, dass ich niemals in Glasgow ankommen werde. Ohne Groll nehme ich das zur Kenntnis.
Als die Ebbe einsetzt, gute dreieinhalb Stunden später, riskiere ich den ersten Blick zur linken Seite. Ist das ein Lächeln? Er sieht ziemlich dünn aus. Beinahe abgemagert, aber glücklich. Zufrieden. Als wüsste er, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Ich versuche, das Lächeln meines Herzens zu visualisieren. Keine Reaktion. Eine stotternde Begrüßung erfordert meinen ganzen Mut. Keine Reaktion. Ich taste mich in seine Richtung vor, greife nach der dürren Hand, und obwohl sie mich wärmt, spüre ich ihre Kälte. Ich halte seine Hand noch eine Weile.
Die Ebbe lässt es zu, bis zum Ende der offenen Bucht zu gehen. Dort warte ich auf die Flut.