dutch connection
Nadine fragte sich, wann Tom sie endlich richtig küssen wollte. Mit größerer Betonung auf richtig als auf endlich, denn ein paar Küsschen unter Kollegen hatte sie schon bekommen, zugegebenerweise vielversprechende. Und als das Telefon klingelte, jetzt um Drei in der Früh, fragte sie sich, ob sie sich ärgern oder beunruhigt sein sollte. Sie betrachtete Tom, wie er den Hörer abhob und versuchte unauffällig zu lauschen. Ihm schien es nichts auszumachen, er lächelte sie an, schnitt sogar eine kleine Grimasse. Er erschien ihr zu entspannt. Was hatte er zu verbergen, viel mehr wen versuchte er vor ihr zu verheimlichen? Später würde sie auf einer Erklärung bestehen. Betont laut wiederholte er nun, was am anderen Ende gesprochen wurde: "Abholen? Jetzt, mitten in der Nacht?“ Er schien empört, doch hatte er seine Autoschlüssel schneller parat, als Nadine glauben wollte. Ihr gefiel die Wendung des Gesprächs, eigentlich des Abends gar nicht mehr. Wenn sie Pech hatte, musste sie mit ihm zusammen die Wohnung verlassen. Aber was am schlimmsten war, sie hatte die Stimme der Anruferin erkannt.
Was hatte sie dafür getan, um einmal mit ihm allein zu sein, nur ein einziges Mal. Ein bisschen schämte sie sich, wenn sie an den zurückliegenden Abend dachte , an die Agenturparty und an das, was sie später mit ihrer Kollegin Sindy gemacht hatte. Vielleicht war sie zu weit gegangen. Und nun hatte ausgerechnet Sindy angerufen, was für ein böser Zufall.
Tom drängte sich an ihr vorbei :, „Bis nachher Süße. Hol nur mal eben eine gute Freundin ab, der übel mitgespielt wurde.“ Wieder zwei Dinge in einem Satz, die sie nervös machten, der zärtliche Unterton, als er doch tatsächlich ganz beiläufig Süße sagte und Sindy als gute Freundin bezeichnete. Sie wusste gar nicht, dass die beiden sich näher kannten. Und Tom ahnte nicht, wie gut sie Sindy kannte. Wenn er nur wüsste, was sie getan hatte. Dass sie etwas damit zu tun hatte, dass er zu einer verlassenen U-Bahn-Haltestelle fahren musste, siebzig Kilometer entfernt. Würde er sie noch gern haben? Nadine sah Sindy vor sich. Wie immer äußerst knapp angezogen. Nur machte ihr Outfit am jetzigen Ort ihrer wohl zunehmenden Verzweiflung keinen besonderen Sinn. Wie war sie überhaupt dort hingekommen? Vielleicht hatten die beiden Holländer etwas damit zu tun gehabt.
Sie hatte mit den beiden neuen Geschäftspartnern nach der Party nicht ausgehen wollen, zu verheißungsvoll war die seltene Gelegenheit gewesen mit Tom allein sein zu können. Da war es ihr Recht gewesen, dass Sindy sich mehr als bereit erklärt hatte, mit Maarten und Claas, so hieß das holländische Doppelpack die Stadt zu erkunden. Nadine sah, wie Sindy in den etwas protzigen, aber sicherlich schon sechs Jahre alten Wagen steigen wollte, ein schwieriges Unterfangen mit ihrem winzigen Rock. Verwegen hatte sie Nadine angelächelt, und einen tiefen, vielleicht doch nur versehentlichen Schlüpferblitzer vollführt, der Nadine gleichzeitig fasziniert und zum Wegschauen gezwungen hatte. Ohne zurückzuwinken, war sie auf die Agenturparty zurückgekehrt und hatte gehofft, Tom für sich zu haben. Sindy, die sich ein wenig zu sehr um ihn bemüht hatte, war sie zumindest los geworden.
Los geworden. Toms besorgtes Gesicht hatte vorhin so ausgesehen, als hätte dies fast gründlicher geklappt, als gewollt. Nadine spürte eine unterschwellige Angst. Sie sah Sindy mit verschmutzten Kleidern vor sich, weinend, verzweifelt, vielleicht sogar verletzt und langsam fing sie an, sich zu schämen. Tom hatte große Mühe gehabt, herauszufinden, wo Sindy eigentlich war. Und Nadine fragte sich, wie viel die Holländer damit zu tun hatten und eigentlich meinte sie damit sich, denn immerhin hatte sie Sindy zu dem nächtlichen Ausflug überredet und ihr die kleine, aber im Nachhinein doch entscheidende Begebenheit verschwiegen. Ein kleines Detail. Unbedeutend auf den ersten Blick, aber sie hätte Sindy warnen müssen, ein kleiner Hinweis für alle Fälle und so geschah es ihr eigentlich recht, dass ihr schlechtes Gewissen immer stärker an ihr nagte und sogar ihre größte Sorge verdrängte, was Sindy Tom auf ihrer gemeinsamen Rückfahrt alles erzählen könnte, über sie, Nadine die Verräterin.
Als Tom Stunden später mit einer völlig durchnässten Sindy zurückkehrte, überredete er sie, erst einmal heiß zu duschen. Nadine schaffte es nicht, Sindy aus dem Weg zu gehen, zu klein war das Appartement und wenn sie es wirklich gewollt hätte, hätte sie schon vorher heimlich gehen müssen. Aber sie wollte auf Tom warten und ein Teil von ihr war neugierig, wie Sindy jetzt aussah, als würde das etwas über ihre letzten Stunden verraten.
„Warum hast du mich nicht gewarnt?“ Sindy hatte noch immer ihr übliches Sindylächeln im Gesicht, aber an ihrem verdunkelten Blick erkannte Nadine, dass sie in Kampfstimmung war. Sie wirkte jetzt, wo sie in der Sicherheit von Toms Wohnung war, nicht mehr verzweifelt, sondern nur noch wütend. „Was hätte ich dir sagen sollen?", fing Nadine an sich zu verteidigen, dabei hatte sie sich eigentlich entschuldigen wollen.
„Wie konntest du mich nur in solch eine Falle locken!“, prasselte schon der nächste Vorwurf auf sie ein, als Tom kam, etwas zu fürsorglich seinen Arm um Sindys Schultern legte und sie ins Bad führte. Nadine fragte sich, auf wessen Seite Tom stand, ob er sie, Nadine, vor weiteren Anschuldigungen schützen wollte oder ob er Sindy trösten wollte. Und was er mit ihr im Bad vor hatte. Sollte sie eine heiße Dusche nehmen? Aber das konnte sie doch auch allein.
Nadine wartete im Wohnzimmer auf die beiden, dabei hätte sie sich am liebsten vor der Badtür postiert, spätestens dann, als die beiden auch nach einer halben Stunde noch nicht aus dem Bad gekommen waren. Sie wusste nicht, was sie tun sollte: Verschwinden, Anklopfen, vielleicht eine Tasse Kakao kochen, wenn Tom so etwas überhaupt zu Hause hatte. Auf jeden Fall wusste sie nicht, was schlimmer war: die Ungewissheit, was mit Sindy passiert war oder was sie Tom erzählt hatte - oder gerade erzählte.