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Durchzogen von flüssigem Licht
Die Vase stand nicht richtig.
Sie stand niemals richtig. Die Abstände passten nicht. Dolores stand auf und ging langsam auf das auf einem runden, niedrigen Holztisch stehende Gefäß zu und rückte es wenige Millimeter nach rechts und noch weniger nach hinten bis sie glaubte, eine gewisse Harmonie der Positionen zu den anderen Objekten auf dem Tisch erreicht zu haben. Zufrieden schmunzelte sie daraufhin über die neu erzeugte Ordnung und trat wieder ein paar Schritte zurück. Jetzt ist es perfekt!
Sie wusste nicht genau, wieviel Zeit sie nun schon mit dem ewigen Zurechtrücken zugebracht hatte. Es müssen wohl eineinhalb oder zwei Stunden gewesen sein. Irgend sowas. Zunächst passte immer alles wunderbar. Die Vase, die Packung Streichhölzer - einen Spalt geöffnet -, das halbleere, runde Glas Kiwi-Marmelade und die große Kaffeetasse, noch mit ein wenig Kaffee gefüllt, schon längst kalt. Manchmal überlegte sie, irgendeinen Gegenstand wegzunehmen. Das tat sie auch hier und da mal, nur um zu sehen, ob es dadurch einfacher werden würde. Oder perfekter.
Zehn Minuten. Maximal. Nicht länger hielt die Ruhe an. Wenn sie sich von dem Tisch abwandt und kurz woanders war, vielleicht in der Küche oder im Bad, veränderten sich die Gegenstände. Das heißt, ihre Position auf dem Tisch veränderte sich. Ihre Form blieb bis jetzt noch dieselbe. Bis jetzt.
Sie wusste natürlich, woran das alles lag. Sie wusste es schon so lange. Es war das Licht! Das Licht schlug Wellen in ihrem kleinen, kargen wie schrecklich dunklen Wohnzimmer. Sie konnte nichts dagegen tun. So sehr sie es auch versuchte.
Eigentlich konnte man kaum die Hand vor Augen sehen, in diesem kleinen Raum. Dolores hatte den Dimmer des Raumes ständig auf ein Minimum gedreht. Dadurch flackerte das schwache Licht der Kerzenbirnen immer wieder kurz auf als wenn es sich dagegen wehren wollte, in seiner Freiheit so eingeschränkt zu werden. Sie hatte Angst. Vor dem Licht. Es schlug Wellen.
"Klar, andere haben kein Problem damit!", dachte sie immer wieder. "Bei allen Menschen, die ich kenne, verhält sich das Licht harmonisch zu ihnen!", hatte sie den anderen immer wieder erklärt. "Lange Zeit war das ja auch bei mir so."
"Aber... es war vor ein einigen Monaten, ich weiß nicht mehr genau wann, da stimmte plötzlich irgendetwas nicht mehr. Alle Gegenstände um mich herum schienen sich mit einem Male wie von selbst verrücken oder verschieben zu können. Anfangs waren es nur sehr leichte Objekte wie etwa zu Tisch gefallene Blütenblätter von meinen Blumen. Wissen Sie, ich habe immer gerne Blumen zu Hause! Sie sehen so schön aus und sie schenken mir Freude! Leider gehen sie immer sehr schnell ein, da sie so wenig Licht bekommen. Sie sterben so schnell." Sie neigte ihren Kopf leicht nach unten und machte eine nachdenkliche Miene.
"Aber das verdammte Licht!! Hören Sie?" Sie schrie plötzlich ihr Gegenüber, einen jungen Mann, auf einem dreibeinigen Hocker aufrecht sitzend und ihr aufmerksam und ruhig zuhörend, an: "Es ist, als wär' ich verflucht oder so was! Ich weiß, dass das Blödsinn ist. Alles Blödsinn, klar! Ha! Für Sie schon! Sicher! Sie kennen das ja auch nicht! Sie wissen eben gar nichts! Sie sind ja auch blind! Völlig blind! Wie alle anderen! Ihr kennt nicht die schieren Gewalten, welche in den Strömen des Lichtes enthalten sind. Bei euch heben sich die Gewalten des Lichtes, welche euch ständig umzingeln, kontinuierlich gegenseitig völlig auf! Verstehen Sie? Das Licht kommt von, sagen wir, von Ihrer rechten Schulter aus und zieht an Ihnen nach links vorrüber. Eigentlich würden Sie jetzt natürlich durch die Druckwelle nach links umfallen. Oder zumindestens leicht zur linken Seite kippen. Wie ein Stehaufmännchen würden Sie sich dann aber wieder schnell aufrichten." Sie lächelte kurz bei dem Gedanken, wie komisch das wohl auf jemand unvorbereiteten wie ihn wirken müsste.
"Aber, wissen Sie... mhmmm... dumme Frage eigentlich... natürlich wissen Sie das! Das Licht, es ist ja so schnell! Sobald es dann an der anderen Wand reflektiert wird, strömen die Wellen wiederum gegen Sie. Und zwar so rasend schnell, dass Sie das Ungleichgewicht überhaupt nicht spüren! Kein bisschen! Es steht eben alles im Gleichgewicht. Das Licht kommt praktisch von allen Seiten gleich schnell. Und sie merken nichts davon."
Der junge Mann, der ihr ruhig gegenüber saß, räusperte sich kurz, denn er war sich unsicher darüber, ob er nicht einen Frosch im Hals hätte, wenn er jetzt wieder zum Reden anfinge. " Und wie funktioniert das, wenn man sich nicht in einem geschlossenen Raum, sondern im Freien befindet?"
"Oh, das ist einfach! Licht kommt doch von allen Seiten. Und es wird überall reflektiert. Es ist immer ein Ausgleich da. Ständig."
"Nun ja, aber angenommen ich würde nun in einer Nacht, wenn es also dunkel ist und höchstens die Sterne und vielleicht noch der Mond die Erde beleuchten, jemanden oder etwas mit einer Taschenlampe anleuchten. Dann müsste ich diesem Menschen doch entweder Schmerzen zufügen können oder aber einen Gegenstand mehr oder weniger verschieben können. Richtig?"
Dolores wurde nervös. Sie sah dem Mann nicht mehr in die Augen. Aber sie sah ihn ohnehin kaum. Es war viel zu dunkel und er erschien ihr nur in grauen Umrissen. Plötzlich setzte sie zu einem ausgedehnten, konfusen Monolog an, während sie unentwegt aber gleichmäßig auf ihrem Sessel ein wenig nach vorn und nach hinten wippte: "Wir sind alle umflossen von Licht. Das Licht umfließt uns und alles befindet sich in Harmonie. Alles ist ausgeglichen. Alles ist so ausgeglichen, dass ihr die aufkommende Unruhe noch nicht spüren könnt. Das Licht beginnt, Wellen zu schlagen. Noch sind diese ganz sachte. Sicher, man benötigt schon ein gewisses Feingefühl, eine Sensibilität, um die Nuancen ertasten zu können. Aber ich weiß, ich weiß es: Die Harmonie wird immer weiter vergehen und Dissonanzen werden zunehmen, verstehen Sie?" Sie vergewisserte sich der Aufmerksamkeit ihres stillen Zuhörers indem sie ihm einen kurzen Blick zuwarf.
"Das Licht wird Wellen schlagen und irgendwann werdet auch ihr es sehen, weil es nicht mehr zu übersehen sein wird. Es wird sein, als befände man sich ständig unter Wasser während man unentwegt vom allgegenwärtigen Licht umflossen wird. Wenn man den Mund öffnet wird man von den Wellen des Lichts durchflossen und man wird die Stöße spüren, die es gegen das Innere eines jeden ausüben wird. Es wird Verdichtungen wie Verdünnungen der Lichtwellen mitten in der Luft geben und die Dinge werden mal heller mal dunkler erscheinen. Die Frequenz wird immer weiter abnehmen und man wird immer länger warten müssen, bis die Lichtintensität wieder wechselt..." Sie wurde wieder stumm und hing ihren Gedanken nach.
Der Wärter sah nun auf seine Armbanduhr. Er zog kurz ein wenig überrascht die Augenbrauen nach oben und machte sich daran, aufzustehen. Dolores registrierte seine Bewegungen kaum. Es war ihr auch egal. Soll er doch wieder gehen. So wie jedesmal. Er konnte ja auch nichts dafür. Welche Schuld sollte sie ihm geben können? Wie kann man Blinden zum Sehen verhelfen?
Aber die Zeit, dessen war sie sich gewiss, arbeitete für sie. Und eines Tages würde es für jeden nur allzu offensichtlich werden: Die Gleichförmigkeit der Natur war ins Wanken geraten. Der zunehmend degenerierende Charakter des Lichts war nur der Anfang.
Der junge Wärter verabschiedete sich freundlich von Dolores, schritt langsam zur Zellentür, öffnete diese leise, warf noch einmal schnell einen Blick zu ihr zurück - durch das Grau in Grau ihres spärlich möblierten Wohnzimmers - hielt nun doch noch mal kurz inne, als wollte er noch irgendetwas sagen. Dann lies er es schließlich aber doch bleiben, schritt hinaus und schloss die massiv wirkende Holztür mit dem einzelnen verdunkelbaren Plexiglasfenster in der Mitte. Und Dolores war wieder sich selbst überlassen...