Durchhaltevermögen
Die Story würde mir einen Benz einbringen. Ach was, einen Rolls. Sicher musste ich sie zuerst bei einem kleinen Verlag unterbringen, weil die meisten großen mich schon gebeten haben, ihnen um Himmels willen NICHTS mehr zuzuschicken. Ich nehme an, mein Name hängt in großen roten Lettern in ihren Briefzentralen, mit einem Pfeil daneben, der auf einen Korb zeigt, der einmal die Woche vom Hausmeister geleert wird. Aber wenn ich sie bei einem kleinen Verlag unterbringen konnte, dann würde sie sicher früher oder später jemandem begegnen, der Augen hatte zu sehen.
„Jo“, sagte eine Stimme hinter mir, „ich muss mal mit dir reden.“
„Sei mal ruhig“, sagte ich und scrollte den Text am Monitor rauf und runter, um nach Rechtschreibfehlern zu suchen. Unsystematisch, aber so mache ich es halt.
„Jocki“, ließ die Stimme sich wieder hören, und diesmal hörte ich einen gereizten Unterton darin.
„Antef“, sagte ich, „du gehst mir auf den Wecker, wirklich. Lass mich mal fünf Minuten in Ruhe.“ Ich langte nach dem Wörterbuch, um herauszukriegen, ob ich seit der Rechtschreibreform Majonnähse oder Mayoneese schreiben musste.
Diese Story war der Wendepunkt meines Lebens. Selten hatte ich ein so gutes Plot zusammenbekommen. Nur Greg und Sally und das, was sie taten. Ganz schlicht. Aber tragisch. Das würde alle tief berühren. Mich berührte es jedenfalls. Ich musste jedesmal heulen, wenn ich daran dachte, wie übel man ihnen mitspielte. Scheiß Welt!
„Hat Ihre Geschichte autobiografische Züge?“ ließ ich meinen imaginären Interviewer fragen und lehnte mich genüsslich in dem bequemen imaginären Studiosessel zurück.
„Nun“, begann ich, „zweifelsohne...“
„Jochen, mir reicht es jetzt gleich“, sagte Antef, und diesmal war er sauer. „Ich hab nicht ewig Zeit. Es gibt etwas, worüber wir reden müssen.“ Ich drehte mich um. Er wies mit der Hand auf das hässliche kaputte Ding in der Zimmerecke.
„Ich kümmere mich schon drum“, sagte ich. „Ich räume es weg, ich verkauf es, ich schenk’s dir. Du kannst es haben. Nimm es mit.“
„Du kapierst überhaupt nix“, sagte Antef. Es war eine nüchterne Feststellung. „Du kapierst rein garnix.“
Ich stand auf, krumm und lahm von der langen Sitzung, die ich hinter mir hatte; es war nicht leicht gewesen, Greg und Sally den letzten Schliff zu verpassen.
„Hör mal“, begann ich, „du kannst dich ein bisschen nützlich machen und mir einen Kaffee kochen, ja? Aber sieh mal, ich bin jetzt endlich mit dieser Geschichte fertig geworden und muss sie noch einmal durchgehen. Ich bin müde, und ich habe Kopfweh.“
Antef schnaufte. „Kopfweh“, murmelte er und schüttelte den Kopf. „Nicht zu fassen.“
„Also sei so gut und sei ein lieber Freund, ja? Geh und mach Kaffee.“
„Du brauchst jetzt keinen Kaffee“, sagte Antef, „du brauchst was ganz anderes.“
Wo zum Teufel hatte ich diesen Kerl nur aufgegabelt? Ich war so durcheinander wegen meiner Story, dass ich mich für einen Augenblick nicht daran erinnern konnte. Seine Haut war schwarz wie die Mitternacht, und er trug nur weiße Klamotten. Das sah apart aus. Aber im Augenblick wäre ich froh gewesen, wenn er mir seinen ganzen aparten Anblick erspart hätte.
„Du kannst nicht ewig so weitermachen“, begann Antef seine Litanei von vorn. „Immer nur die Geschichte und wieder die Geschichte. Du bist ja wie besessen. Du kannst nicht alles andere liegenlassen.“
„Wenn du den Krempel da in der Ecke meinst“, erwiderte ich, „dann ist es mein Ernst, was ich gesagt habe. Kümmere du dich doch darum, wenn du das so wichtig findest.“
Ich rief mein Adressverzeichnis auf und suchte nach Verlagsadressen, die ich noch nicht mit dem „gesperrt“-Merkmal versehen hatte. Hm. Im Grunde passten die alle nicht besonders gut; der Stoff war zu literarisch, zu zeitgemäß, zu nah am Puls der Zeit, um ihn an einen Krauter zu verschwenden.
„Du kannst von mir aus hier verschimmeln“, sagte mein Freund Antef, drehte sich um und verschwand. Ich beglückwünschte mich dazu. Es gab noch einen Haken im Plot, den ich für cool gehalten hatte, aber möglicherweise machte er die Story zu eckig und gab einem Redakteur oder Lektor, der sie nur obenhin las (und das waren so ziemlich alle) einen Vorwand, sie zurückzuweisen. Sollte ich das Risiko eingehen? Sollte ich die Story umschreiben?
Ich raufte mir die Haare und verbrachte eine unbestimmte Zeit damit, im Zimmer hin und her zu laufen. Es war ganz schön stickig geworden hier drin. Mittlerweile war es wieder hell. Ich erinnerte mich, dass es dunkel war, als ich den Absatz bearbeitete, in dem Greg Sally sagte, dass es keinen Zweck hatte, weiter in der Stadt zu bleiben, da sie dort von der Spießigkeit aufgefressen werden würden. Mein Zeitgefühl hatte gelitten. Ich sah auf die Uhr; es war halb zwölf mittags.
Hab keinen Hunger“, murmelte ich zu mir selbst. Ich hatte nicht mal Durst. War die Euphorie. Wahrscheinlich war ich so voll mit Endorphinen, dass Godzilla mir ein Bein bis zum Knie hätte abkauen können, ohne dass ich es gemerkt hätte. Machen verdammte Kopfschmerzen, die Endorphine. Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht gewesen.
Ach, und ich fühlte mich müde. So müde, ich hätte schlafen können. Ich traute mich aber nicht zu schlafen, weil das hässliche Scheißding in der Ecke irgendwie unheimlich war. Ich konnte nicht in seiner Nähe schlafen, und es wäre riesig nett von Antef gewesen, es mitzunehmen. Was war das überhaupt für ein bekloppter Name, Antef?
Ich ging in die Küche, unschlüssig, ob ich einen Kaffee kochen sollte oder nicht. Mir war nie aufgefallen, was für ein hübsches Muster auf meine Kaffeedose aufgedruckt war. Es war ein Muster aus Arabesken, die irgendjemand entworfen und gezeichnet haben musste. Die üppige Zeichnung, die das Blech der Dose umspann, überwucherte, umfloss, nahm mir schier den Atem. Die Farben leuchteten festlich, majestätisch, blaugolden wie ein Hendrix-Song in seinen feierlichsten Momenten. Mir wurde schwindlig, und ich wankte zurück ins Wohnzimmer, wo ich mich matt und mit Beinen, die wie Götterspeise zitterten, auf das Sofa fallen ließ.
Es war mittlerweile wieder dunkel. Ich machte kein Licht. Ich schlief nicht. Ich lag nur da und starrte in die Dunkelheit, und alles war schwarz und still, und nur das hässliche Ding und ich waren da und teilten die Zeitlosigkeit miteinander.
Irgendwann stand ich wieder auf und setzte mich an den Rechner, dessen leises Summen im Laufe der Jahre ein Teil von mir geworden war wie mein Herzschlag oder das Ein- und Ausströmen meines Atems. Ich würde jetzt nicht diesen Haken in meiner Story glätten - man kann es schließlich nicht jedem recht machen - aber ich begann damit, in groben Umrissen eine Idee zu skizzieren, die mir schon lange auf der Seele lag, und ich konnte lange Zeit nicht aufhören.
„Wie lange hast du schon nichts mehr gegessen?“ fragte Antef. Wo hatte er nur einen Schlüssel her? Ich hatte ihm keinen gegeben. Keine Ahnung, wann ich zuletzt was gegessen hatte. Im hellen Licht der Mittagssonne schien mein Freund zu strahlen. Seine weißen Klamotten machten mein Zimmer vielleicht etwas zu hell.
„Wie lange warst du schon nicht mehr auf dem Klo?“ Himmel, was war das für eine bescheuerte Frage?
„Bist du mein Pfleger, oder was?“ fragte ich zurück. Ich wollte es pampig und rotzig und verletzend klingen lassen, aber es kam nur ein trotziges Nörgeln heraus, wie man es von einem Vierzehnjährigen erwarten würde, dem man die Disco verboten hat.
Antef seufzte tief, und der Blick, der mich traf, war eine Mischung aus Mitleid und Resignation.
„Was hast du vorgestern morgen gemacht, Jockel? Bevor du wieder angefangen hast, die Story umzuschreiben?“
Ich dachte nach. Das war hundert Jahre her, und es schien jemand ganz anderem passiert zu sein. Antef schwieg und ließ mit keinem Wimpernzucken Ungeduld erkennen. Endlich kam ich drauf.
„Ich war schlecht drauf“, sagte ich. „Ich hab gedacht, ich kann überhaupt nicht schreiben. Ich hatte die Schnauze voll.“
Antef machte ein gespanntes Gesicht, beugte sich vor und vollführte eine kleine Geste mit der Hand, etwa: Und weiter?
„Na ja, ich hab mich in die Ecke gesetzt und die Flinte in den Mund genommen“, fuhr ich fort. Noch bevor ich den Satz beendet hatte, fiel mein Blick auf das hässliche kaputte Ding in der Ecke.
„Oh“, machte ich.
Die Luft war stickig und unbewegt im Halbdunkel der Abenddämmerung, die weit fortgeschritten war. Meine Finger glitten über die Tasten und hackten darauf ein, aber sie vermochten nicht einmal Spuren in der dünnen Staubschicht zu hinterlassen, die sich darauf niedergelassen hatte. Frustriert drehte ich mich um und starrte das Ding in der Ecke an.
„Der sieht mir ähnlich“, sagte ich nach einer Weile.
„Wie aus dem Gesicht geschnitten“, bestätigte mein Freund.
Ich gab auf. „Es wäre eine gute Story geworden“, sagte ich mit Bedauern.
„Sicher“, sagte Antef und legte einen Arm um meine Schultern.
„Komm, wir hauen ab.“