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Durchgang Getreidegasse
Als ich in den Durchgang eintrete, empfängt mich stiller Schatten. Hier, abseits von den Hauptströmen der Menschen, verirrt sich kaum einer der vielen Touristen. Der Lärm hat diese Gasse einfach vergessen und fegt darüber hinweg. So wie es auch mein Leben mit mir getan hat. Es hat mich einfach stehen lassen und ist irgendwohin verschwunden, ohne dass ich ihm hätte folgen können.
Auf einmal halte ich in meinem Weg inne. Leise Musik durchbricht die Stille des Durchganges. Zuerst meine ich, mich getäuscht zu haben, denn gleich einem Flüstern inmitten von lautem Geschrei geht es unter – selbst hier, wo doch niemand ist. Ich verharre still, schliesse die anderen Geräusche aus. Und wirklich: Eine feine Melodie schwingt durch die Luft und langsam füllt sie die kleine Gasse auch aus. Melancholische Töne entweichen einer Flöte, winzige Glöckchen wiegen sich dazu im Takt. Verzaubert lausche ich, längst vergessen ist die Welt ausserhalb der Gasse. Erinnerungen an meine Kindheit holen mich ein, Karusselle fahren noch einmal, Kinderlachen mischt sich unter das bunte Treiben eines Jahrmarktes. Jahre entfernt von jenen Gegebenheiten fühle ich mich erneut von ihnen umringt. Tanzende Schatten huschen rasch in winzige Ritzen, wenn ich sie zu fangen suche. Wie in Trance folge ich der Musik, die sich in meinen Weg gedrängt hat ohne zu fragen. Eine kleine Biegung, dann stehe ich vor dem Geschäft. Weit entfernt laufen Menschen vorbei, ignorieren die Durchgangsgasse, in der ich mich befinde. Das unscheinbare Geschäft verkauft Kinderspielzeug – Teddys mit grossen Knopfaugen blicken mich traurig an, Glöckchen rufen mir silberhell zu. Ich berühre filigrane Bänder, die sanft hin und her schaukeln. Die Tür zum Laden ist offen, ein Schild lädt in die „wundersame Welt von Minne“ ein. Die Musik, die mich fasziniert, kommt aus dem Inneren des Ladens. Ich zögere noch: Was will ich hier?
Als ich die Schwelle übertrete, finde ich mich in einem winzigen Reich in einem versteckten Winkel der Stadt wieder. Niemand befindet sich im Laden, nur die schwarz glänzenden Augen der Stofftiere beobachten mich. Es ist eng hier drin, die Regale sind mit Kostbarkeiten gefüllt, die ein besonderer Zauber umgibt.
Das Kinderlachen, das ich vorhin gehört habe, ertönt erneut. Die Realität schwindet einen unmerklichen Moment lang und ich befinde mich als kleines Mädchen auf dem Jahrmarkt. Was ist wird zu ungreifbarer Zukunft, was war wird zur Gegenwart, der ich nicht entfliehen will. In diesem kleinen Laden begebe ich mich erneut auf die abenteuerliche Reise durch den Jahrmarkt. Nur die Teddys sind Zeugen meines Ausflugs. Der Laden verschwindet hinter einer Mauer und ich stehe vor einem Karussell…
„Kann ich dir helfen?“
Ich erwache aus meinem Traum. Eine junge Frau – sie mag etwas älter sein als ich – steht vor mir und ihr Lächeln zieht mich in ihren Bann. Ein seltsamer Zug, den ich nicht zu deuten vermag, umgibt es und lässt mich nicht wieder los. So, als verberge sich tief im Innern der jungen Frau ein Geheimnis. Welcher Art – ich vermag es nicht zu sagen.
„Nein, danke. Ich weiss eigentlich nicht, wonach ich suche.“
Sie nickt – hat sie das nicht bereits gewusst? Sie verschwindet hinter einer Tür und lässt mich alleine in Minnes Welt zurück. Vergessen ist alles, was ausserhalb liegt. Sorgfältig gearbeitete Miniaturen reihen sich auf einem schmalen Regal, ich befürchte, sie könnten jeden Moment herunterfallen und am Boden zerschellen. Doch sie tun es nicht. Das Wunderreich, der Laden in einem Durchgang zweier Gassen, nimmt mich mit in eine fremde Zeit und ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Die Glöckchen lachen mit.
„Das hier könnte dir gefallen.“
Aus dem Nichts ist die Ladenbesitzerin wieder aufgetaucht. Ihre braunen Augen mustern mich eindringlich und strecken mir einen kleinen Gegenstand entgegen. Ich nehme ihn und betrachte ihn.
Es ist eine kleine Schatulle aus Holz mit goldenen Scharnierchen, bemalt mit feinsten Pinselstrichen. Daraus entwachsen ist eine kleine Schwalbe, deren Gefieder hell strahlt. Sie fliegt einem unbekannten Ziel entgegen. Ich fliege an der Seite der Schwalbe nach Irgendwo.
„Na?“
Erstaunt blicke ich auf, ich bin ja noch immer in dem kleinen Laden, in „Minnes Wunderwelt“. Ich nicke. „Ja, es ist wunderschön. Ich kaufe es.“ Wieder dieses Lächeln. „Nimm es ruhig. Du brauchst mir kein Geld zu geben.“
Überrascht bedanke ich mich und erneut schenkt sie mir ihr Lächeln. „Gern geschehen.“ Versunken in die Malerei auf der Schatulle verlasse ich den Laden und entferne mich von der Musik. Immer leiser wird sie, bis schliesslich – als ich die nächste Gasse erreiche – ihr Klang erlischt.
Lärm empfängt mich, die Welt ist wieder da. Ich lasse meine Hand sinken und schaue auf, dann gehe ich weiter. Bis ich auf einmal bemerke, dass mit dem Lärm auch mein Lächeln seinen Weg zurück auf mein Gesicht gefunden hat – dank der Nebengasse und ihren Geheimnissen.
Am nächsten Morgen suche ich die Durchgangsgasse erneut, will der Ladenbesitzerin von „Minnes Wunderwelt“ für die Schatulle und für das Lächeln danken.
Ich finde den Laden nicht, auch in den darauf folgenden Tagen bleibt er verschwunden. Der Durchgang Getreidegasse ist nirgends mehr auffindbar. So oft ich auch durch die Strassen Salzburgs wandere, er ist nirgends mehr. Und ich erkenne, dass ich ihre Welt nicht zurückholen kann, doch dann und wann öffnet sie sich mir und dann gleitet Minnes Lächeln über meine Lippen – ein Nachwehen ihrer Welt, die ich betreten durfte.