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- 04.08.2001
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Durch die Häuser
OMON: (Einheit der Miliz besonderer Bestimmung) ist eine Spezialeinheit der russischen Polizei, die unter dem Eindruck der Geiselnahme von München während der Olympischen Spiele 1972 und im Hinblick auf die eigenen Spiele in Moskau im Jahre 1979 gegründet wurde.(Quelle: Wikipedia.de)
Die Tür war grün und reich verziert. Von einem Band geschnitztem Efeu umrankt starrte ihnen in der Mitte ein kleiner Löwenkopf entgegen. Die Farbe war leicht abgeblättert, das war jahrelang schon so gewesen.
Wolowoi hielt sie noch einmal zurück: „Ihr wisst, worum es geht.“ Er schwitzte, sein Barett war leicht verrutscht und darunter quoll graues Haar hervor. Er war der Einzige des Trupps, der über vierzig war.
„Alles, was euch in dem Haus entgegenkommt, lebt nicht mehr. Wir gehen rein, arbeiten uns zum Zentrum vor und vernichten es.“
Er schaute in die Runde. Galeshda trommelt erwartungsfroh auf ihrer MPi, Klerskaja an ihrer Seite kaute nervös auf ihrem Kaugummi.
Worski und Krakow würden die Tür aufhebeln, sie würden alle hineinstürzen und einen Heidenlärm veranstalten. Einen Radau, den dieses verschlafene Nest seit Jahren nicht erlebt hatte. Vielleicht triebe es dann die Bewohner aus ihren Behausungen.
Artjom Tolski stand ganz am Ende der Gruppe. Er schaute zu, wie Worski den Hebel ansetzte und Krakow seine Waffe hob, um zu sichern. Krakows Brille war verrutscht und er sah – mit der Angst in den Augen – nur lächerlich aus.
Artjom hoffte, dass niemand sein Zittern bemerkte. Und wenn, dass man es auf seine eigene Angst zurückführen würde.
Ein Krachen, das ihm das Herz brach, die Tür splitterte und er sah Erinnerungen zerplatzen. Krakow wand sich mit einer einzigen Bewegung in die entstandene Öffnung, Galeshda folgte ihm, Klerskaja dann und flink die anderen beiden. Artjom blieb allein auf der Treppe stehen, mit Wolowoi, der sich zu ihm umwandte.
„Los!“, fauchte er, Artjom gab sich einen Ruck und schlüpfte hinein.
Drinnen war es kühl und dunkel. Die Läden vor den Fenstern waren geschlossen und das gesamte Gebäude schien unbewohnt. Bis auf den blutroten Qualm aus dem Schlot.
Die Anderen hatten eine Formation gebildet und warteten nun darauf, dass Wolowoi neue Anweisungen gab.
„Gibt’s hier nirgendwo Licht?“, zischte Warin und reflexartig griff Artjom zum Schalter. Niemand wunderte sich, Wolowoi sah sich rasch um und gab dann mit der Hand knappe Anweisungen.
Krakow und Galeshda wurden in die Halle linker Hand geschickt, die beiden Zimmer dort zu untersuchen. Worski und Klerskaja geradeaus, unter den Treppenbogen. Warin und Artjom schließlich wurde der Weg mit Wolowois Zeigefinger nach der rechten Seite gewiesen, wo sich an die Halle ebenfalls zwei Zimmer anschlossen.
Wolowoi hielt zum Abschluss seines stummen Befehls zwei Finger in die Höhe. Maximal zwei Minuten, dann hatten alle zurück zu sein.
Die Order war unmissverständlich, ebenso schweigend, wie sie sie empfangen hatten, wollten die Männer sie ausführen. Doch noch ehe sie dazu kamen, geschah etwas.
Das Licht flackerte, der Kronleuchter in der Mitte der Halle erlosch und leuchtete gleich wieder auf.
Dann, am oberen Ende der Treppe eine Bewegung. Ein Schatten kam zu ihnen herunter gesaust; nicht mehr als eine wirbelnde Menge Teilchen. In rasendem Tempo kam das Wesen auf die Männer zu, fegte zwischen ihnen hindurch, umstrich sie in höllischer Geschwindigkeit und verschwand ebenso rasend, wie es gekommen war, nach oben.
Sie starrten sich an. Niemand hatte sich bewegt oder gar die Waffe gehoben. Ratlos blickte auch Wolowoi.
„Was war das?“ Nervös rückte Krakow an seiner Brille.
„Vorwärts!“, zischte Wolowoi als Antwort und der Trupp bewegte sich wieder.
Offensichtlich hatte niemand erkennen können, worum es sich bei diesem Ding gehandelt hatte. Ja, es war sogar unmöglich bei gewesen, eine feste Form auszumachen. Außer Artjom, der meinte, ein Gesicht in der wirbelnden Menge wahrgenommen zu haben – Pjetr, ihr damaliger Diener. Aber das konnte nicht sein, Pjetr war seit zwanzig Jahren tot.
Im Haus herrschte Stille. Im Sommer war es hier in der Halle immer angenehm kühl gewesen, wegen des marmorierten Fußbodens. Doch das Frösteln, das Artjom jetzt erfasste, als sie in die angegebene Richtung schlichen, rührte von einer ganz anderen Kälte.
Warin postierte sich vor die rechte Tür und wartete auf Artjom, der sicherte. Er öffnete sie vorsichtig, als sie soweit waren.
Artjom fühlte, wie sich die Härchen auf seinen Unterarmen aufstellten. Dies war das Zimmer von Pjetr gewesen.
Warin nickte leicht; er schwitzte.
Artjom gab der Tür mit dem Lauf seiner MPi einen Schubs, leise schwang sie auf. Es war dunkel drinnen, die Läden waren auch hier geschlossen.
Nachdem Pjetr gestorben war, hatte man das Zimmer nicht mehr benutzt. Muff schlug ihnen entgegen, Er tastete vorsichtig um die Ecke und betätigte den Schalter.
Als das Licht aufflammte, war es, als springe ein Tier sie an. Doch es schien alles friedlich in dem Zimmer. Die Möbel – Tisch, Sessel, Bett und ein klobiger Schrank – waren mit Leinen abgehangen und Artjom konnte sich nicht erinnern, dieses Zimmer anders zu kennen. Er war noch keine zehn gewesen, als Pjetr sich erhängt hatte.
Warin durchstöberte das Zimmer, während Artjom in der Tür stehenblieb. Er konnte es nicht betreten.
Sie schlossen die Tür, als sie fertig waren und nahmen sich den zweiten Raum vor, der auf dieser Seite des Hauses lag.
Das war die Küche gewesen, ganz früher Pjetrs Refugium, als der dann gestorben war, mehr und mehr ungenutzt.
Warin versuchte das Licht anzuknipsen, doch nichts passierte. Die Dunkelheit von drinnen schien zu leben. Er holte ein Feuerzeug hervor und leuchtete hinein. Er ging vorwärts, fand eine alte Öllampe über dem Herd hängen und entzündete sie.
Sie suchten auch die Küche ab, fanden aber nichts als Töpfe und Pfannen, einen schmierigen Gewürzständer und eine kleine Vorratskammer ohne Vorräte.
Artjom wollte den Raum verlassen, als Warin ihn zurückhielt.
„Ich habe deinen Ausdruck gesehen, als wir hier ankamen“, sagte er mit einem Lächeln.
Sie blickten sich in der flackernden Finsternis an und Artjom stellte fest, dass ihm eigentlich niemand näher stand als Warin.
Warin, der es wie kein anderer verstand, so intelligent zu schweigen.
„Und dann habe ich mich daran erinnert, wie du mir damals erzählt hast, wo du herkommst.“ Er lächelte immer noch. „Eine tote Gegend östlich von Perm. Das waren deine Worte.“
Man konnte die anderen Männer auf der gegenüberliegenden Seite der Halle reden hören.
„Du kennst dich hier aus, nicht wahr?“, flüsterte Warin. „Du warst hier zu Hause.“
Artjom sah traurig auf sein Lächeln. „Der Befehl lautet, alle zu töten, die uns im Haus entgegenkommen. Alle!“
Das Gemurmel wurde lauter.
„Wir müssen gehen“, sagte Warin und löschte die Öllampe. Niemandem war etwas aufgefallen, es hatte keine Zwischenfälle im Erdgeschoss gegeben.
Wolowoi war zufrieden.
„Das Zentrum muss sich im Obergeschoss befinden, dort wird es nicht so einfach sein.“
Sie marschierten vorsichtig die Treppe hinauf, einer nach dem anderen, jeder nach einer anderen Richtung sichernd.
Artjom ging als Vorletzter, vor ihm Warin und nach hinten sichernd Worski. Der hatte seine Jacke schon wieder geöffnet, so dass die breite Brust zu sehen war.
Artjom hörte es hinter sich husten, „Scheiße!“, dann fehlten Worskis Schritte. Er drehte sich um und sah, wie der Kämpfer seinen Hals hielt und ihn erschreckt anstarrte.
„Was ist?“, fragte Artjom, Worski begann wieder zu husten. Diesmal schlimmer. Er hielt sich die Hände vor den Mund und würgte. Sank von Krämpfen geschüttelt auf die Knie und stürzte schließlich die Treppe hinab, an deren Fuß er auf dem Rücken liegenblieb.
Artjom lief hinunter und beugte sich über ihn.
„Worski, was ist los?“
Der konnte nicht antworten, er stöhnte und seine Backen waren aufgebläht. Die Augen quollen furchtbar hervor und sein Hals pulsierte, als sei er ein eigenes Wesen.
Die Haut um seine Kiefer brach auf, dunkles Blut quoll hervor, er begann zu schreien. Etwas war in seinem Mund; zuerst hatte Artjom gemeint, dass es die Zunge wäre, doch er täuschte sich. Das Ding zuckte hin und her und zwang Worski, den Mund noch weiter aufzureißen. Noch weiter! Noch weiter, als es überhaupt möglich war.
Eine Verlängerung der Mundwinkel erschien – rot, feucht. Der Wurm, oder was immer es war, schlängelte sich behände aus Worskis Körper, blickte sie kurz an und zischte dann vorbei an ihnen die Treppe hinauf in die obere Etage.
Worski war verstummt, reglos lag er da, aus seinem heruntergeklappten Unterkiefer sickerte Blut und Schleim.
Wolowoi ließ die Leiche bis an die Ausgangstür ziehen und dort ablegen. Dann scheuchte er die Kämpfer, die durchweg verstört und still waren, nach oben.
„Doppelte Aufmerksamkeit!“, krähte er.
Jetzt begann das Haus als Ganzes einen unheimlichen Eindruck auf sie zu machen. Es wuchs zu einem einzigen Feind heran.
Oben dieselbe Finsternis.
„Das Haus wird alles versuchen, uns davon abzuhalten, zum Zentrum zu gelangen. Es wird ungestört den Virus vermehren und auf die anderen Häuser übertragen wollen.“
„Das hört sich so an, als ob das Haus selber lebt.“
Man sah es Warin nicht an, dass er die Frage gestellt hatte, aber es war seine Stimme gewesen.
Wolowoi ungehalten: „Weiß man nicht. Ist doch sowieso noch nicht viel bekannt über das verdammte Virus.“
Artjom knipste aus reiner Gewohnheit das Licht in der oberen Etage an. Jemand lachte, ein Lufthauch und Artjom dachte: Das kann doch gar nicht sein!
Wie aus dem Boden gewachsen stand der Diener Pjetr vor ihnen. Er starrte sie aus tiefliegenden Augen an und lächelte, wie jemand, der schon vom Tod gekostet hat. Die Männer blieben stehen und warteten auf Order, doch Wolowoi blieb stumm.
Pjetrs zerzaustes Haar war verstaubt. Er öffnete den Mund, während er Artjom anblickte. Ein langer, quälender Ton war zu hören: „Artjoschka!“ Direkt neben ihren Ohren. Galeshda löste sich als Erste. Sie riss ihre MPi an den Körper und feuerte.
Pjetr wurde durchsiebt von den Kugeln, es schleuderte ihn nach hinten und er blieb reglos auf der Balustrade liegen.
„Tod, überall Tod!“, flüsterte Warin in die Stille.
Galeshda sah sie an und senkte die Waffe.
„Das war für Worski“, sagte sie.
Sie gingen vorsichtig auf die Leiche zu.
„Hat jemand verstanden, was er gesagt hat?“, fragte Wolowoi.
Warin starrte Artjom an, niemand sagte etwas.
Unzählige Wunden im Körper, aus denen aber kein Blut sickerte.
„Denkt daran“, mahnte Wolowoi noch einmal. „Das alles ist nicht real!“
„Aber wie macht es das?“, flüsterte Klerskaja.
Krakow hustete. „Und wie können wir es dann töten?“
Galeshda war dem Leichnam am nächsten. Sie schrie auf, als dieser wie von der Sehne geschnellt aufsprang. Der Körper flog durch die Luft und landete auf Galeshdas Rücken. Die schrie und versuchte, die Leiche abzuschütteln. Doch das Vieh hatte sich in ihrem Hals verbissen, gleich unterhalb des Nackens. Es hatte Beine und Arme um ihren Körper geschlungen, fiepte in einem furchtbaren Ton, zerrte, den Biss nicht gelockert, mit toten Händen in ihren Haaren den Kopf hin und her. Und starrte Artjom an.
Aus den Tiefen seiner Kleidung holte Pjetr ein Rasiermesser hervor, riss Galeshdas Kopf nach hinten und mit schrecklicher Gemächlichkeit zog er es über ihre volle Unterlippe. Tief drang es ins Fleisch und einen Augenblick bevor Blut herausströmte, sah man wie sie aufklappte.
Wolowoi brüllte, Galeshda ebenso. Die Kreatur auf ihrem Rücken kreischte, alles um sie herum lärmte. Niemand konnte sich wehren.
Das Vieh hielt plötzlich inne, schaute triumphierend – tiefschwarze, grimmige Augen – und packte Galeshdas Kopf. Er zerrte daran, Galeshdas Augen traten hervor, mit hilflosen Händen griff sie nach ihnen. Dann knackte es fürchterlich, Pjetr biss noch einmal zu.
„Oh Gott, schieß doch einer!“
Niemand konnte etwas tun, es ging alles rasend schnell. Blut spritzte, Galeshda sackte in sich zusammen und stürzte mitsamt dem Wesen auf die Erde. Ruhe.
Aus Galeshdas Hals quoll Blut hervor; Sehnen, Arterienenden. Ein erschütternd weißes Stück Wirbelsäule. Artjom hatte kurz den Eindruck, als bewege sich ihre linke Hand.
Klerskaja brach, wo sie stand, auf die Knie und wiederholte in einem fort: „Ach du Scheiße! Du heilige Scheiße!“
Krakow hatte seine Brille abgenommen und knetete sie wie von Sinnen in den Händen. Er blickte wild um sich, bis er Wolowoi ins Auge fasste und den Kommandeur mit stummem Vorwurf anstarrte.
Warin ging zu ihm und legte eine Hand auf seine Schulter.
„Wie macht es das?“, fragte Krakow und sah zu dem Wesen, das reglos neben Galeshdas Leiche lag. Wolowoi sagte: „Das Virus nutzt die Energie der Bewohner um uns zu täuschen. Nichts ist real hier.“
Warin drehte sich um. „Aber es kann uns töten!“
Und in die Stille hinein, die darauf folgte: „Und wieso können wir es töten?“
In diesem Moment schnellte das Ding, das Galeshda getötet hatte, erneut mit schrillem Schrei und unglaublicher Schnelligkeit empor, wirbelte durch den Raum, direkt auf Wolowoi zu.
Drei MPis wurden hochgerissen und von Salven von Schüssen zerfetzt, fiel das Wesen zu Boden und blieb wie ein alter Lappen liegen.
Für Sekunden Totenstille.
Sie zogen Galeshdas Leichnam bis zur Treppe und legten sie vorsichtig ab. Klerskaja weinte, ansonsten waren sie stumm bei der Prozedur.
„Freunde“, begann Wolowoi mit seinen Parolen. „Wir müssen weitermachen. Das verdammte Haus bezwingen!“
„Was geht hier vor?“, fragte Warin mit tonloser Stimme. „Wenn wir gewusst hätten, was uns erwartet, hätten wir uns anders vorbereitet.“
Klerskaja war zu wenig zu gebrauchen, sie beruhigte sich nur ganz allmählich. Krakow hatte sich wieder gefasst und stand bei ihr.
Wolowoi rieb sich die Augen. „Der Anruf kam heute morgen ganz früh“, sagte er leise. „Oberste Priorität. Hier in dem Ort sei das Häuservirus ausgebrochen, das bei den Engländern wütet. Alles muss getan werden, um ein Übergreifen zu verhindern.“
„Die Seuche grassiert in England“, warf Warin ein.
„Sie muss aufs Festland übergesprungen sein.“
„Was denn, hierher? Nach Russland?“
Artjom dachte an seine Schwester. Irina war zwei Jahre älter, und als er das Zuhause verließ, war sie dabei gewesen, ein Studium aufzunehmen.
Er musste lächeln. Anglistik hatte auch ihn schon immer interessiert, und hätten sie sich damals nicht gestritten und wäre er nicht seinen jugendlichen Impulsen gefolgt, vielleicht wäre er mit Irina zusammen nach England gegangen.
„Wie sollen wir das Übergreifen verhindern?“, fragte Warin.
„Wir müssen das Zentrum finden.“ Wolowoi sah sich um. „Und vernichten.“
„Das Zentrum, das Zentrum.“ Klerskaja klang verdächtig nach Hysterie. „Zeigen Sie mir das Zentrum!“
Sie stampfte herum und machte ausladende Handbewegungen. Drückte die Klinke einer Tür herunter und stieß sie mit aller Macht auf.
Wolowoi rief eine Warnung, Krakow machte einen Schritt auf sie zu, Warin bewegte sich vor. Der Einzige, der erstarrte, war Artjom, denn er hatte erkannt, wer da aus dem Zimmer trat.
Die Klerskaja wich zurück, alle anderen hielten den Atem an. Denn Irina war wunderschön, wie sie aus dem Zimmer trat.
Die Klerskaja riss ihre Waffe hoch und gab eine Salve ab, Artjom konnte nicht anders, er erschoss Klerskaja.
Warin stieß ihn mit einem Schrei beiseite. Er musste die ganze Zeit auf einen Auslöser dafür gewartet haben. In diesem Moment erlosch das Licht.
Artjom wusste nicht, was mit Irina geschehen war. Irina! Seine große Schwester, die ihm Mutter gewesen war, als seine Mutter dazu nicht mehr fähig war.
Er stürzte mit Warin in das Zimmer hinein, von dem er wusste, dass es Irinas gewesen war. Hart schlugen sie beide auf dem Boden auf. Warin hielt ihn auch umklammert, als sie lagen. Es war stockfinster, ein Geruch nach Staub lag in der Luft. Es war durch nichts zu erkennen, dass es draußen heller, trockener Tag wäre.
Warin regte sich langsam, er hatte seinen Kopf an Artjoms Brust gepresst.
„Scheiße, es ist plötzlich so still“, flüsterte Artjom. Warin bewegte sich wieder.
„Was ist los? Sind wir in dem verdammten Zimmer?“, antwortete Warin. Doch seine Stimme kam vom anderen Ende des Raumes, mindestens vier Meter entfernt.
Als er die fester werdende Umklammerung spürte, schoss durch Artjom der Gedanke: Wer liegt hier neben dir?
Von Panik durchschossen versuchte er aufzuspringen, doch das Wesen hielt ihn fest. Er hörte jetzt, wie es keuchte, was immer es war.
„Warin, verdammt! Hilf mir!“ Dann verschloss eine eiskalte Hand seinen Mund.
„Tolzki, was ist los?“ Warin schien zu hören, dass etwas vorging. „Wo bist du?“
Artjom warf sich hin und her, er wälzte sich und versuchte, mit den Füßen zu treten.
„Artjoschka!“ Die Stimme seiner Schwester, direkt neben seinem Ohr. „Du hast mich gerettet. Du siehst, hier gehörst du her!“
Artjom spürte, wie kalte Lippen sich auf die seinen legten, der Kuss versiegelte seinen Atem, er ließ es geschehen.
Irina!
Als das Licht aufflammte, musste Artjom blinzeln. Warin stand neben dem Lichtschalter und starrte ihn an.
Niemand lag neben ihm, nichts. Er rappelte sich auf, das Zimmer war Irinas gewesen, tatsächlich. Aber irgendjemand hatte sämtliche Möbel daraus entfernt.
Er wollte aus dem Zimmer gehen, doch Warin hielt ihn auf.
„Was geht hier vor?“, fragte er. Artjom sah Schweißtröpfchen durch die kurzen Haare rollen. „Du hast Klerskaja erschossen!“, zischte er. „Du kennst das Haus hier. Du arbeitest gegen uns!“
Artjom ließ sich einfach fallen. Wo er stand, stürzte er auf den Boden und begann zu weinen. Nach einer Weile setzte sich Warin neben ihn.
„Ich dachte, ich hätte meine Heimat gefunden.“
„Du bist aufgetaucht und hast niemandem erzählt, wo du herkommst.“
„Alle haben mich angenommen.“ Artjom wischte sich übers Gesicht und schaute Warin traurig an. „Und jetzt wollen sie meine Schwester erschießen.“
Warins Gesichtszüge wurden hart. „Wenn du dich hier auskennst, warum hilfst du uns nicht?“
„Irina!“ Artjom blickte sich im Zimmer um. Leere Wände, die Tapeten mit ungesundem Gelb überzogen, abgegriffen an den Ecken. „Irina war die einzige, die ich hatte. Vater starb, Pjetr hängte sich auf. Mutter verzog sich in ihre eigene Welt.“ Er lächelte. „So blieben Irina und ich. Als wir uns stritten, ging ich.“
Es war totenstill. Absolut keine Geräusche, als lausche selbst das Haus, was Artjom erzählte.
„Ich wusste nicht, dass sie wieder zurück war.“ Er schien aufzutauchen.
„Und brachte das Virus mit.“ Warin streckte die Hand aus. „Gib mir deine Waffe!“
„Was meinst du, wo das Zentrum ist?“
„Gib mir deine Waffe, Artjom!“
„Zum Zentrum strebt alles, Warin. Jedes Ding konzentriert sich darauf. Und vom Zentrum aus wird das Virus weitergegeben.“
Artjom wollte die Tür öffnen, doch Warin drängte ihn zurück. Er war kräftig, auf eine beiläufige Art.
Artjom wehrte sich, es gab ein kleines Gerangel, in dessen Verlauf jeder die Oberhand zu gewinnen suchte.
Sie stürzten beide auf die Erde, Warin mit entsetztem Blick auf dem Rücken in unterer Position, Artjom zuoberst. Er versuchte Warin die Luft abzudrücken.
„Verdammt, was soll das?“, keuchte Warin. „Was ist in dich gefahren?“
„Heimat“, entgegnete Artjom. Er spürte, wie er kräftiger wurde. „Es geht darum, wo man hingehört.“
Damit drückte er zu. Er presste, seine Nase keine zwanzig Zentimeter von Warins entfernt. Doch der wehrte sich, versuchte, sich fortzurollen, wand sich und bemühte sich mit rotem Gesicht, nach oben zu gelangen.
Da platzte sein Kopf.
Ganz als erstes sah Artjom, wie seine Augen aus den Höhlen schossen, mit verwundertem Blick. Die Sehnerven rissen, er glaubte, in der sich dehnenden Zeit ein entsprechendes Geräusch zu hören. Als Warins Schädeldecke barst, die Haut riss, Blut, Knochensplitter, Hirnmasse freigab, musste Artjom sich abwenden, weil Warins Augen, wie zwei Geschosse abgefeuert, in sein Gesicht klatschten.
Sofort folgten Blut und Hirnmasse, es machte schmatzende Geräusche, wie wenn jemand mit Lehm wirft, und dann plötzlich war Stille. Keine Bewegung, außer einer dicken Suppe, die leise aus Warins Halsstumpf lief.
Artjom erhob sich und taumelte, als hätte er große körperliche Anstrengung hinter sich. Er sah sich um, dann zog er seine Jacke aus und deckte sie über Warins Leiche. Von dessen Kopf war nicht viel mehr übrig als einzelne Teile, über das ganze Zimmer verstreut.
Er nahm die Waffe, die er im Kampf verloren hatte, auf und lauschte an der Tür. Draußen war nichts zu hören. Er öffnete die Tür einen Spalt, es war auch nichts Außergewöhnliches zu sehen.
Als er die Tür weiter aufstieß, huschte eine Gestalt in sein Blickfeld – Pjetr.
Er lächelte, hinter ihm erschien Irina.
Tränen liefen wieder über Artjoms Gesicht, als sie sich in den Armen lagen, Irina streichelte seinen Kopf. Ihre Hand war so weich.
Pjetr stand neben ihnen, seine Kleidung zerlöchert von Galeshdas Schüssen.
Galeshda? Galeshda? Wer war das noch mal?
Irina strich mit ihren Fingerspitzen über seine Wangen. Die Kuppen waren schwarz, aber das machte ihm nichts. Er nahm ihre Hände und küsste sie, schlang wieder seine Arme um ihren Körper. Mit einem Lächeln ließ sie es geschehen und sah zu Pjetr. Der blickte ernst.
Irina löste sich vorsichtig von ihrem Bruder.
„Wir haben eine Aufgabe“, sagte sie.
„Wo sind die anderen?“, fragte Artjom. Sie trat beiseite, und im ersten Moment, als er seine Kameraden so hingemetzelt liegen sah, zuckte er zusammen.
Klerskaje und Krakow lagen ineinander verschlungen auf dem Boden, dass es den Anschein hatte, sie seien ein Liebespaar. Nur das viele Blut störte. Dann erkannte er, dass sie ihre Arme nicht umeinander geschlungen, sondern geradewegs durch den Körper des anderen gebohrt hatten. Sie waren wie miteinander verwachsen.
Wolowoi lag etwas abseits, ebenso blutverschmiert, mit offenem Leib. Innereien traten hervor wie nebenbei. Das Lächeln auf seinem Gesicht war erstarrt und hatte einen arroganten Zug.
Als Artjom vorüberging, bewegte sich Wolowoi, öffnete die Augen und stöhnte auf. Artjom blickte auf ihn herab und wollte etwas sagen, doch Irina kam ihm zuvor: „Du hast eine Aufgabe, Artjoschka. Deine Energie wird gebraucht.“
„Ja.“
Er stieg über Wolowoi hinweg und spürte dessen hilflosen Blick, wie er sich entfernte.
„Wo ist das Zentrum?“
„Du weißt es.“
Pjetr lachte.
„Ja, natürlich. Ich weiß es.“
Er ging zur Treppe, gefolgt von den beiden Gestalten, stieg hinab und sah Worski in der Mitte der Halle liegen. Seine Gesicht eine einzige Wunde. Trotzdem musste der Mann noch leben, denn er hatte sich bewegt.
Artjom trat an ihn heran, beugte sich über ihn und sprach ihn an.
„Worski, kannst du mich hören?“
Durch das Blut hindurch drang ein leises Wimmern. Er ging ganz dicht mit seinem Ohr an die Stelle, die Worskis Mund sein musste.
„Tolzki, hilf mir!“, kam es blubbernd heraus. „Hilf!“
Zärtlich nahm Artjom den Kopf des Anderen in seine Hände. „Es wird alles gut“, flüsterte er. Und mit der Rücksichtslosigkeit des Mannes, der eine Aufgabe hat, riss er den Kopf zur Seite. Es knirschte, Worski tat einen Seufzer, dann war es still.
Artjom wusste, dass es im gesamten Haus nur noch eine lebende Seele gab. Das würde nicht mehr lange so bleiben.
Er hob den Blick und ließ den Duft seiner Heimat durch die Nase strömen. Er spürte einen Luftzug, der eisige, faulige Kälte verbreitete. Das Zentrum war nicht fern, und auch auf der zeitlichen Ebene war es nah. Er ging vorbei an Irina und Pjetr, die jetzt reglos standen.
Er stieß die Küchentür auf; als er die Öllampe auf der Erde sah, stiegen Gedanken an Warin in ihm hoch. An seine Kameraden von der OMON, schließlich an den Befehl Wolowois, alles Leben in diesem Haus zu vernichten.
Der Luftzug verstärkte sich zu einem Wind als er den Zugang zur Küche geöffnet hatte. Er ging hinein und schaltete das Licht an, da sah er einen Strudel aus Staub, Papieren und leichten Kleidungsstücken in der Mitte des Raumes stehen. Unruhig und zugleich beruhigend drehten sich die Gegenstände in der Luft und zogen immer neue, immer größere zu sich in den Kreis.
Dort unten musste das Zentrum des Hauses sein. Natürlich, der Keller!
Er ging voran und mit jedem Schritt, den er tat, verlor er seinen eigenen Willen. Er wurde angezogen, er wurde geschoben – irgendwann kam der Punkt, da gab es kein Zurück mehr.
Er sah klar: Bis hierhin hatte das Haus – das Virus – alle menschliche Energie verbraucht, um ihn anzuziehen, hierher an seine Heimat zu bringen. Seine eigene Energie jetzt würde es benötigen, um sich fortzupflanzen. Er würde Teil von etwas großem, umspannendem werden.
Er stieg die schmale Treppe hinab, mit der Öllampe in der Hand, auch wenn die Flamme im Zug des Zentrums flackerte. Seine Haare wurden durchgewirbelt, seine Kleidung, jeder Schritt hinab fiel ihm schwerer.
Unten dann der wahre Orkan: Alles Bewegliche aus dem Keller hatte sich in der Windhose gesammelt, die direkt an dem alten Ofen rotierte. Der Schlot war zerstört und bildete den Mittelpunkt. Das Auge des Orkans.
Er stellte die Lampe ab, ging auf den Orkan zu, zögerte kurz. Die Ölleuchte stürzte an ihm vorbei in den Strudel hinein. Eine Träne lief ihm das Gesicht hinab. Er wischte sie fort, tat einen kräftigen Schritt auf die Windhose zu. Noch einen, schließlich musste er sich bücken, um nicht von einigen Weinflaschen getroffen zu werden. Noch ein Schritt. Das Schauspiel erzeugte ein leises Geräusch von Surren, ganz so, als schnurre ein Elektromotor. Je näher er trat, desto intensiver wurde der Ton.
Noch einen Schritt. Der Sturm zerrte an ihm, alles an seinem Körper war in Bewegung. Nur das Gesicht war starr. Er durchschritt den Orkan, wurde kurz angehoben, und landete sanft im Zentrum.
Hier war es völlig geräuschlos.
Er hatte nicht die Zeit, sich umzuschauen. Es zerriss ihn in derselben Sekunde, in der er die Stille spürte.
Das Zentrum füllte sich, die Farbe stieg hinauf und endlich wurde der Rauch, der aus dem Haus aufstieg, wieder tiefrot.
Artjoms Atome wurden hinausgeschleudert, hinaus in die Welt, hinüber auf die anderen Häuser, die geduckt herumstanden, als erwarteten sie die Sendung mit Sehnsucht.