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Durch die Augen Anderer

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01.12.2017
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Durch die Augen Anderer

Meine Wange klebte an der kühlen Fensterscheibe, während der Bus sich unsanft durch die Stadt kämpfte. Mit jeder Kurve rutschte ich ein kleines Stück auf meinem Sitz hin und her. Im Bus war es wahnsinnig heiß. Die Sonne brannte auf uns herunter und ließ uns in dieser großen Blechbüchse brutzeln, wie eine Ofenkartoffel in einem Mantel aus Alufolie zwischen den Kohlen. Schweißperlen zeichneten sich auf meiner Oberlippe ab, welche ich hastig wegwischte. Vielleicht wäre die brütende Hitze der letzten Tage leichter erträglich gewesen, wenn ich mich angebracht hätte kleiden können. Doch trotz der Temperaturen klebte eine lange, dicke Jeans an meinen plumpen Beinen. Niemals würde ich diese Stampfer der Öffentlichkeit präsentieren, da konnte es noch so heiß werden.
Ruckartig kam der Bus an der nächsten Haltestelle zum Stehen, meine Handtasche auf dem Nebensitz hatte damit wohl nicht gerechnet. Mit einem lauten Knall krachte sie auf den Boden und verteilte ihren Inhalt auf dem Gang und unter den Nachbarsitzen.
„Oh nein“, murmelte ich leise, mehrere Mitfahrer wandten sich genervt zu mir um. Abwertende Blicke fixierten mich, während ich mich unbeholfen auf den Boden kauerte, um meinen Kram zusammen zu suchen. Beim Bücken rutschte mein Oberteil nach oben und gab ein kleines Stück nackter Haut an meinem Rücken frei. Hektisch riss ich es zurecht. Ich konnte das leise Ratsch des Stoffes mehr spüren als hören. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und wünschte mir so sehr irgendwo anders zu sein als hier. Nicht auf dem Boden eines brechend vollen, heißen Busses, während alle Insassen meine Ungeschicklichkeit bewundern konnten. Doch natürlich ging mein Wunsch nicht in Erfüllung.
„Oh man, sieh dir das an“, schnaubte eine abwertende, nur allzu vertraute Stimme über mir. „Brauchst du Hilfe, Fettklops? Steckst du vielleicht unter dem Sitz fest und kommst nicht mehr raus?“, höhnte eine andere, nicht weniger vertraut.
Ich brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen wer da sprach. Jana und Tobi waren anscheinend gerade eingestiegen. Seit drei Jahren gingen sie mit mir in eine Klasse und machten mir das Leben zur Hölle. Fettklops war nur einer der vielen netten Namen, die sie mir gaben. Er kam direkt nach Pickelgesicht, Walze und Aknemarie. Unbeholfen hiefte ich mich mitsamt meiner Tasche wieder zurück auf meinen Sitz und mied ihre Blicke.
„Ach herrje, da bist du aber ganz schön ins Schwitzen gekommen, was? War wohl das sportlichste was du die ganze Woche getrieben hast“, lachte Jana und warf ihre lange blonde Mähne gekonnt zurück.
„Ich würde echt aufpassen mit dem ganzen Schweiß im Gesicht, ich hab gehört dass solche Mondkrater wie deine von sowas nicht unbedingt besser werden“, sagte Tobi und die beiden setzten sich eine Reihe hinter mich.
Wieder lehnte ich mich gegen die kühle Fensterscheibe, diesmal mit meiner Tasche fest im Griff auf meinem Schoß. Ich hätte mich wehren können, irgendetwas schlagkräftiges erwidern. Doch das half nichts. Ich kannte die beiden lange genug um zu wissen, dass sie niemals aufhören würden. Mich zu mobben war ihr liebster Zeitvertreib. Ich verstand nicht einmal, wieso es ihnen so Spaß machte, auf meinem Übergewicht und meiner Akne herumzureiten. Was hatten sie schon davon? Doch ich schluckte es runter wie jeden Tag. Ändern konnte ich es eh nicht, sie würden mich nie akzeptieren. Mein einziges Ziel war nur noch, die zwölfte Klasse zu überleben. Dann würde ich mein Abitur endlich haben und konnte zum Studieren ganz weit weg, irgendwohin wo ich die beiden und den Rest meiner Schulklasse nie mehr wieder sehen musste. Doch würde es dann besser werden? Was wenn ich wieder eine neue Jana und einen neuen Tobi kennenlernen würde, die mir das Leben genauso vermiesen würden?
Müde lies ich meinen Blick durch den Bus schweifen, welcher bei einem Mädchen hängen blieb, das weiter vorne entgegen der Fahrtrichtung saß. Sie war unglaublich hübsch. Ihr Gesicht wirkte nahezu perfekt und ihre dunklen Haare fielen elegant darum herum. Sie war dünn und trug ein hübsches, luftiges Sommerkleid. Der Neid zerfraß mich wörtlich. Sicher war sie noch nie gemobbt worden, wieso auch? Bestimmt war sie wahnsinnig beliebt, hatte unzählige Freunde und sicherlich auch einen Freund. Ich konnte nur davon träumen, wie es wohl war, in ihrer Haut zu stecken. Die Welt war sicher ganz anders durch ihre Augen, schön, leicht und glücklich. Alle meine Probleme wären verflogen, hätte ich nur so ausgesehen wie sie.

Am späten Nachmittag saß ich im Bus, auf dem Nachhauseweg nach 10 Stunden Büroarbeit. Ich hasste es, entgegen der Fahrtrichtung zu sitzen. Immer wurde mir schlecht dabei, und man war gezwungen allen anderen Mitfahren ins Gesicht zu sehen. Müde lehnte ich mich zurück und lies meine Haut von den warmen Sonnenstrahlen wärmen. Mein Handy vibrierte in meiner rechten Hand. Eine Nachricht von Nick.
Maja, antworte endlich. Es war alles ein großer Fehler, ich bereue es so sehr. Bitte gib mir noch eine Chance!“
Ich musste mir einen höhnischen Lacher unterdrücken. Was bildete er sich ein? Dachte er wirklich er konnte mich behandeln wie Müll und ich würde wieder zurück gekrochen kommen? Es war jetzt einen Monat her, dass er mich mit dieser Schlampe betrogen hatte. Am Anfang hatte ich geglaubt, die Liebe meines Lebens gefunden zu haben. Er war charmant, zuvorkommend, lieb. Er hatte mich auf Händen getragen.
Doch dann war meine Mutter krank geworden. Ihre jahrelange Sucht hatte sie zerfressen und nun erlag sie schließlich den Konsequenzen. Lungenkrebs. Äußerst aggressiv und bereits viel zu weit fortgeschritten. Die Nachricht hatte uns getroffen wie ein Erdbeben. Es hatte meine Familie zutiefst erschüttert und unsere Welt aus allen Fugen gerissen. Meine Augen füllten sich schon wieder mit Tränen, wenn ich nur zu lange darüber nachdachte. Schnell wischte ich sie weg, damit es niemand im Bus sah. Ich wurde das Bild von ihr seit Monaten nicht mehr los. Sie klein, schwach und zierlich in dem viel zu großen Krankenhausbett, mit den weißen Laken, die sie noch bleicher erschienen ließen, als sie es ohnehin schon war. Was würde ich dafür geben, dieses Bild zu vergessen. Doch es hatte sich in meiner Netzhaut eingebrannt für immer. Jedenfalls hatte Nick kein Verständnis für meine neue Lebenssituation gezeigt. Nur zu deutlich war mir bewusst geworden, was er eigentlich von mir wollte. Wie alle andern auch, hatte er nicht den Menschen hinter der Fassade in mir erkennen können. Alles was ihn interessierte war mein Körper. Mein hübsches Gesicht vielleicht, die Tatsache, dass er mit mir vor seinen Kollegen angeben konnte. Doch sobald es schwierig wurde, zog er den Schwanz ein. Es war ihm egal, wie es mir ging. Er war nicht für mich da, als ich ihn am dringendsten gebraucht hätte. Stattdessen befriedigte er seine Bedürfnisse einfach mit einer anderen Frau. Wir sind eben alle austauschbar, in dieser oberflächlichen, grausamen Welt. Hauptsache eine hübsche Hülse, egal was dahinter wirklich steckt.
Ruckartig kam der Bus an der nächsten Haltestelle zum Stehen. Ein nach Zigaretten und Alkohol riechender Mann mittleren Alters setzte sich direkt neben mich, während sich der Bus allmählich wieder in Bewegung setzte. Er war unrasiert und hatte schrecklichen Mundgeruch. Mit seinen gelben Fingernägeln kratzte er sich am Kinn und starrte mich dabei unentwegt an.
„Na du hübsche“, raunte er schließlich mit kratziger Stimme.
Angeekelt rutschte ich ohne eine Antwort so weit von ihm weg wie nur möglich. Er blieb still doch sein Blick ruhte auf mir. Unsicher zupfte ich mein Sommerkleid zurecht, um sicherzustellen dass bloß nicht zu viel Haut zu sehen war. Die ganze Fahrt lang musterte er mich weiter, widerlich und unverschämt. Ich fühlte mich ihm ausgeliefert wie auf einem Präsentierteller. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit bis er endlich an einer Haltestelle aufstand und zur Tür hinkte. Erleichtert, aber immer noch angewidert sah ich aus dem Fenster.
Auf dem Bürgersteig spielten zwei kleine Jungen mit einem Fußball. Fröhlich kickten sie ihn hin und her. Sie lachten ihr unbekümmertes Kinderlachen und strahlten dabei über das ganze Gesicht. Bei dem Anblick musste auch ich ein bisschen Schmunzeln. Das Szenario erinnerte mich an meine eigene Kindheit. Damals war noch alles in Ordnung. Meine Mutter war gesund, meine Familie glücklich. Alles erdenkliche war damals besser gewesen. Was würde ich nur dafür geben, wieder in der Haut eines unbekümmerten Kindes zu stecken.

Manuel und ich kickten den Ball auf dem Bürgersteig hin und her, während ich auf meinen Papa wartete. Wir machten das jeden Tag so, zumindest wenn das Wetter schön war. Manu begleitete mich zur Bushaltestelle, damit ich dort nicht alleine auf Papa warten musste. Papa kam immer mit dem Bus aus der Arbeit nach Hause. Genau der Bus war gerade angekommen und Papa stieg bei der Hintertür aus. Langsam, humpelnd kam er auf uns zu. Vor ein paar Jahren hatte er einen Arbeitsunfall in der Fabrik gehabt, eine Maschine hatte sein Bein eingeklemmt. Seit dem musste er humpeln und irgendwie hatte er sich auch sonst verändert. Er war nicht mehr so glücklich wie früher, doch ich wusste nicht genau warum. Mama sagte immer, ich war zu jung um soetwas zu verstehen. Ich hob den Fußball vom Boden auf und ging Papa entgegen.
„Hallo mein Junge“, begrüßte er mich mit seiner vertrauten, kratzigen Stimme und klopfte mir fest auf die Schulter.
Manu verabschiedete sich schließlich und brauste auf seinem Roller davon.
Papa roch schon wieder so komisch. In letzter Zeit hatte er öfter diesen eigenartigen, beißenden Geruch. Den hatte er früher nie gehabt. Eines der Sachen, die sich an ihm verändert hatten.
„Na los, gehen wir nach Hause. Ich muss nur auf dem Weg noch schnell etwas besorgen im Supermarkt“, forderte Papa mich auf.
In seinem langsamen, hinkendem Tempo machten wir uns auf den Weg. Es war nicht weit zu uns nach Hause, auch der Supermarkt lag direkt auf dem Weg. Ich wartete draußen, während Papa kurz einkaufte. Wenige Minuten später kam er mit einer vollen Einkaufstüte zurück und wir gingen wieder los. Beim Gehen kamen komische klirrende Geräusche aus der Tüte, als würde er mehrere Flaschen rumschleppen. Ich verstand das nicht, immerhin tranken wir zuhause das Wasser immer aus der Leitung. Aber trotzdem kaufte er jeden Abend mehrere Flaschen mit klarem, stillen Wasser, nur für sich. Er teilte sie auch nie mit uns. Aber egal, vielleicht schmeckte ihm das Leitungswasser ja auch einfach nicht. Mama sagte immer, ich sollte Papa auf keinen Fall danach fragen. Also tat ich es auch nicht.
Es dauerte nicht lange bis wir daheim angekommen waren. Mama stand schon in der Garderobe und wartete auf uns. Es roch lecker nach Nudeln mit Tomatensoße im ganzen Haus. Mama nahm Papa die Tüte ab und wollte sie in die Küche tragen. Dabei stolperte sie aber plötzlich über einen Schuh, der aus dem Schuhregal gefallen war und auf dem Flur lag. Sie fiel unsanft auf den Boden und mit ihr auch Papas Einkaufstüte. Drei Flaschen waren in der Tüte gewesen, sie zerschellten auf dem harten Fliesenboden und Mama saß in einer großen Wasserpfütze.
„Nichts passiert“, sagte sie hastig und stand sofort wieder auf.
„Hast du dir weh getan Mama?“, fragte ich sie. Ich war schon so oft beim Spielen auf dem Flur hingefallen und die Fliesen dort waren wirklich hart. Immer bekam ich blaue Flecken davon. Aber Mama schien es gut zu gehen. Trotzdem gab Papa ein merkwürdiges Geräusch von sich. Ich drehte mich erschrocken zu ihm um, er sah sehr sauer aus. Sein Gesicht war wutverzerrt und er presste die Fäuste zusammen. Ich verstand nicht, was ihn in diesem Moment so aufwühlte. Mit großen Schritten humpelte er an mir vorbei und stieß mich dabei unsanft zur Seite. Ich strauchelte einen Meter von ihm weg und schürfte mir den Ellenbogen an der Wand auf.
„Du unnützes Weib, nicht einmal die Einkaufstüte kannst du tragen! Weißt du eigentlich wie viel der Vodka gekostet hat? Aber wen kümmert das schon, wir haben ja genug Geld oder nicht?“, schrie Papa und lachte hysterisch. Ich erschrak mich so vor seinem lauten Geschrei, dass sich meine Augen automatisch mit Tränen füllten.
„Nicht doch Tom, es tut mir schrecklich leid!“, entschuldigte Mama sich mit zittriger Stimme. „Ich gehe sofort und kaufe dir einen neuen, wenn du willst“.
„Du verstehst es einfach nicht oder? Wir sind PLEITE! Wir können uns so eine Verschwendung echt nicht leisten! Für nichts bist du zu gebrauchen!“. Papa drückte sie grob gegen die Wand und sah ihr bitterböse ins Gesicht.
Wie gebannt kauerte ich in der Ecke und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte Papa schon öfter so schreien gehört, doch ich war noch nie dabei gewesen. Oft stritten die beiden Abends, wenn ich im Bett war und sie dachten, dass ich schlief. Doch sie redeten immer so laut, dass ich es noch deutlich in meinem Zimmer hören konnte.
Mama wand sich schnell unter seinem Arm durch, packte mich an der Hand und zog mich durch den Flur in mein Zimmer.
„Alles wird gut mein Schatz, mach dir keine Sorgen“, flüsterte sie und küsste mich auf die Stirn. Dann riss sie die Zimmertüre wieder zu.
Ich konnte Papas humpelnde Schritte auf dem Gang hören, er war ihr zu meiner Türe gefolgt. Ich hörte dass Mama durch die Türe etwas sagte, sie versuchte ihn zu beruhigen doch er schrie schon wieder weiter. Dann krachte es laut und dann war es still. Ich hörte Mama leise schluchzen, während Papa durch den Flur schlurfte und die Wohnzimmertüre hinter sich zuschlug. Ganz vorsichtig öffnete ich meine Türe einen kleinen Spalt breit und lugte in den Gang. Mama saß am Boden, ihre Wange blutete und Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie bemerkte nicht, dass ich sie beobachtete. Wie benommen lies ich mich auf meinen Zimmerboden plumpsen. Papa hatte Mama geschlagen. Hatte er das schon öfter getan? Wieso tat er sowas überhaupt? Alles nur weil sie ein paar Wasserflaschen kaputt gemacht hatte? Mama hatte wohl recht, vielleicht war ich zu jung um das zu verstehen. Traurig blieb ich also in meinem Zimmer sitzen, hilflos. Ich musterte eine Zeitschrift, die neben mir auf dem Boden lag. Es war Mamas Fernsehzeitung. Auf dem Titelblatt war eine junge Frau zu sehen. Sie hatte ein hübsches T-Shirt an und strahlte in die Kamera. 'Betty Clarke' stand neben dem Foto. Ich hatte sie schon einmal in einer Kinderserie gesehen, doch konnte mich nicht mehr erinnern, in welcher. Auf jeden Fall war sie eine Schauspielerin. Bestimmt hatte sie nicht so starke Geldprobleme, wie meine Familie. Ich war mir sehr sicher, dass sie noch nie einen so heftigen Streit wegen ein paar Wasserflaschen gehabt hatte. Papa sagte immer, Schauspieler waren unendlich reich und konnten sich alles kaufen, was sie wollten. Ich würde später auch mal ein Schauspieler werden, dann musste soetwas nie wieder passieren.

Meine Assistentin sah mich eindringlich an. Immer war bei ihr alles so wahnsinnig hektisch und ernst. Wenn es nach ihr ginge, würde ich wohl am besten keine freie Minute mehr im Leben haben.
„Betty, du denkst heute Abend an das Dinner mit dem neuen Produzenten oder?“, fragte sie mich zweifelnd.
„Aber natürlich. Ich habe es mir schon vor über einem Monat notiert“, antwortete ich genervt. Genau wie alle anderen, behandelte sie mich als ob ich nicht auf mich selbst achten könnte. Niemand traute mir Dinge zu, die über Schauspielern hinausgingen. Selbst wenn es nur so banale Sachen wie mein eigener Terminkalender waren. Eigentlich hatte ich die Kontrolle über mein Leben schon lange verloren. Oder besser gesagt, man hatte sie mir weggenommen. Meine eigene Mutter hatte mich in diese Situation gebracht. Als ich ein Teenager war, hatte sie mich auf unzählige Castings geschleppt, ob ich nun wollte oder nicht. Es interessierte sie nicht, dass ich eigentlich gar keine Schauspielerin werden wollte. Ihr lag nur die Verwirklichung ihres eigenen Traumes am Herzen. Sie wollte berühmt werden. Und da sie persönlich es in ihrer Jugend nicht geschafft hatte, musste ich diesen Traum eben weiter leben. Mitspracherecht bei dieser Entscheidung hatte ich da nur wenig. So oft fragte ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich damals mit dieser dummen Kinderserie nicht meinen Durchbruch gehabt hätte. Vielleicht hätte ich ein ganz anderes Leben führen können, eins fernab vom Rampenlicht.
Meine Produzentin verabschiedete sich noch mit der Ankündigung ein paar wichtiger Veranstaltung und verließ dann endlich mein Apartment. Doch meine Ruhe hatte ich trotzdem nicht. In weniger als einer Stunde musste ich bei dem Dinner mit meinem neuen Produzenten sein. Meine Freunde darüber hielt sich in Grenzen, er war noch pingeliger und perfektionistischer als sein Vorgänger. Wenn ich mir nur den leisesten Fehltritt erlaubte oder mal nicht perfekt 'funktionierte', machte er mir das Leben zur Hölle. Ich hatte nicht lange Zeit um mich schick zu machen und schon fand ich mich in der Lobby des Gebäudes wieder, in dem mein Apartment war. Mein Fahrer wartete bereits auf mich und begleitete mich zum Wagen. Er öffnete mir eine der hinteren Türen und lies mich einsteigen. Wie immer wechselten wir kein Wort auf der Fahrt. Es gab so viele Menschen in meinem Leben, über die ich rein gar nichts wusste, obwohl ich fast den ganzen Tag mit ihnen verbrachte. Noch nie hatte ich mit meinem Fahrer über etwas anderes als das Fahrtziel geredet, genauso wie es bei meiner Assistentin immer nur um wichtige Termine ging. Persönliche Nähe war meinen Angestellten ein Fremdwort. Mir fehlten einfach gute Freunde, mit denen ich über alles reden konnte, was mir auf dem Herzen lag. Eigentlich hatte ich sogar viele sogenannte Freunde. Oder besser gesagt, ich hatte viele Personen die behaupteten, meine Freunde zu sein. Sie posteten Fotos von mir auf allen möglichen sozialen Medien, betonten immer wieder was für einen tollen Charakter ich hatte und wie viel Spaß man mit mir auf Galas und Partys haben konnte. Doch eigentlich kannten sie mich nicht wirklich. Unser Kontakt war fast genauso oberflächlich wie der mit meinen Angestellten. Alles nur Schein. Nicht einmal meine eigene Mutter war wirklich für mich da. Ihr ging es nur um meine Karriere, nicht wirklich um mich. Die Fahrt dauerte nicht lange und wir kamen für meinen Geschmack viel zu schnell bei dem Restaurant an. Mein schmieriger Produzent wartete bereits draußen auf mich und öffnete mir die Autotüre. Er begrüßte mich herzlich mit Handkuss und für Außenstehende wirkte es wohl tatsächlich, als würde er sich freuen mich zu sehen. Doch natürlich wusste ich, dass das nur Automatismen waren.
Er begleitete mich nach drinnen und wir setzten uns zu ein paar anderen Darstellern aus dem neuen Film an den Tisch. Essen wurde bestellt, teurer Champagner getrunken und natürlich über das Drehbuch gesprochen. Drehstart war morgen, alles musste perfekt vorbereitet sein. Ich hatte mir einen großen gemischten Salat bestellt, in welchem ich lustlos herumstocherte. Mein Produzent beäugte mich kritisch.
„Übernimm dich mal lieber nicht, das ist ja doch eine ziemlich große Portion für eine so zierliche Frau“, ermahnte er mich und lachte, als wäre es ein Scherz gewesen. Doch ich wusste, dass es keiner war. Er hatte wohl Angst ich würde zunehmen und morgen nicht mehr in meine maßgeschneiderten Kostüme passen. Doch keine Sorge, zugenommen hatte ich schon lange nicht mehr. Es dauerte nicht lange, bis alle mit dem Essen fertig waren, und der Kellner die Teller wieder holte. Ich verabschiedete mich kurz, um mich etwas frisch zu machen. Auf dem Weg zur Toilette hatte ich schon ein flaues Gefühl im Magen, er wusste was ihm bevor stand. Ich schloss hinter mir ab, kniete mich auf den Boden und steckte mir den Zeigefinger tief in den Hals, bis ich mich schließlich übergab. Es war Routine für mich, ich tat das jeden Tag. Ich tat es nicht einmal für mich, mir war meine Figur egal. Es ging nur um die Karriere. Niemand wollte eine dicke Schauspielerin in der Hauptrolle. Ich musste immer in Top Form sein, wenn ich große Rollen ergattern wollte.
Nach einigen Minuten ging ich zum Wachbecken und wusch mir die Hände und den Mund. Tränen waren mir in die Augen gestiegen, welche ich mit einem Papiertuch wegwischte. Dann stand ich da vor dem Wachbecken und betrachtete mein Spiegelbild. Mein wunderschönes Spiegelbild. Das perfekte Lächeln, mit den perfekten Zähnen, strahlend weiß und gerade. Perfekte, ebenmäßige Haut, funkelnde Augen und seidige Haare, die alles umrahmten. Ein perfekter Kopf auf einem perfekten Körper. Doch war es das wirklich wert? Ich wusste, dass viele Leute neidisch auf mich waren. Wegen meinem Aussehen, wegen meiner Karriere, wegen meiner Berühmtheit, wegen meinem Geld. Doch wahre Freunde und Zuneigung waren alles Geld der Welt wert. Zumindest für mich. Ich hätte alles hingeschmissen für nur eine richtige Bezugsperson. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre hässlich geboren worden. Mit Übergewicht und Akne in der Pubertät, hätte mich meine Mutter nie zu einem Casting gebracht. Ich müsste mich nicht jedes mal nach dem Essen übergeben und hätte vielleicht mittlerweile eine Familie. Einen Mann der mich so liebt, wie ich nun mal war.

Doch alles nur Hirngespinste, denn immerhin kann man sich nicht aussuchen, wer man ist. Man muss eben das Beste daraus machen.

 

Hallo lindastelling,

das ist schon ganz interessant, was du hier machst. Du spazierst von einem Menschen zum anderen, zeigst, wie keiner von ihnen mit seinem Schicksal wirklich zufrieden ist, sich wünscht, ein jeweils anderer zu sein. Dabei hat es ein wenig gebraucht, bis ich dein Schema erkannt habe, weil mich am Anfang die durchgängige Ich-Perspektive verwirrt hat.
Wenn das Springen von der einen zur anderen Person dann aber klar wird, erschließt sich mir auch das Verbindende deiner ‚Collage’: Keine der gezeigten Personen ist mit ihrem Sein wirklich zufrieden.

Alle meine Probleme wären verflogen, hätte ich nur so ausgesehen wie sie.
Was würde ich nur dafür geben, wieder in der Haut eines unbekümmerten Kindes zu stecken.
Ich würde später auch mal ein Schauspieler werden, dann musste soetwas (so etwas) nie wieder passieren
.

Doch wahre Freunde und Zuneigung waren alles Geld der Welt wert. Zumindest für mich. Ich hätte alles hingeschmissen für nur eine richtige Bezugsperson.
Und daraus ziehst du am Ende die etwas platte Erkenntnis:

Doch alles nur Hirngespinste, denn immerhin kann man sich nicht aussuchen, wer man ist. Man muss eben das Beste daraus machen.
Wie finde ich deine Geschichte? Sprachlich machst du das recht gut. Ich kann mir die Personen und Situationen, die du skizzierst, gut vorstellen. Eigentlich erzählst du mir ja vier verschiedene Geschichten und jede wäre eine Kurzgeschichte für sich. Vier Leute reflektieren ihr konkretes Dasein und stellen fest, dass sie damit auf die eine oder andere Weise nicht zufrieden sind und lieber jemand anders sein möchten. Und das ist dann auch die Aussage deiner Geschichte. Mir ist das insgesamt ein bisschen zu wenig für eine interessante Gesamt-Geschichte. Der in den einzelnen Episoden jeweils dargestellte Inhalt ist mir dabei zu sehr auf die Aussage hin konstruiert.
Du erzählst wirklich gut und hast auch ein gutes Gefühl für Details. Nur scheint mir, dass du dich hier ein wenig zu sehr der Reigen-Idee*) verschrieben hast, was die Kraft der einzelnen Teile deines Textes schwächt. Aber das ist nur mein Empfinden und muss nicht unbedingt richtig sein.

Zur formalen Seite deines Textes habe ich mir ein paar Stellen notiert, habe aber im Moment leider keine Zeit, alles aufzulisten. Im zweiten Teil gibt es einige Komma- und Substantivierungs-Fehler und das Wörtchen ‚ließ’ schreibst du nur am Anfang richtig.

Liebe Linda, ich begrüße dich bei den Wortkriegern und wünsche dir hier viel Spaß.

Liebe Grüße
barnhelm


*) https://de.wikipedia.org/wiki/Reigen_(Drama)

 

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