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Durch den Türspion
Als ich meinen Sohn das erste Mal wiedersah, war seine Beerdigung mittlerweile sechs Wochen her. Jonathan war im Juli bei einem Motorradunfall umgekommen. Ich lag im Bett und versuchte seit einer geschlagenen Stunde, meinen Kopf frei zu bekommen.
Die Digitaluhr auf meinem Nachttisch blinkte vier eckige, blaue Nullen auf das gerahmte Bild meiner Söhne. Jacob hatte den Arm um seinen großen Bruder gelegt. Jonathan trug damals schon ein weißes Hemd, wie er es auch später als Mann oft getragen hatte.
Ich hörte ein Geräusch auf dem Flur, schob es jedoch auf das atmende Holz der Wohnung und das Knarren der Dielen.
Jonathans Augen zwinkerten mir zu, blinkten blau, als es das zweite Mal passierte. Es war ein einzelnes Klopfen.
Ich befreite meine steifen Beine aus dem Laken, streckte das Kreuz, und machte mich auf den Weg in den Flur. Mir wurde sehr kalt, als ich mich der Haustür näherte und mein Atem machte kleine Wölkchen.
Als es das dritte Mal klopfte, regten sich die Haare auf meinen Unterarmen. Diesmal war es unbestreitbar die Haustür gewesen, ein einzelner Knöchel der auf Holz schlug. Also legte ich ein Auge an den Türspion.
Ich sah schwarze Schatten an den Wänden im Treppenhaus und einige, vom Mondlicht weiß gefärbte, Stufen.
Als ich Jonathan in der hinteren Ecke des Aufgangs entdeckte, verschwamm mein Blick unter Tränen.
Er trug ein schwarzes Jackett mit Hemd, den Rücken kerzengerade, die Arme nach hinten verschränkt und die Augen auf den Boden gerichtet.
Eilig riss ich die Tür auf und rief seinen Namen in den Hausflur. Ein Nachbar über mir kam heraus und antwortete etwas wie: „Haben sie mal auf die Uhr gesehen?“
Ich stand mit einem Fuß im Treppenhaus und sah die düstere leere Ecke vor mir. Kein Jonathan.
Ich ging betrübt zu Bett. Blieb die ganze Nacht wach, in der Hoffnung vielleicht noch einmal ein solches Klopfen zu hören.
Es war Vormittag. Ein Paketlieferant klingelte an meiner Haustür und wartete. Ich spähte durch den Türspion und sah ihn. Hinter dem Paketboten, in der Ecke des Aufgangs. Das Jackett stand ihm unheimlich gut und schien um die Taille herum sogar besser anzuliegen, als der Anzug in dem er beerdigt worden war.
Der Lieferant rief: „Paket für Storch, jemand da?“
Jonathans Kopf hob sich. Er nickte mir zu. Und er lächelte.
Wie am Vorabend stieß ich die Tür auf. Der Paketbote schrie und warf mir das Päckchen entgegen.
„Jonathan?“, rief ich über die Schulter des Mannes mit der gelben Kappe.
„Nein“, antwortete dieser leicht verwirrt. „Hermes.“
Ich unterschrieb seinen Wisch und schloss die Tür, um wieder durch den Spion zu sehen. Der Paketbote stieg die Treppenstufen hinab. Ansonsten war niemand im Treppenhaus.
Ein paar Tage später läutete Jacob an meiner Haustür. Er hatte für mich einen Sack Äpfel aus dem Garten dabei. Jonathan stand direkt hinter ihm, nickte mir zu und lächelte, aber nur solange ich ihn durch das kleine Bullauge betrachtete. Als ich Jacob herein ließ, kam Jacob alleine herein. Ohne Jonathan. Ich kochte Kaffee auf. Kuchen lehnte Jacob ab, denn er musste die Kinder aus der Krippe abholen.
Es war Ende August, als ich Jonathan das letzte mal sehen sollte.
Laut dem Wecker war es bereits nach Mitternacht. Jemand hämmerte energisch an meine Haustür und der Kleiderhaken an der Wand klirrte so sehr, dass mein Winterschal hinabfiel.
Auf dem Weg zur Tür warf ich mir einen Bademantel um die Schultern. Eine Stimme klang aus dem Treppenhaus.
„Aufmachen“, rief ein Mann. „Meine Freundin braucht Hilfe. Ihr Kopf blutet.“
Ich wollte bereits die Tür öffnen, besann mich dann aber eines Besseren, oder eben auch eines Schlechteren, wie man vielleicht annehmen könnte. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und lugte durch den Spion.
Das Treppenhaus war schwarz. Der Mond verbarg sich hinter Wolkenschwaden und warf kein Licht durch die Fenster.
„Lassen sie uns rein“, sagte ein Mädchen und stöhnte.
Ich erkannte den Mann kaum. Durch das konvexe Glas des Spions wirkte sein Gesicht geschwollen, als würde sein Kopf in einem Goldfischglas stecken. Auf dem Treppenabsatz saß ein Mädchen. Sie krallte beide Hände an ihre Stirn, wippte vor und zurück. Es sah so aus, als würde sie sehr intensiv grübeln. Dann stöhnte sie wieder, diesmal kehlig und tief.
„Machen sie auf“, sagte der Mann und hämmerte mit der Faust an die Tür. „Wir hatten einen Motorradunfall. Sie braucht Hilfe.“
Meine Finger berührten die Türklinke. Und dann sah ich ihn. Jonathan, hinter den Beiden, die Arme auf dem Rücken verschränkt, die Augen leuchteten. Er lächelte nicht.
„Sie stirbt, wenn sie nicht aufmachen. Wollen sie das etwa?“
Jonathan beachtete das Mädchen nicht und auch nicht den Mann, der jetzt an meiner Tür lehnte. Er sah nur zu mir. Suchte mich. Durch den Spion. Seine Augen strahlten so blau und kalt, wie Alpeneis auf hohen Gipfeln.
Jonathan schüttelte den Kopf langsam von links nach rechts.
Ich ließ meine Hand von der Klinke sinken.
„Machen sie bitte auf. Bitte“, sagte der Fremde und das Mädchen weinte.
Jonathan schüttelte den Kopf. Immer und immer wieder.
„Wir wissen, dass sie da sind. Aufmachen. Bitte.“
Und dann antwortete ich: „Nein.“
Und das Mädchen ließ ihren Kopf los, hörte auf zu weinen, stand auf. Der Mann drehte sich um. Sie gingen langsam die Treppenstufen hinab, ohne ein Wort zu sagen.
Wolken zogen weiter, Mondlicht legte sich in das kohlenschwarze Treppenhaus und Jonathan verschwand vor meinem Auge, das allmählich wegen der Kälte tränte, die aus dem Loch des Türspions drang.
Erst verblasste sein Körper allmählich, bis nur noch seine Kleidung steif im Flur stand. Dann verschwand auch diese und zu guter Letzt auch das Blau, das seine Augen auf den Flur geworfen hatten.
Ob ich an diesem Abend einen Fehler begangen habe, kann ich nicht sagen. In der Zeitung las ich nichts von einem Motorradunfall und auch in den Nachrichten wurde nichts darüber berichtet.
Nachts betrachte ich das Bild auf meinem Nachttisch. Jonathans Augen blinken blau und ich stelle mir vor, dass sie auf mich aufpassen.