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Durch den Nebel gucken
„Abenteuer?“, frage ich!
Klar weiß ich was sie meint, aber so offensichtlich möchte ich es nicht machen.
„Dir fehlt das Abenteuer?“
Der genervte Blick nervt mich wiederum. Was erwartet sie, frage ich mich? Ich bin weder Indiana Jones, noch liefert mein Lebensstil irgendwelche Anhalte darauf, dass ich morgen aussteigen würde und Bananen in Guatemala züchten wollte.
Ich bin 55, habe einen Sohn und lebe seit vielen Jahren in wechselnden Partnerschaften. Ich kann lieben und möchte geliebt werden. Aber irgendwann stelle ich immer wieder fest, dass ich nicht das Objekt des „Geliebt-Werdens“, sondern eine Vorstellung bin. Ein Bild, dass ich scheinbar auslöse. Wo auch immer das herkommen mag. Ich steuere das nicht, es passieret mir einfach. Folglich bin ich das Problem. Und „Zack“, schon wieder die gleiche Scheiße!
Mittlerweile kenne ich diese Diskussionen. Immer kurz vor dem Ende…
Die Erwartungen, die ich offensichtlich auslöse, werden nicht erfüllt. Die Erwartung wird ganz zu Beginn und versteckt an mich gestellt. Ich merke das nicht! Und jedes Mal bin ich wie vor den Kopf gehauen, wenn es dann plötzlich zur Sprache kommt. Ich verspreche nichts, einzig und alleine biete ich mich an. Mit allen Fehlern, allen wunderbaren und sonderbaren Eigenschaften. Mit dem unbedingten Willen etwas Gutes daraus zu machen und der Angst es wieder zu verkacken.
Im neuen Kreis der Freunde werde ich vorgestellt und zeige meine großzügig vorhandene Qualität sympathisch und nicht verhuscht zu sein. Ich klebe nicht an der Hand und zeige dennoch das sie mein Mensch ist. Sie mag es, dass mich alle so nett finden und ich buhle nicht um diese Sympathie. Ich bin tatsächlich so. Ich halte mich selber für ein simples Gemüt. Jemanden, den ich bisher noch nicht kannte, trete ich offen und ohne Vorbehalte gegenüber. Stellt sich raus, dass er das auch so handhabt, können wir Kumpels werden. Sieht man mich jedoch aus irgendwelchen, unempfindlichen Gründen, durch eine vorgeprägte Schablone an und geht in eine distanzierte Rolle, so akzeptiere ich das. Wie gesagt, ich buhle nicht.
Stellt sich heraus, dass jene Person ein tiefes Bedürfnis hat sich instinktiv in eine dominante und belehrende Funktion zu begeben, dann lasse ich ihr den Spaß. Warum auch nicht? Chacun a son gout!!!
Werde ich jedoch angefeindet, halte ich das befristet aus. Ist diese Frist abgelaufen, wehre ich mich. Erst durch Ignoranz, dann – bleibt dieser Versuch erfolglos - auch mit Worten und einer eigens dafür eingebauten Arroganz und maximalen, gespielten Überheblichkeit. Dann möchte ich diese Person zum Feind haben. Mit feinem Kalkül und zeitgleicher Härte werde ich alles geben um mein Ego zu stärken und ihres zu schwächen. Ich bin kein Feind den man sich wünscht.
Aber bis dahin dauert es.
Menschen sind ein Phänomen. So sehr sie mich faszinieren, so sehr können sie mich auch anwidern. Diese komische Spezies, die so viel kann und sich dabei auch so oft selbst im Wege steht.
Und sie fragt mich danach wo das „Abenteuer“ bleibt? Das Besondere und Außergewöhnliche. Der Sprung vom Burj Khalifa in den Pool, das Snowboarden am Manaslu oder der fiktive, samstagmorgendliche Sex in der Umkleide bei C&A.
Ich gehe eh lieber zu H&M. So what?!
Und wie tief müsste ein Pool sein, dass man gefahrlos vom Burj Khalifa hineinspringen könnte? Abgesehen davon ist es ab einer Höhe von etwa 30 Metern als ob man auf Beton aufschlagen würde. Macht also nur Sinn, wenn man suizidal oder doof ist.
Und, darf man am Manaslu snowboarden? Lassen wir die unwesentliche Kleinigkeit beiseite, dass ich nicht snowboarden kann, bleibt immer noch die Frage ob ich das überhaupt möchte?
Klar!!! Ich weiß selbst, dass diese Beispiele nur Metaphern für etwas anderes sind. Sie sagt mir durch die Blume, dass sie Würze braucht. Eine Abwechslung von ihrer, subjektiv empfundenen, Eintönigkeit. Du merkst das, wenn Du beim Abendbrot für den heutigen Tag einen Netflix-Abend vorschlägst und ein maximal genervtes Augen-verdrehen erntest. „Was, schon wieder?“ Ja, ist schon gut.
Aber wenigstens habe ich was vorgeschlagen und sie hatte keinen Alternativvorschlag. Dennoch bin ich das Problem, weil ich „so wenig kreativ“ bin.
„Dann lass uns Kinder-machen üben!“ Smile!
Oh Gott! Dummer Fehler. Dumme Antwort. Aber immerhin der Versuch etwas Schärfe aus dem Gespräch zu nehmen.
„Denkst Du, dass das alle Probleme lösen kann?“ (Ja, mitunter macht es das Leben erfreulicher!). „Kannst Du Dir vielleicht ausmalen wie ICH mich dabei fühle (hoffentlich gut!)? Bin ich denn nur noch ein Objekt für Dich? Du behandelst mich wie ein Stück Holz.“
„Früher“… STOPP!!!
Wenn ein Satz von ihr mit „Früher“ beginnt sind sämtliche Alarmanlagen auf Stufe 9 von 10 geschaltet. „Früher hast Du Dir noch Mühe gegeben. Nicht alles ins Lächerliche gezogen und mich als Frau wahrgenommen. (Hey, das ist nicht fair. Du hast immer gesagt, Du liebst meinen Humor und auch das Gefühl von mir berührt zu werden. Piss jetzt nicht rum… boah!). Ich hätte nie gedacht, dass wir irgendwann in dieses „Alte Leute Schema“ verfallen. Und Du hast anscheinend kein Bedürfnis irgendetwas daran zu ändern.“
Ist es tatsächlich so, dass Dinge, die immer für gut und erstrebenswert gehalten wurden, irgendwann mit Langeweile und Routine gleichgesetzt werden? Sie schickt doch auch ein Emoji mit Herzen als Augen, wenn sie ein 80-.jähriges Ehepaar händchenhaltend auf der Parkbank sitzen sieht. Und das heißt für mich dann, dass es ein schöner und erstrebenswerter Moment ist. Aber vielleicht bin ich zu blöd um das zu verstehen?
Nein, bin ich nicht. Das möchte ich jetzt mal festhalten. ICH bin nicht das Problem. Au contraire, ma Chère! Ich bin die Lösung! Vielleicht eine ungewollte, aber dennoch akzeptable Lösung. Ich bin nicht für alles verantwortlich und mit Sicherheit helfe ich Dir, wenn Du mich brauchst. Aber mach mich nicht zu einem Problem, welches komplett außerhalb meines Verantwortungsbereichs liegt und an dem ich keine Schuld trage.
Ich bin 55 Jahre alt, habe einen Sohn und versuche auch ihm die Einfachheit des Lebens zu vermitteln. Der übliche Schnodder: „aufstehen, wenn man gefallen ist“, „aus jedem Rückschlag was Positives ziehen“, „wenn Du denkst es geht nicht mehr, kommt…“. Ich mache das, weil ich daran glaube und (Zack, jetzt kommt noch einer) die Zeit immer eine Momentaufnahme ist und letztlich alle Wunden heilt.
Ich gucke in den Himmel und sehe die unendliche Weite dahinter. Die Bedeutungslosigkeit unseres mikrokleinen Kosmos und gleichzeitig die Wichtigkeit jedes einzelnen Menschen. Ich sehe das Privileg, das mir meine reine Existenz bereitet. Die Selbstverständlichkeit durch vegetative Prozesse zu atmen ohne darüber nachdenken zu müssen. Nicht grunzen oder zischen zu müssen um meine Anliegen vorzutragen. Dieses wunderbare Instrument der Sprache und des Schreibens nutzen zu können um etwas mitzuteilen. Das unfassbare Glück im richtigen Abstand zur Sonne und damit im habitablen Bereich zu liegen. All die fantastischen Dinge, die das Leben so lebenswert machen. Und damit meine ich nicht nur, dass Alexa auf Zuruf mein Lieblingslied spielt oder ich vom heimischen Sofa mein Essen bestellen kann. Es ist auch der Kirschbaum, der zuverlässig jedes Jahr reichlich Früchte spendet und ansonsten einfach nur da steht. Unberührt von irgendwelchen persönlichen, politischen oder gesellschaftlichen Scharmützeln.
Ja, ich bin old-school, verträumt, von einfachem Gemüt und leicht zu befriedigen. So mag man das sehen. Ich hingegen denke, dass ich durch den Nebel gucke.
„Na gut,“ sagt sie, „lass uns den „Joker“ auf Netflix gucken. Bea sagt, der soll gut sein.“ Ich versuche mein Erstaunen zu kaschieren.
„Da freue ich mich jetzt richtig drauf.“, meint sie mit einem kindlich-vorfreudigen Grinsen.
Während ich mit den Fernbedienungen hantiere legt sie ihren Kopf auf meine Schulter und ich fühle mich wohl. Sagte ich, dass ich von schlichtem Gemüt bin?