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Duplizität
Duplizität
Anmerkung des Autors
Meines Wissens existiert kein Autor der phantastischen Literatur, der nicht einen Roman, oder zumindest eine Kurzgeschichte über die gute alte Zeitmaschine veröffentlicht hat. Dabei sind fast alle nur denkbaren Pointen herausgekommen, so dass es schwer fällt, diesem Evergreen eine neue Facette abzugewinnen. Ein Grund mehr, es zu versuchen, lieber Leser!
Professor Lepton schenkte sich einen Kaffee ein und grinste fröhlich vor sich hin. Eine Zeitmaschine sei unmöglich. Pah – von wegen! Er hatte keine 5 Jahre gebraucht, um sie zu planen, konstruieren und zu bauen. Es war eigentlich ganz einfach. Man brauchte nur...
Ach, das verstehen Sie ja doch nicht!
Seine ignoranten Kollegen würden vor Neid erblassen. Er freute sich schon auf Stockholm und die Verleihung des Nobelpreises für temporale Physik. Ein letztes Mal ging er die Schaltkreise durch, vergewisserte sich, dass der Lepton-Generator, wie er ihn bescheiden getauft hatte, einwandfrei funktionierte, die alternative Energieversorgung für den Tachyonen-Konverter sichergestellt war und warf das Programm an. Sein Vertrauen in die von ihm geschaffene Technologie war derart groß, dass er sich spontan entschloss, einen Selbstversuch zu wagen. Er stellte die Zeit auf t minus eine Stunde und begab sich auf die Plattform. Der Professor sah noch mal auf seine Armbanduhr, um den historischen Moment zu verinnerlichen. Dann war der Countdown abgelaufen...
Professor Lepton schenkte sich einen Kaffee ein und grinste fröhlich vor sich hin. Eine Zeitmaschine sei unmöglich. Pah – von wegen! Er hatte keine 5 Jahre gebraucht, um... huch! Jemand hatte ihn auf die Schulter getippt. Er wirbelte herum und blickte in sein Spiegelbild, das ihn freundlich anlächelte, erschrak heftig, wobei ihm die volle Kaffeetasse entglitt, über seine Arbeitsplatte schlidderte und sich in eine Steuerkonsole ergoss, die funkensprühend protestierte und ihrem Unmut mit einem heftigen Kurzschluss Ausdruck verlieh.
“Fass mich nicht an! Bist du irre? Zwei Körper können nicht denselben Raum einnehmen, genauso wenig wie ein Körper zwei verschiedene Räume einnehmen kann. Das müsstest du doch am Besten wissen.”
“Paulis Postulate gelten nur innerhalb ihres Referenzrahmens, das heißt jeweils innerhalb einer bestimmten Dimension. Da ich aus einer anderen Dimension komme, besitze ich meinen eigenen Körper.”, antwortete sein alter Ego und trat ihm zum Beweis gegen sein Schienbein.
“Aua! Tatsächlich. Wie kommst Du überhaupt hier her?”
“Das wäre dir in einer knappen Stunde eingefallen.”
“Du meinst, du, äh ich, mache einen Selbstversuch?”
“Yup.”
“Und woher wusstest du, dass das Pauli-Prinzip in unserem Fall nicht gilt? Hast du unterwegs ein Buch gelesen?
“Ich bin durch die Zeit gegangen, besser gesagt, ich habe die Dimension gewechselt. Diese Erfahrung erweitert deinen Horizont.”
“Wann?”
“18.26.”
“Verdammt, wir haben noch 49 Minuten, um dich zurück zu schicken. Mein Gott, die Konsole!” Entsetzt nahm er die Verkleidung ab und starrte fassungslos auf die verschmorten Schaltkreise: “Das schaffen wir nie!”
“Na und?”
“Zeitreisen scheinen das Gehirn zu schädigen. Im Universum existiert nur eine bestimmte Menge Energie. Das bedeutet, seine potentielle Masse ist endlich. Ich kann also unmöglich 84 Kilo addieren. Das könnte zu einer Katastrophe führen.”
Professor Lepton senior – er war ja eine Stunde älter – schaute Professor Lepton junior mitleidig an: “Du hast es immer noch nicht kapiert. Natürlich bleibt die Summe aller Energie und Materie im Universum konstant. Du hast auch keine 84 Kilo addiert, sondern transportiert. Der lineare cosmologische Zeitpfeil funktioniert nicht so, wie Penrose und Hawkings ihn sich vorgestellt haben. Er trifft auf ihren Referenzrahmen zwar zu, doch sie begingen den Fehler, zu glauben, ihr Referenzrahmen sei der einzige. Dabei hat Penrose in der Theorie bereits im 20. Jahrhundert bewiesen, dass nicht nur 4 Dimensionen existieren.”
“Du meinst die Sache mit den multidimensionalen Kacheln.”
“Nein, ich meine Alice im Wunderland. Natürlich meine ich die Kacheln, du Kleingeist. Stell nicht so blöde Fragen! Wir haben dieselbe Ausbildung. Kaum zu glauben, dass ich noch vor einer Stunde derart ignorant war. Also das Universum ist multidimensional. Pass auf!”
Er nahm die Kaffeetasse, zerschmetterte sie auf dem Fußboden, und erklärte: “Allein durch diesen Akt habe ich eine neue Dimension geschaffen, denn es existiert weiterhin eine Dimension, wo du weniger begriffsstutzig bist und ich die Tasse nicht zerschlage. Es existieren unendlich viele Dimensionen nebeneinander. Mit jeder Entscheidung jedes einzelnen Teils des großen Ganzen entsteht eine Gabelung, aus der zwei neue Dimensionen entstehen. Eine mit kaputter, eine mit heiler Tasse. Eine mit zweien von uns und eine Dimension, in der Professor Lepton auf unerklärliche Weise verschwand. Diese Dimensionen stellen die unendlich vielen Facetten des großen Ganzen dar. Die Summe des Großen ganzen bleibt trotzdem endlich. Ich habe mich lediglich von einer Dimension subtrahiert und zu einer anderen addiert. Gut, dass ich in jeder dieser Dimensionen eine zweite Zahnbürste habe.”
“Das bedeutet ja, es kann unmöglich ein Zeitparadoxon entstehen...”
“Jetzt hast du es geschnallt. Wenn ich meinen Vater umbrächte, bevor er mich zeugt, dann nur den Vater in der Dimension, in die ich gereist bin. Es ist also quasi nicht mein Vater, sondern der eines anderen Professors aus einer anderen Dimension. Meinen eigenen Vater kann ich nur in meiner eigenen Dimension töten. Da passiert überhaupt nichts, ich komme höchstens in den Knast. Ich höre nicht auf, zu existieren, weil ich nie geboren wurde, denn ich kann meinen Vater nur nach meiner Geburt umbringen. Wechsele ich die Dimension, ist es nicht mein Vater. Damit schaffe ich eine Dimension, in der mein alter Ego nicht geboren wurde, doch es betrifft mich in keinster Weise. Es existieren gewiss auch Dimensionen, wo Mutter vor unserer Geburt ums Leben kam, wo der Homo sapiens ausstarb oder nie entstand, und trotzdem stehen wir hier und erfreuen uns bester Gesundheit.”
“Wie kannst du dir so sicher sein?”
“Bin ich nicht. Es ist nur die einzig mögliche Erklärung, die mit den Naturgesetzen übereinstimmt. Wenn ich mich irre, müsste sich einer von uns in einer halben Stunde auflösen.”
“Das wärst dann aber du.”
“Bist du sicher?”
Sie lachten herzlich, denn sie hatten dieselbe Art Humor. Dann stritten sie sich noch eine halbe Stunde über Spitzfindigkeiten. Es war dieser Dialog, den wir alle mit uns selbst führen, nur dass wir uns dabei meist ausreden lassen und uns nicht ins Wort fallen. Soll ich oder soll ich nicht? Richtig oder falsch? So zwiespältig wie unsere Entscheidungen oft ausfallen, so zwiespältig, so kontovers diskutierten die Beiden. Doch da ihre wissenschaftliche Überzeugung trotz aller Widersprüche recht ähnlich war, gelangten sie über These und Antithese schnell zu einer gemeinsamen Synthese – ein äußerst konstruktiver Streit. Plötzlich sah Lepton junior auf seine Armbanduhr und schluckte: “Noch eine Minute. Falls wir uns irren – du hast mich zwar weitgehend überzeugt, aber falls wir uns irren, möchte ich dir noch sagen, äh, dass es nett war, dich kennen zu lernen.”
“Selbstverliebter Bastard!”
Sie mussten schon wieder lachen, doch als der Sekundenzeiger sich der kritischen Marke näherte, nahmen sie einander bei den Händen. “Wir schreiben Geschichte.”, sagten sie simultan. Dann geschah es:
Nichts.
Sie verharrten noch einige Sekunden regungslos in Erwartung irgendeiner Katastrophe, die sich jedoch weigerte, einzutreten. Dann grinste Professor Lepton Junior sein alter Ego an: “Deine Uhr geht vor!”
Sie diskutierten mehrere Wochen, wie man diese Erfindung nutzen könne. Dabei kam man überein, dass es sinnlos wäre, in die Vergangenheit zu reisen, und beispielsweise Adolf Hitlers Mutter eine Östrogenspritze zu verpassen, denn in diesem Fall würde der Diktator in einer bestimmten Dimension nicht geboren werden, doch das würde nichts an der Judenverfolgung und dem 2. Weltkrieg ändern, jedenfalls nicht in der Dimension, aus der sie kamen. Dasselbe Prinzip galt für alle anderen Katastrophen. Man konnte sie in vielen Dimensionen verhindern, nur nicht in der eigenen. Selbst wenn man in die Zukunft reiste, um davon zu erfahren, kehrte man nie in die eigene Dimension zurück, denn allein durch die Erlangung dieses Wissens hatte man die Dimension gewechselt. Die Leptons konnten sich so zwar ihre eigene Dimension auswählen, in der alles nach Plan verlief, doch das war ihnen zu egoistisch. Sie wollten ihre Erfindung zum Wohle der Menschheit nutzen. Ihrer Menschheit in ihrer Dimension. Wenn ihnen das gelang, würde es auch vielen anderen Parallelwelten zugute kommen, denn die Wahrscheinlichkeit war extrem groß, dass die vielen anderen Leptons in ihren Dimensionen dasselbe vollbrachten.
Die Idee kam ihnen eines späten Abends, als Professor Lepton senior zum Kühlschrank ging: “Du hast schon wieder das letzte Bier ausgetrunken.”
Junior lachte und hielt seine noch fast volle Flasche hoch: “Du könntest ja...”
Entgeistert starrten sie sich an: “Das ist es!”
Sie begannen mit einem Bier. Dann folgten eine Tomate, eine Pizza, ein Huhn und so weiter. Sie achteten darauf, immer wieder dieselbe Tomate, dasselbe Tier zu duplizieren. Auf diese Weise schufen sie in Laufe der Jahre Milliarden von Dimensionen, in denen nur eine Tomate, ein Huhn und eine Kuh verschwanden. Ansonsten hätte man ja andere Dimensionen ihrer Lebensgrundlage beraubt.
Die Lepton & Lepton Corp. kaufte sich eine Ranch in Zentralafrika, musste jedoch bald expandieren. Nachdem der Welthunger besiegt war, duplizierten sie Solarzellen und lösten die Energiekrise.
Durch die Zeit reisten sie nie wieder. Es brachte einfach nichts.