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- 21.04.2015
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Dunkle Zeilen
Da steht sie. Die Frau mit der fahlen Haut und dem stechenden Blick. Starrt Paula an mit großen dunklen Augen, die alles um sie herum aufsaugen wie ein schwarzes Loch. Ihre Stimme klingt wie klirrendes Eis. „Geh nicht. Ich will dir doch eine Geschichte über mich erzählen. Sie wird dir gefallen, glaub mir. Komm her, gib mir deine Hand, wir laufen ein Stück!“
Das ist keine Bitte. Sie lächelt und streckt ihre blasse Hand nach Paula aus. Die Nähe ist unerträglich. Paula will sich dem Griff entziehen, doch sie kann sich nicht bewegen. Panik fließt durch ihren Körper, schnürt ihr die Kehle zu, drückt auf ihre Brust. Ihr Atem geht schneller. Sie muss hier weg! Weit weg von dieser Frau.
***
„Dieses Mal klappt es! Mein erstes Buch, so wahr ich hier sitze!“ Kerzengerade und mit ernster Miene streckt Paula Zeige- und Mittelfinger in die Höhe, um ihrem Schwur Gewicht zu verleihen.
Sie sieht zu Ben auf, der neben ihrem Schreibtisch steht. Seit vier Jahren sind sie nun schon zusammen. Geduldig verfolgt er ihre Kämpfe mit Stift und Papier. Sie hat ihm einmal erzählt, dass sie als Kind oft allein war. Sich von den anderen abschottete und lieber las, als quiekend auf der Schaukel zu sitzen. Ein Buch nach dem anderen, von einer Welt in die nächste. Das war es, was sie damals glücklich machte. Sie erinnert sich an seinen Blick. Warm, lächelnd – mit einem Hauch von Mitleid.
Sie verschlingt Bücher noch immer. Ihr zuliebe hat er es auch mal versucht, aber nicht lange durchgehalten. Er bemüht sich, aber wirklich verstehen kann er das alles nicht. Die Begeisterung in ihren Augen, wenn sie über die Zeilen fliegt. Den schwelenden Wunsch, selbst eine Welt zu erschaffen, die andere mit sich reißt. Das wollte sie schon damals.
Seitdem nimmt sie immer wieder neue Anläufe. Kurzgeschichten, Romananfänge, Satzfetzen. Sie feilt an ihrer Sprache, versucht Ideen umzusetzen. Doch da ist keine Verbindung zu ihren Worten. Zu ihren Figuren. Paula spürt den Drang zu schreiben, doch verliert immer wieder den Faden.
Jetzt ist es anders! Keine wilden Textfragmente mehr. Nein, ein richtiges Buch wird sie schreiben.
Ben verzieht das Gesicht. „Musst du damit denn unbedingt heute anfangen? Wo endlich die Sonne rauskommt? Wir wollten uns doch mit den anderen an der Isar treffen.“
„Ich hab ihn im Kopf, Ben!“ Paula starrt ihn an.
„Wen?“
„Den ersten Absatz. Ich habe endlich eine Idee, einen Anfang, Charaktere, die … Sieh mal hier.“ Sie wedelt mit Blättern herum. „Ich habe von meinen zwei Hauptfiguren schon kurze Beschreibungen fertig. Mit dem Aufbau fange ich gerade an. Das fühlt sich … ich weiß auch nicht … das könnte echt was werden.“
Paula greift nach Bens Hand. Die Anspannung in seinem Gesicht löst sich. „Okay, ich versteh schon. Dann mach mal. Wenn das Buch irgendwann fertig ist, krieg’ ich aber eine Widmung.“ Er küsst sie auf die Stirn, packt seinen Rucksack und zieht die Wohnungstür hinter sich zu.
Der Stift liegt ruhig in Paulas Hand, das weiße Papier blickt ihr erwartungsvoll entgegen. Sie ist bereit. Flüstert den Worten in sich zu, na kommt schon, sprudelt heraus, und schüttelt noch einmal die Hände aus. Und dann passiert … nichts. Der Anfang liest sich sperrig. Immer wieder korrigiert sie ihn. Entstellt ihn bis zur Unkenntlichkeit. Ihre Einfälle für Aufbau, Charaktere und Ablauf der Geschichte kommen ihr plötzlich dumm vor. Nichtssagend. Sie durchströmt das vertraute Gefühl, nichts schreiben zu können, was einen anderen Menschen interessieren könnte. Geschweige denn berühren. Zwei Stunden lang sitzt sie da, fängt einen Satz an, streicht ihn durch, zerknüllt Papier, raucht eine Zigarette und fängt erneut an – nur um wieder durchzustreichen.
Schließlich gibt sie auf.
Wochenlang schreibt Paula gar nichts mehr. Wird unzufrieden, frustriert, launisch. Bis Ben es nicht mehr aushält.
„Ja Paula, wie hast du dir das denn vorgestellt? Ein Abend vor dem Schreibtisch und schon flutscht ein Roman aus dir heraus?“
Stumm starrt sie auf den Boden.
„So einfach ist es nun mal nicht, so leid es mir tut. Ich weiß, wie wichtig dir das Schreiben ist, glaub mir. Aber gleich aufgeben und hier tagelang schlechte Laune verbreiten ist auch keine Lösung. Da musst du dich jetzt einfach mal durchbeißen.“
Er hat recht, das weiß sie. Es ist nicht leicht mit ihr. Aber unter das schlechte Gewissen mischt sich Trotz. Er versteht sie einfach nicht. Will er das überhaupt? Wäre es ihm nicht lieber, wenn sie einfach aufhörte zu schreiben? Sie wird es ihm schon zeigen. Allen wird sie es beweisen.
Doch das ändert nichts daran, dass sie nur Unsinn zu Papier bringt. Ein frustrierendes Gefühl. Vergleichbar mit einer ständigen Unruhe. Wie ein Brodeln unter der Haut.
Ab und zu denkt sie: Das ist es, das gab es so noch nicht, daraus könnte ich was machen! Dann lebt sie auf und kann es kaum erwarten, endlich mit dem Schreiben anzufangen. Im Idealfall reichen ihre Einfälle jedoch für zehn bis zwanzig Seiten, dann spuckt ihr Kopf keine Sätze mehr aus.
Sie lässt sich diese ständigen Tiefschläge nicht anmerken. Will sich nicht lächerlich machen. Nein, sie reißt sich zusammen. Aber sie spürt es. Dieses leichte Jucken an ihrer Schädeldecke und in ihren Fingerspitzen, das sie ständig begleitet.
Ein Jahr voll sinnloser Texte dümpelt vor sich hin. Paula verdrängt die Ruhelosigkeit. Beginnt, sich damit abzufinden, dass in ihr vielleicht doch nichts schlummert.
Dann passiert es.
***
Vereinzelte Sonnenstrahlen fallen durch die Baumkrone auf die Bank. Paula sitzt mit ein paar Kolleginnen aus der Personalabteilung in der Mittagspause und lauscht ihren Gesprächen. Plötzlich wird eine von ihnen immer lauter.
„Ich sag’s euch, die ist nicht normal im Kopf. Am Anfang fand ich sie ja ganz nett, ein bisschen schüchtern, aber eigentlich recht niedlich. Ich dachte mir, sie ist neu in der Stadt, also helfe ich ihr ein bisschen, Fuß zu fassen. Wir haben immer öfter was gemeinsam unternommen und sie ist richtig aufgeblüht, wurde offener und selbstbewusster. Hat richtig Spaß gemacht mit ihr.“
Die anderen Frauen nicken. Konzentriert hängen sie an den Lippen der Kollegin. Sie stemmt die Hände in die Hüften und schüttelt den Kopf. „Und dann fängt sie auf einmal an, sich die gleichen Klamotten zu kaufen wie ich. Am Anfang dachte ich, es sei ein Zufall, aber dann passierte das immer öfter. Ich hab sie natürlich darauf angesprochen, aber sie hat es abgestritten. Ihr sei gar nicht aufgefallen, dass ich auch so einen Pullover hätte. Und die Jeans? Die hätte ich doch nach ihr gekauft, ein lustiger Zufall. Pah, dass ich nicht lache! Irgendwann kam es mir so vor, als hätte sie exakt die gleiche Garderobe wie ich.
Als sie dann vor zwei Wochen bei Martins Geburtstag aufgetaucht ist, hat’s mich fast vom Stuhl gehauen. Da kommt die rein und trägt meine Frisur, aber haargenau.“
Allgemeines empörtes Aufschreien. „Das ist nicht dein Ernst!“
„Aber klar, wenn ich es euch doch sage. Die hat sich sogar ihre dunkelbraunen Haare blondieren lassen. Genau der gleiche Farbton wie meiner. Stellt euch das mal vor!“
„Was hast du dann gemacht?“, fragt Paula mit klopfendem Herzen.
„Na, was denkst du denn?“ Die Kollegin starrt sie mit funkelnden Augen an. „Ich bin sofort auf Abstand gegangen! Habe mir Ausreden einfallen lassen, um sie nicht mehr zu treffen. Mir war das echt zu viel.
Jetzt ruft sie ständig an. Schreibt mir SMS und fragt, wann wir uns wiedersehen. Muss ich denn so deutlich werden? Reicht es nicht, dass ich sie ignoriere? Das ist echt unangenehm, fast schon ein bisschen gruselig.“
Das ist es! Eine Frau. Besessen von einer anderen. Ein schleichender Prozess. Das Leben der anderen erscheint so viel schöner, erfolgreicher, lebenswerter als das eigene. Kennenlernen, Vertrauen aufbauen, zerstören. Um selbst zu dieser Frau zu werden. Keine Idee, die es nicht schon einmal gegeben hat, aber Paula hat sofort einen Anfang im Kopf, ein erster Satz, der vor ihr tanzt und viele weitere verspricht. Sie sieht die beiden Protagonistinnen vor sich, ganz besonders die besessene. Gedanken springen in ihrem Kopf umher: Einleitung, Aufbau der Charaktere, das erste Aufeinandertreffen, der Grund für ihre Besessenheit, warum gerade die Frau, was hat sie, was die andere unbedingt will, wie erschleicht sie sich ihr Vertrauen? Paula fühlt sich lebendig, zappelig, ungeduldig, bis zum Bersten mit Ideen gefüllt.
Aber sie hält sich zurück. Es ist nur eine Idee. Ob sie funktionieren wird, weiß sie noch nicht. Das redet sie sich immer wieder ein, um herunterzukommen von diesem seltsamen Hochgefühl.
Zu Hause beginnt Paula sofort zu schreiben. Als Ben vier Stunden später die Wohnungstür aufschließt, reagiert sie nicht. Ist versunken in die Geschichte, die da vor ihren Augen entsteht. Ben stellt ihr ein Glas Wasser hin und sie sieht zu ihm auf. Sein Lächeln wirkt verkrampft.
„Hier, nicht dass du mir verdurstest.“
***
„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“
Bens streicht Paula eine Haarsträhne aus dem Gesicht, reißt sie aus ihren Gedanken. Seine Worte sind an ihr vorbeigezogen – murmelnd, nicht greifbar. Sie blinzelt hektisch, als könne sie damit den Schleier wegwischen, der über ihrem Kopf hängt.
„Entschuldige, ich war gerade ganz woanders.“
„Das bist du in letzter Zeit ziemlich oft!“ In Bens Gesicht liegt Besorgnis, aber auch leise Wut. In letzter Zeit fühlt er sich weit weg an.
„Ich weiß. Es ist nur … “ Paula seufzt.
„Was? Was ist los?“
„Ach, nichts Schlimmes, wirklich. Es ist diese Geschichte, weißt du.“ Sie weicht seinem fragenden Blick aus und ordnet die vor sich liegenden Blätter. „Sie beschäftigt mich. Ich denke oft darüber nach. Wie geht es weiter, wie entwickelt sich meine Hauptfigur, solche Sachen eben.“
„Okay … Verstehe. Du schreibst ja seit Wochen wie eine Wahnsinnige. Glaub mir, ich find’s gut, dass du dich da so reinhängst …“ Er zögert, sieht aus dem Fenster. „Aber so langsam solltest du auch mal wieder an die frische Luft. Immer nur arbeiten und danach an den Schreibtisch hetzen, das kann’s ja auch nicht sein. Ab und zu ist doch sicher mal ’ne Pause drin, oder?“ Ben streicht ihr über den Arm, musterte sie. Langsam entspannen sich seine Züge. „Na komm, lass uns was essen gehen.“
Sie nickt, erleichtert, dass er nicht merkt, was wirklich mit ihr los ist. „Machen wir. Ich springe nur schnell unter die Dusche, okay?“
Das Wasser prasselt auf Paula herab. Während sie beobachtet, wie der Schaum in den Abfluss gespült wird, wünscht sie sich, ihr Gedankenchaos täte es ihm gleich. Seit ein paar Tagen spürt sie Bens Ungeduld, die wie heiße Luft zwischen ihnen flimmert. Hört das flache Atmen, wenn sie seinen Vorschlag, etwas zu unternehmen, erneut ausschlägt. Sieht den gereizten Blick, wenn er ihr einen Abschiedskuss gibt, um anschließend alleine zu Verabredungen loszuziehen, bei denen er sie gerne dabei hätte.
Aber was soll sie tun? Ihm den Grund nennen, warum sie wie wild schreibt und kaum mehr vor die Tür geht? Nein, das wird – das kann – Ben nicht verstehen. Sie versteht es ja nicht einmal selbst.
***
Vor zwei Wochen ist es zum ersten Mal passiert.
Paulas Geschichte steuerte langsam, aber sicher auf ihr Finale zu, sie legte den Stift kaum noch aus der Hand. Sie saß am Schreibtisch, suchte nach einer besseren Formulierung. Ihr Blick glitt hinaus auf den Balkon – da schaute sie der Frau direkt ins Gesicht. Mit ihren lockigen dunkelbraunen Haaren, der fahlen Haut und den leeren Augen – genauso wie Paula sie in ihrer Geschichte beschrieb. Die Fremde saß auf einem der Stühle und musterte Paula. Sonst nichts. Saß nur da und beobachtete. Erschrocken schlug sich Paula die Hand vor den Mund und kniff die Augen zusammen. Als sie sie wieder öffnete, war die Frau verschwunden.
Tags darauf rannte sie zur Straßenbahn. Was für eine Nacht … Umherwälzen, Schlummern und an die Decke starren. In Paulas Kopf schwammen Erinnerungsfetzen umher, der Traum hing nur noch an einem sehr dünnen Faden. Sie hatte die Frau wieder gesehen. Sie hatte nach Paula gegriffen und ununterbrochen geredet. Aber was sie erzählt hatte, das hatte der Morgen mit sich genommen. Übrig geblieben war nur dieses unangenehme Gefühl, wenn Paula an die Berührung dachte.
In letzter Sekunde erwischte sie die Bahn und ließ sich keuchend auf einen der Fensterplätze fallen. Während sich ihr Atem beruhigte, beobachtete sie, wie das geschäftige Großstadtleben draußen an ihr vorbeizog. Ein kleiner Moment der Leere in ihrem Kopf, den sie dankbar entgegennahm. Sie kramte in der Tasche nach dem MP3-Player und steckte sich gerade einen Stöpsel ins linke Ohr, als die Tram in die nächste Station einfuhr. Paulas Blick glitt über die wartenden Menschen und blieb an einer Frau hängen, die in der Haltestelle auf der Bank saß. Ihre Hände lagen ineinander verschränkt auf dem Schoß, ihr Kopf war leicht nach unten geneigt. Betete sie? Oder schlief sie vielleicht? Ihre dunkelbraunen Locken bewegten sich leicht im Wind der einfahrenden Bahn. Dunkelbraune Locken. Blasse Hände. Paulas Herz schlug schneller. Das konnte nicht sein! Das war sie nicht! Gleich würde sie aufstehen und einsteigen – eine ganz normale Frau. Doch sie stand nicht auf. Während alle anderen zustiegen, saß sie ganz still da. Erst als die Bahn mit einem Ruck anfuhr, hob sie langsam den Kopf. Ihre Blicke fanden sich sofort. Sie hob die rechte Hand und winkte Paula zu. Ihre Hände schwitzten. Der Bauch zog sich zusammen. Das war sie! Saß ganz einfach da, sah der Bahn nach und wurde immer kleiner, bis die Tram schließlich in eine andere Straße einbog und die Frau sich Paulas Blickfeld entzog.
Eine Weile saß sie wie gelähmt. Starrte hinaus ohne etwas wahrzunehmen. Im letzten Moment erkannte sie die Haltestelle, an der sie raus musste, und hetzte aus der Bahn. Am liebsten hätte sie sich geohrfeigt. Sowas Blödes! Sie hatte einfach nur schlecht geschlafen. Halluzinierte wild herum. Sie brauchte einen Kaffee, einen ganz starken, das war alles!
Das dumpfe Bauchgefühl jedoch blieb.
***
Mit geschlossenen Augen streckt Paula ihr Gesicht den Wasserstrahlen entgegen. Langsam kommt ihr Körper zur Ruhe, sie atmet tief ein und aus. Spürt, wie die Muskeln sich entspannen, der Schmerz in Nacken und Schultern nachlässt.
„Beruhige dich. Alles ist gut.“ Die Worte kriechen aus dem warmen Dampf, der Paula umgibt. Sie hält inne, lauscht. Nichts. Sie schüttelt den Kopf und fährt sich mit beiden Händen über die Haare, um sie hinter dem Kopf auszuwringen. Als sie nach dem Handtuch greifen will, spürt sie es. Ein leises Kribbeln auf ihrer linken Schulter, so als wisse die Haut, dass jemand kurz davor ist, sie zu berühren. Paula erstarrt. Ganz sachte legt sich eine Hand auf ihre Schulter. Sie ist kalt, die Berührung trotz ihrer Behutsamkeit bestimmt.
„Dreh dich um.“
Flüstern. Ganz nah hinter ihr. Paulas Blick klebt an dem Handtuch vor ihr. Sie ist wie eingefroren, unfähig sich zu bewegen.
Die Hand drückt ein bisschen fester zu. Wandert langsam hinüber zu Paulas Nacken.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“
Das Flüstern einer Frau. Ein Atemhauch auf Paulas Haut. Plötzlich spürt sie Lippen an ihrem Ohr.
Paula schreit auf, fährt herum und blickt entgeistert auf die Fliesen. Da ist niemand. Nur sie, die Dusche und der Dampf. Es ist brühend heiß im Badezimmer, aber ihr ist eiskalt. Zitternd dreht sie das Wasser ab, wickelt sich in das Handtuch und setzt sich auf den Badewannenrand. Sie versucht, ruhig zu atmen, aber ihr Puls rast und dröhnt in den Ohren.
Klopfen an der Badezimmertür.
„Baby, ist alles in Ordnung?“
„Ja.“ Nur krächzend findet das Wort seinen Weg hinaus. Paula räuspert sich. „Nichts passiert. Ich bin nur fast ausgerutscht. Bin gleich fertig.“
„Okay.“ Da ist sie wieder, die Klangfarbe, die sie in letzter Zeit oft in Bens Stimme wahrnimmt. Irritiert, besorgt. Genervt.
„Bin gleich da, mein Herz!“ Paula bemüht sich, fröhlich zu klingen. So, als gäbe es dieses dunkle Bauchgefühl nicht, das sie seit zwei Wochen begleitet. Sich immer weiter in ihr ausbreitet. Sie muss sich wieder einkriegen. Ben zuliebe. Manchmal liegt eine Gereiztheit in seinen Worten, die sie nicht kennt. Paula erschrickt darüber, will nach ihm greifen, doch die Fremde zwischen ihnen wächst.
Vielleicht hat sie es übertrieben. Sich zu verkrampft an den Gedanken geklammert, endlich ihren Traum zu verwirklichen. Etwas zu schaffen. Eine Geschichte erzählen, die den Leser verschluckt und mit sich reißt. Personen erfinden, mit denen sich andere identifizieren können. So weit, dass sie jede Gefühlsregung miterleben, als wäre es ihre eigene. Protagonisten, vor denen man sich fürchtet. Den Erzählfaden so eng spinnen, dass der Leser sich verwirrt umschaut, sobald er vom Buch aufblickt, weil er sich daran erinnern muss, dass er sich in der realen Welt befindet und nicht in ihrer erfundenen.
Jetzt kassiert sie dafür die Quittung. Sitzt tropfend auf dem Badewannenrand und weiß selbst nicht mehr, in welcher Welt sie sich eigentlich aufhält. Es gibt da nämlich etwas, das sie sich nicht eingestehen will. Etwas, das ihr Angst macht: Ihre Hauptfigur.
Paulas Bauch zieht sich bei dem Gedanken an die Fremde zusammen, obwohl sie doch nur ihrem Kopf entspringt. Eigentlich sollte sie diese Frau so gut kennen wie keine andere – aber genau das Gegenteil ist der Fall. Je mehr sie über ihre Protagonistin schreibt, umso fremder und facettenreicher erscheint sie Paula. Jedes ihrer Worte formt sie ein Stückchen mehr und doch entgleitet sie ihr. Es ist fast so, als schaue Paula nur dabei zu, wie die Figur vor ihren Augen entsteht. Bleibt als Beobachterin zurück, mit dem Gefühl, nicht den Einfluss auf das Entstehen ihrer Persönlichkeit zu haben, den sie sich einbildet.
Warum ist diese Frau so gemein? Sie hat über die vergangenen Wochen eine verstörende Hinterhältigkeit entwickelt. Schleicht sich in das Leben der anderen ein – ohne Skrupel, ohne jegliches Gefühl. Paula redet sich ein, dass sie die Fremde absichtlich so geformt hat, um eine Figur zu entwerfen, die den Leser abschreckt, aber zugleich fasziniert. Aber ist es nicht viel eher so, dass sich hier etwas in eine Richtung entwickelt, mit der sie nicht mehr viel zu tun hat?
Seit dem Tag in der Straßenbahn fühlt Paula sich verfolgt. Wenn sie unterwegs ist, dreht sie sich immer wieder um. Selbst wenn sie niemanden sieht, fühlt sie den fremden Blick auf sich ruhen. Ein Kribbeln auf der Haut, so wie unter der Dusche. Manchmal kann sie dieses Gefühl nicht zuordnen, niemand fällt ihr auf, der irgendwie verdächtig wirkt. An anderen Tagen ist sie sich sicher, die Frau zu sehen. Erkennt schemenhaft eine weibliche Figur auf der anderen Straßenseite oder sieht ihr Gesicht unter den eng stehenden Menschen in der Bahn. Doch jedes Mal verschwindet sie innerhalb eines Wimpernschlags. Paula schüttelt den Kopf über sich selbst. Über die Angst, die in diesen kurzen Augenblicken in ihr hochschießt.
Die Unruhe jedoch bleibt.
In den folgenden Wochen schlägt sie alle Verabredungen aus und ist vom Schreibtisch nicht mehr wegzukriegen. Sie muss fertig werden! Sie hätte einfach aufhören sollen, als sie merkte, dass ihr die eigenen Worte nicht mehr gut taten. Aber das ist nun keine Option mehr. Sie muss ein Ende finden. Dann wird die Frau verschwinden.
***
Paula zittert vor Wut. Vor Erschöpfung. Sie will ausholen und ihm ins Gesicht schlagen. Gleichzeitig ist sie kurz davor, zusammenzubrechen.
„Pack deine Sachen und verzieh dich! Jetzt!“
„Jetzt beruhige dich doch mal. Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest. Ich war heute mit niemandem unterwegs und schon gar nicht habe ich mit irgendeiner Tussi mitten auf der Straße rumgemacht!“
Ihr Gesicht glüht. Dass Ben sich auch noch traut, ihr dreckig ins Gesicht zu lügen.
„Dann hab ich mir das alles also nur eingebildet, oder was? Ben, ich bin nicht dumm. Ich lass mich nicht verarschen!“
„Paula. Komm runter, bitte. Seit Wochen bist du so komisch. Du bildest dir das ein. Hast dich getäuscht, das war ich nicht. Ich war arbeiten, so wie jeden Tag. Danach bin ich nach Hause gefahren. Und dann schließe ich die Tür auf und du springst mir fast ins Gesicht. Deine Unterstellungen sind totaler Quatsch!“
Ben nähert sich und greift nach Paulas Händen. Sie weicht zurück. In ihr ist es dunkel. Und kalt.
„Ich habe dich gesehen, Ben“, zischt sie. „Mitten auf dem Gärtnerplatz hast du sie geküsst.“
Tränen steigen ihr in die Augen.
„Das stimmt nicht, ich …“
„Halt den Mund! Ich habe doch Augen im Kopf. Frisch verliebt habt ihr ausgesehen. Ich könnte kotzen, ehrlich! Geh einfach! Bitte!! Ich ertrage dich gerade nicht!“
Ihre Stimme bricht, als würde sie zusammen mit Paulas Herz eine Klippe hinunterstürzen.
„Das kannst du doch nicht machen! Du kannst doch nicht …“
„Raus!“
Die Tür fällt ins Schloss und Paula sackt zusammen. In ihrer Brust brennt es. Keine Tränen. Sie sitzt auf dem Boden, starrt vor sich hin. Und sieht doch nur ein und dasselbe Bild. Ben küsst eine andere Frau. Aber nicht irgendeine Frau. SIE. Paulas Hauptfigur, ihre Erfindung, Verfolgerin. Ihr Albtraum.
In ihrem Kopf kämpft der Verstand um die Oberhand. Er ruft Paula zu, dass das alles nicht sein könne, dass sie durchdrehe, dass sie zur Vernunft kommen solle – aber sie hat es gesehen. Deutlicher als all die Male zuvor hat sie die Frau erkannt. Fassungslos ist sie stehen geblieben, als sie die beiden entdeckt hat. Konnte den Blick nicht von ihnen abwenden, während der Stich immer tiefer ging.
Alles um sie herum gleitet ihr aus den Händen. Keine Kontrolle mehr. Seit Tagen schläft sie nicht. Bei jedem Geräusch zuckt sie zusammen und schaut sich panisch um. Sieht die Fremde in einer Zimmerecke stehen. Oder auf einer Straßenkreuzung. Es ist unerträglich. Und dann heute der finale Schlag.
Paula liegt am Boden, ihr ist schwindlig. Ihr Blick irrt durch das Zimmer und bleibt an dem Schreibtisch hängen. Da liegt sie, ihre Geschichte, ein wilder Stapel beschriebener Blätter. Ein paar Sätze noch. Es ist nicht mehr weit. Aber sobald sie daran denkt, den Stift in die Hand zu nehmen, schnürte ihr die Panik die Luft ab. Ist SIE nicht mit jedem Satz mächtiger geworden? Wäre es nicht am besten, alles zu verbrennen?
Nein, das darfst du nicht. Das wäre doch furchtbar. All die Mühen – umsonst? Weil dir eine Fantasiegestalt Angst macht? Das kannst du doch nicht zulassen. Nur noch ein paar Sätze Paula.
Die Gedanken kreisen langsamer umeinander, ordnen sich. Du hast das Ende doch schon im Kopf. Sie wird sterben. Und das ist gut so. Stell das Gleichgewicht wieder her!
Paula richtet sich auf, geht langsam auf den Schreibtisch zu und setzt sich. Betrachtet all die Seiten, die vor ihr liegen. Atmet tief ein und aus.
Na los, mach schon!
Der Stift gleitet über das Papier und wieder überfällt sie das seltsame Gefühl, jemand anderes führe sachte ihre Hand. Zuerst kommen die Worte nur zögernd hervor, doch dann versinkt Paula in den Sätzen und schreibt so schnell sie kann. Der Kampf zwischen den beiden Frauen erwacht zum Leben, mit all seiner Unerbittlichkeit und Härte. Sie kratzen sich blutige Streifen in die Gesichter, schlagen mit den Fäusten aufeinander ein und rangeln auf dem Boden. Jede von ihnen panisch auf der Suche nach einem Gegenstand, der dem Leben der anderen endlich ein Ende setzt. Die Verfolgte zieht ihre Peinigerin mit letzter Kraft so fest an den Haaren, dass diese vor Schmerz aufschreit und ihren Griff für einen kurzen Augenblick lockert. Schlagartig springt Paulas Puls nach oben und sie fängt an zu schwitzen. Die Frau, die sich endlich von ihrer alles zerstörenden Freundin befreien will, rennt in die Küche und reißt hektisch die Schubladen auf. Da! Die Messer! Doch bevor sie sich eines schnappen kann, wird sie von hinten herumgerissen und gegen den Kühlschrank geschleudert. Die Frau, die dabei ist, dieses wunderschöne fremde Leben zu übernehmen, legt ihr die Hände um den Hals und beginnt zuzudrücken. Ihre Haare kleben an den Wangen, Schweiß steht auf ihrer Stirn – doch ihr Blick ist ganz ruhig. SIE hat die Oberhand und sieht fasziniert dabei zu, wie Farbe aus dem Gesicht der anderen weicht.
Das darf nicht sein. Nein. Nein. Nein! Paula überlegt fieberhaft, wie sie das Blatt wenden kann. Ihr Puls rast und sie hat Mühe, Luft zu holen. Der Hals ist staubtrocken. Etwas drückt ihr auf den Kehlkopf. Sie will schreien, doch nur ein Gurgeln findet den Weg aus ihrem Rachen.
Beruhige dich, Paula! Das ist nicht real!
Es hilft nichts. Das Herz springt ihr fast aus der Brust. Paula bekommt keine Luft. Hustet, bis die Augen tränen. Lautes Pochen in den Schläfen. Vor ihr verschwimmen die Zeilen. Schwarzes Geschnörkel kommt auf sie zu. Sie weicht zurück und fuchtelt mit den Armen. Die schwarzen Fäden kleben an ihr, wickeln sie ein und ziehen sie wieder zurück zum Schreibtisch.
Fassungslos starrt Paula auf die Blätter vor sich. Hinter den Buchstaben erkennt sie das Gesicht der Fremden. Ihre Augen, ganz deutlich, voller Erbarmungslosigkeit. Sie sieht Paula an.
„Lass mich raus, Paula! Wir beide wissen, dass du keine Kraft mehr hast! Lass uns einfach tauschen. Hm?“
Ein grausames Lachen kriecht aus den Seiten. Erst leise, dann immer lauter. Der letzte Funken Verstand in Paula erlischt. Eine Hand schnellt aus den Seiten, packt ihren Hals und zieht sie zwischen die Zeilen. Paula kreischt, krallt sich mit letzter Kraft an der Tischplatte fest. Ihre Füße finden keinen Halt mehr, sie zappeln wild in der Luft. Ein letzter harter Ruck. Plötzlich ist alles still. Um sie herum schwarze Linien, Buchstaben, Worte. Ein dunkler Strudel, der Paula unerbittlich mit sich in die Tiefe reißt.