Dunkelheit
Als ich meine Augen langsam öffne ist es stockfinster.
Ich frage mich ob ich noch träume, doch dann durchbohren mich die höllischen Schmerzen und strahlen durch meinen gesamten Körper.
Meine Kehle ist staubtrocken, ich habe so einen mächtigen Durst wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Ich lecke meine trockenen Lippen und versuche mich zu orientieren.
Ich sehe keine Umrisse, kann nichts fokussieren, es ist zu dunkel.
Ich sitze auf einem harten Metallstuhl. Meine nackten Füße liegen auf dem kalten, feuchten Boden.
Anscheinend sind nicht nur meine Füße entblößt wurden.
Ich gerate in Panik möchte weglaufen doch kann mich nicht bewegen.
Die Luft bleibt mir aus, mein Herz schlägt mir bis zum Hals und der stechende Schmerz verhindert jeden klaren Gedanken.
Und plötzlich spüre ich einen Atem auf meiner Haut, der nicht meiner ist.
Mein ganzer Körper verstieft sich, die Haare stellen sich auf.
Ich bereite mich in Sekunden auf Kampf, Flucht oder Verharrung vor.
„Hallo?“, wimmere ich leise. „Ist da jemand?“.
Es scheint als ob sich mein Gehör innerhalb von wenigen Sekunden sensibilisiert hätte.
Ich warte auf ein Antwort, eine Berührung oder irgendein Signal. Doch nichts.
Ich befinde mich in absoluter Stille, in absoluter Dunkelheit.
„Atme weiter, atme ganz ruhig weiter“, flüstere ich mir zu.
Ich versuche mich zu beruhigen, meine Atmung zu kontrollieren.
Als sich mein Körper langsam entspannt, schießen mir unzählige Gedanken in meinen Kopf.
„Verdammt, was ist passiert?“
„Wo bin ich, was mache ich hier?“
„Und wie zum Teufel komme ich hier wieder raus?“
Ich merke wie sich die nächste Panikattacke langsam in mir aufbaut.
„Atme, atme weiter“, flüstere ich mir erneut zu.
„Okay, ganz ruhig, was ist das letzte woran ich mich erinnern kann?“ – Nichts.
Ich empfinde dieselbe Stille und Dunkelheit im meinem Kopf wie außerhalb.
„Bleib ruhig, ganz langsam“, flüstere ich mir zu.
Ich hab das Gefühl meinen Verstand zu verlieren. Unzählige Minuten vergehen.
Ich versuche mich so lange daran zu erinnern, bis mein Kopf förmlich platzt.
„Alice! Ja, ich war mit Alice aus!“, eine Euphorie durchströmt meinen Körper.
Die Erinnerungen kommen langsam zurück. Ich geh den letzten Abend innerlich nochmal durch.
„Wir wollten nur ein paar Cocktails trinken gehen, doch der Abend wurde feuchtfröhlicher als erwartet.
Irgendwann zeigte Sie mir ihre neue Flirt-App. Dort war dieser Kerl, mit den strahlend blauen Augen, mit dem wir uns verabredet haben. Doch haben wir uns mit ihm getroffen?“
„Versuch dich zu erinnern“, ermahne ich mich. „Wir waren beide zu betrunken um noch mit dem Auto zu fahren, also sind wir in die Bahn gestiegen.
Wir wollten uns vor der neuen Bar, unten am Ufer treffen. Wir warteten dort auf unsere Verabredung. Doch er kam nicht.
Also machten wir uns auf den Weg zurück zur Bahnstation.
Wie aus dem nichts spürte ich einen bitteren Schmerz in meinem Oberschenkel.
Im nächsten Moment sah ich Alice zusammenklappen und verlor das Bewusstsein.“
Mein Körper zittert, schmerzt und Schweiß strömt mir aus allen Poren.
Eine schreckliche Vorahnung durchströmt mich. Irgendetwas ist mächtig schief gelaufen.
Ich breche in Tränen aus und möchte einfach wieder zurück in mein Bett.
Wo mein Kater Tom auf mich wartet. Ich will zurück in mein Elternhaus. Zurück in Geborgenheit und Sicherheit.
Ich versinke in bodenlosen Selbstmitleid gefolgt von einem tränenreichen Zusammenbruch.
„Atme weiter, atme ganz ruhig weiter“, flüstere ich mir erneut zu. „Du musst jetzt rational handeln.
Versuch deine Gedanken zu fassen. Versuch dich irgendwie zu bewegen, dich zu befreien.“
Doch mein gesamter Körper ist fixiert.
„Hallo?“ schreie ich. Meine Stimmbänder scheinen gleich zu reißen, aber ich räuspere mich und schreie weiter.
„Hallo, ist da jemand?“.
Die Dunkelheit bleibt stumm. Ich schließe meine Mund und versuch mich aus der Fixierung zu winden.
Immer wieder tauchen schreckliche, angsteinflößende Bilder in meinem Geist auf.
„Wer macht so etwas mit mir, was hat man mit mir vor?“.
Minuten, vielleicht auch Stunden vergehen. Ich fühle mich total benommen.
Habe immer noch Hoffnung, dass es alles ein schlechter Traum ist.
Plötzlich höre ich Schritte.
Schnelle Schritte, laufende Füße von kleinen Kindern. Ich schreie nach Hilfe und Aufmerksamkeit.
Schreie mir meine Seele aus dem Leib. Dann höre ich Getuschel, Getuschel und ein leises Lachen.
Und dann sind die kleinen, schnellen Füße verschwunden.
Ich bin wieder allein, in Dunkelheit und Stille.
All meine Sinne sind sensibilisiert, ich warte auf eine Regung aus der Dunkelheit.
Ich warte auf irgendwas. So warte und warte ich, bis meine Kräfte mich verlassen und ich in einen tiefen Schlaf falle.
Ich weiß nicht wie lange ich weggetreten bin, doch als ich dieses Mal meine Augen öffne ist es nicht mehr stockdunkel.
Ich sitze auf einem Metallstuhl mitten in einem sonst leeren Raum.
Eine einzelne Glühbirne, die von der Decke an einer Schnur baumelte, beleuchtet den Raum.
Die kargen Betonwände sind übersäht mit Flecken in unterschiedlichsten Farben und Formen.
Der Betonboden ist ebenfalls schmutzig und voller Flecken.
Ich will mir keine Gedanken darüber machen was für eine Art von Flecken es sind, doch als ich an meinen nackten Füßen runterblicke weiß ich es.
Es ist Blut. Frisches Blut, altes Blut, eingetrocknetes Blut. Jede Art von Blut.
Mit einem Mal rieche ich es überall. Verwesung und Blut. Den Tod kann ich riechen.
Nachdem ich meinen Mageninhalt entleert habe und nur noch Magensäure hochkommt, beruhigt sich mein Magen allmählich wieder
Wie ich befürchtet habe, bin ich nackt.
Meine Beine, meine Hüfte und meine Armen sind mit groben Seilen an den Metallstuhl gefesselt.
Hinter mir steht eine Tür offen, doch außer der Wand im Flur sehe ich nichts.
Jetzt wo die Tür offen steht fange ich wieder an zu schreien.
Schreie um mein Leben.
Meine Stimme versagt immer wieder aber ich kann nicht aufhören. Doch außer dem Echo meiner Stimme höre ich nichts.
Der dunkele Flur bleibt stumm.
Das laute, endlose Schreien hat meine Kehle aufgekratzt. Wahrscheinlich habe ich noch nie so dringend Wasser gebracht wie in diesem Moment.
Und plötzlich sind sie wieder da, die Schritte.
Es sind erneut die kleinen, schnellen Füße von Kindern.
Ich versuche mich soweit es geht nach hinten zu drehen um mehr vom Flur erkennen zu können.
Und tatsächlich laufen zwei Kinder an meiner Tür vorbei.
Ich bettle um Hilfe, versuche zu schreien, versuche meine Stimme wiederzufinden.
Wie aus dem nichts steht ein kleiner Junge in meiner Tür.
Er trägt eine seltsam, verformte Maske und starrt mich mit seinen großen, glubschigen Augen an.
Mich durchfährt ein Schauer des Unbehagens. Ich versuche es abzuschütteln.
„Es ist doch noch ein Kind“, denk ich mir, „er kann in der Lage sein dich zu befreien“.
Langsam öffne ich den Mund
„Hallo, kannst du mir helfen?“
Der Junge kommt ein Schritt näher und noch einen und noch einen.
Nun steht er so nah an mir, das ich seinen Atem in meinem Ohr höre.
Ich zerre meine gefesselten Armen gegen den Stuhl.
„Mach mich bitte los, es muss ein Fehler sein, ich gehöre hier nicht her.“
Ich spüre seinen durchbohrenden Blick auf mir ruhen, doch er bleibt still.
„Bitte“, flehe ich ihn an, „Bitte sein ein braver Junge und mach mich frei“.
Seine großen, glubschigen Augen sind plötzlich voller Trauer.
Er fängt an seinen Kopf heftig zu schütteln.
Mit einer eisigen Stimme die mir bis ins Knochenmark geht antwortet er:“Nein, du hast etwas sehr, sehr schlimmes getan.“
Als er wieder kehrt machen möchte und bevor ich etwas erwidern kann, merke ich, dass uns jemand beobachtet.
Ein großer, übergewichtiger Mann betritt den Raum.
Er trägt eine Art Gewand.
In der einer Hand hält er die Bibel und in der anderen Hand eine abgesägte Schrottflinte.
In seinem Gesichtsausdruck brodelt der Zorn.
„Ich habe nichts, es ist ein Fehler“, rufe ich.
Doch der Mann ignoriert mich.
Er geht schnurstracks auf den kleinen Jungen zu.
Er packt ihn und stößt ihn hart gegen die Betonwand.
Der kleine Junge fängt an zu wimmern und stottert etwas Undefinierbareres vor sich her.
Wortlos legt der Mann die Schrottflinte gegen die Stirn des kleinen Jungens und drückt ab.
Die Zeit scheint stillzustehen, das Blut spritzt in alle Richtungen.
Ich kann das Blut auf meinen Lippen schmecken.
Der kleine Körper des leblosen Jungen knallt auf den harten Betonboden.
Mein Magen, mein gesamter Köper zieht sich zusammen. Meine Ohren dröhnen.
Die Magensäure kämpft sich wieder ihren Weg nach oben.
Langsam kommt mein Atem zurück in meine Lungen und die Zeit scheint wieder weiterzulaufen.
Ich fange an zu schreien „ WAS? Tuen sie da?? Was zu Hölle?“. Schreie und schreie weiter.
Wörter die ich vorher nie benutzt habe. In allen Sprachen die mir einfallen.
Schreie so laut das die gesamte Welt mich hören könnte.
Doch der Mann ignoriert mich weiterhin.
Er hebt den Körper des leblosen Jungens auf und hängt ihn über seine Schulter.
Er geht raus, schließt die Tür und schaltet die Glühbirne aus.
Nun bin ich wieder gefangen in der Dunkelheit, in der Stille.
Ich sitze völlig regungslos da und bin mir sicher, dass es kein Traum ist.
Ich weiß nicht was es war.
Aber ich bin mir sicher, dass ich hier sterben werde.