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Dunkel und gelb

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13.11.2014
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Dunkel und gelb

An einem Abend im November verliebte ich mich das erste Mal.
Draußen war es schon dunkel und kalt, und ich fühlte mich ziemlich einsam und melancholisch, obwohl ich das Wort dafür natürlich noch nicht kannte.
Die Nachttischlampe verstrahlte das leere, weiße Zimmer mit kaltem Licht. Ich saß im Schneidersitz auf dem Krankenhausbett und las das gleiche Buch zum dritten Mal, auf dem Bett gegenüber balancierte Siv auf der Bettkante und versuchte, mit den Zehenspitzen den Boden zu berühren.
Die anderen beiden Betten waren leer, der Junge, der vorher das Zimmer mit Siv und mir geteilt hatte, war an diesem Morgen entlassen worden. Er war nicht in unserem Alter, vielleicht noch nicht einmal in der Grundschule, während Siv und ich beide in diesem Jahr dreizehn geworden waren.
Ich bemerkte, dass ich erstens den selben Satz zum dritten Mal las, ohne ihn wahrzunehmen, und zweitens Lust auf saure Weingummischnüre hatte – riesige Lust.
Ich klappte das Buch zu und sprang vom Bett, was ich nicht hätte tun sollen, denn augenblicklich fing die langsam verheilende Narbe an meinem linken Unterschenkel an, unangenehm zu pochen. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass die Naht nicht aufgerissen war, gab ich der immer noch verträumt balancierenden Siv einen leichten Schubs und sie fiel auf ihr mit Stiften und Zeichnungen übersätes Bett.
„Wir müssen raus“, sagte ich, während sie sich aufrichtete und mich mit großen Augen ansah. Sie hatte bereits ihr knielanges, hellblaues Nachthemd an.
„Du hast mich grade bei einem besonders schönen Tagtraum gestört“, antwortete sie nach einer Weile. Ihre Stimme war sehr hell und sie klang weder wütend ob meiner Traumstörung noch begeistert von der Idee, raus zu müssen.
„Es ist schon Nacht. Du kannst keinen Tagtraum geträumt haben“, sagte ich.
Als knapp Dreizehnjähriger, der seit Wochen in einem Krankenhauszimmer lebt, wird man ein wenig verrückt.
Siv sah mich immer noch entrückt an.
„Wir müssen raus gehen“, wiederholte ich, und holte meine Turnschuhe aus dem mikroskopisch kleinen Wandschrank neben meinem Bett.
„Wirklich, wir sollten aus dem Fenster klettern, zur Tankstelle laufen und Süßigkeiten kaufen“, erklärte ich, absolut entzückt von meinem brillanten Einfall, der mich für eine halbe Stunde vor dem trüb-weißen Licht, den kahlen Wänden und der Stille retten würde.
Das Zimmer lag im Erdgeschoss, vor dem Fenster wuchsen immergrüne Sträucher und kleine Birken, die um diese Jahreszeit schon fast alle Blätter verloren hatten.
„Dreh dich um“, befahl Siv. Der fast lächerliche Gegensatz zwischen der unfassbaren Zartheit ihrer Stimme und dem harten Ton, den sie ihr zu geben versuchte, brachte mich schon damals zum Lachen, aber ich gehorchte ihr und drehte mich mit dem Gesicht zur Wand, während sie in ihrem Schrank kramte und sich anzog.
Um nicht auf den Flur und am Zimmer der wachsamen Nachtschwester vorbei zu müssen, stiegen wir sehr leise und sehr ungeschickt aus dem großen Fenster; Siv kicherte und ich trat so ungeschickt auf, dass der Schmerz im Bein wieder einsetzte.
Die Luft war eisig und es war dunkel um uns herum. Das einzige Licht kam von ein paar Fenstern weiter oben und von einer einsamen, niedrigen Straßenlaterne neben der Glastür, die in das Gebäude führte.
Siv zog ihre Mütze tief ins Gesicht und wickelte sich fest in ihren Mantel. Unter dem Saum des Mantels lugte ihr Nachthemd hervor.
Zur Tankstelle war es nicht weit zu Fuß, knapp zehn Minuten vielleicht, immer die Straße vor dem Krankenhaus entlang, dann über eine breite, geschwungene Autobrücke und ein Stück durch eine ruhige Wohngegend mit wenigen Geschäften.
Es war windstill und klar. Auf dem Weg zur Brücke redeten wir nicht; ich litt, Siv fror.
Dann war der Moment: Wir betraten die Brücke und die Nacht verwandelte sich. Die Geländer waren gelb lackiert, wir liefen hoch, und in der Mitte des Halbkreises, den die Brücke beschrieb, erhob sich ein riesengroßer runder gelber Mond über dem schwarzen Horizont.
Wirklich, einen so großen, so nahen Mond habe ich weder vorher noch danach je gesehen.
Wir blieben stehen und sahen uns dieses seltsame, monumentale Goldstück stumm an.
Meine Augen wurden von dem gelben Leuchten angezogen und ich konnte sie nicht wieder lösen. Auf der großen Brücke ganz oben in der schneidenden Kälte neben der ebenfalls wie hypnotisiert den Mond anstarrenden Siv zu stehen, war unglaublicher, als ich ertragen konnte.
Irgendwann mussten wir weiter. Unsere Abwesenheit konnte jeden Augenblick entdeckt werden, und es wurde immer kälter. Wir liefen weiter und sahen uns alle paar Schritte wieder um, bis die Sicht durch Häuser und Bäume versperrt wurde.
Alles, alles war dunkel, still, und gelb: Die Bäume trugen Unmengen gelber Blätter, der Bürgersteig war voll davon, die Straßenlaternen leuchteten in sanftem Gelb, der feine Nebel der Novembernacht wurde von diesem Licht goldgelb erleuchtet, über einer kleinen Eckkneipe schien ein gelbes Schild.
Unsere Winterstiefel raschelten durch den Laubteppich auf dem Weg. Ich konnte die Tankstelle sehen: Ihr orangegelb leuchtendes Dach war unverwechselbar. Ein paar Autos fuhren vorbei, gelbes Scheinwerferlicht, eine Autowerkstatt, gelbe Leuchtreklame für Reifen, und über allem der schwarze Himmel.
Ich konnte meinen Atem sehen, ich konnte Siv sehen, die neben mir lief und hübsch war – im Halblicht der Nacht fielen ihre Blässe und ihre unnatürlich hervorstehenden Wangenknochen nicht auf.
Die Unglaublichkeit des Mondes, die Unvernunft unserer Flucht vor der Melancholie und die Tatsache, dass wir immer schneller liefen, dass meine Verletzung bei jedem Schritt wehtat, waren eine berauschende Mischung. Mein Atem ging schnell, mein Kopf war ein Glühen, und dann, wie aus Zufall, merkte ich, wie sehr ich Siv mochte, wie genial es war, mit ihr durch die dunkle und gelbe Nacht zu rennen.
Ich war verliebt, ahnte diese der Liebe entfernt ähnliche Anwandlung zum ersten Mal im Leben, und es zerriss mich fast. Das Gefühl, mein Brustkorb müsse bersten, war wunderbar – so viel Eisluft und Herzklopfen passten nicht in mich herein.
Beim Laufen griff ich nach Sivs kalter Hand und die letzten Meter bis zur Tankstelle rannten wir gemeinsam.

An den Rückweg kann ich mich kaum erinnern, der Mond war höher gestiegen und hatte seine normale Mondfarbe angenommen. Wir gingen nicht Hand in Hand zurück, aber ich teilte meine sauren Weingummischnüre mit Siv. Ich konnte nicht aufhören, sie anzusehen.
Unsere Flucht wurde nicht bemerkt.
Danach war alles wieder fast normal – wir redeten manchmal miteinander, eine Woche später wurde ich entlassen und zog aus dem weißen Zimmer im Krankenhaus wieder zu meiner Familie.
Ich sah Siv noch ein paar Mal, wir verabredeten uns und sahen uns Filme an oder gingen Schlittschuhlaufen, als mein Bein ganz verheilt war.
Aber sie war nicht mehr die Siv, mit der ich geflohen und gerannt war, mit der ich staunend und ehrfürchtig den gelben Mond gesehen hatte, und ich war nicht mehr der Junge, der unbedingt raus musste und dessen Herz im Angesicht des Augenblicks zerspringen wollte.
Nur diese Minuten, in denen die Nacht strahlte und in denen ich in Siv verliebt war, als ich gerade dreizehn geworden war, nur an die kann ich mich noch richtig gut erinnern.

 

Hallo BodleianGhost,

was für eine wunderschöne Feel-good-Story. Die Herausforderung bei solchen "Liebesgeschichten" ist ja immer, dass man nicht zu schnulzig wird. Ich finde, das ist Dir sehr gut gelungen.
Ich konnte mich richtig reinfühlen in dieses triste Krankenhauszimmer, die kalte Nacht auf dem Weg zur Tankstelle. Die Gefühle des ersten Verliebtseins kommen ohne Kitsch aus.

Wenn ich etwas zu mäkeln habe, dann am Titel.

Dunkel und gelb
ließ mich spontan an eine Horrorstory denken:D. Also man vermutet hinter diesem Titel mit Sicherheit keine Liebesgeschichte...

Sehr gern gelesen,
Kerkyra

 

Hallo BodleianGhost,

herzlich willkommen!

Eine schöne Liebesgeschichte, lässt sich angenehm lesen, ist ja auch leichtfüßig geschrieben, sozusagen.
Stellenweise auch recht lustig. Besonders gefallen hat mir dieses:

Um nicht auf den Flur und am Zimmer der wachsamen Nachtschwester vorbei zu müssen, stiegen wir sehr leise und sehr ungeschickt aus dem großen Fenster; Siv kicherte und ich trat so ungeschickt auf, dass der Schmerz im Bein wieder einsetzte.
Sehr leise und sehr ungeschickt … find ich toll! Schade nur, das „ungeschickt“ gleich darauf noch einmal vorkommt. Diese Wortwiederholung würd ich eliminieren.

Gut, dass die Mystik der Liebe auf den Mond und die seltsam er- oder beleuchtete Nacht verschoben wird. Das erspart dem Leser das übliche Gesülze.

Das Ende hat mich nicht so sehr überzeugt. Klar, in der wirklichen Welt wäre wohl dieses langsame Auseinanderdriften der Beiden praktisch normal. Und in dieser Geschichte kannst du dieses Ende, entliehen aus der kalten Wirklichkeit, auch als Kontrapunkt zum mystischen Erlebnis auf der Brücke bringen. Mir fehlt da nur noch ein wenig Ausarbeitung. Das Ende ist so runtergeleiert. Da fehlen mir Details und ein oder zwei Argumente, warum die zwei sich langsam voneinander entfernen.

Wie auch immer, es ist trotzdem eine gute Geschichte. Eine, die auch zeigt, dass Liebe nicht unbedingt erwidert wird und man ihr dennoch machtlos ausgeliefert sein kann.

Im Text finden sich noch Fehlerchen der unterschiedlichsten Art. Beispiele:

Draußen war es schon dunkel und kalt, und ich fühlte mich ziemlich einsam und melancholisch, obwohl ich das Wort dafür natürlich noch nicht kannte.
Dieses „natürlich“ erschließt sich dem Leser nicht, er weiß (an der Stelle) nicht das Alter des Protagonisten. Auch ist das Wort meist überflüssig.

Die Nachttischlampe verstrahlte das leere, weiße Zimmer mit kaltem Licht.
„verstrahlt“ Absicht? Im Sinne einer Wertung? Ansonsten bestrahlt/beleuchtet oder so ähnlich.

Las das gleiche Buch zum dritten Mal
dasselbe Buch

Mit Namen ist es immer so eine Sache. Mir war Anfangs nicht klar, ob Siv männlich oder weiblich ist. Hab kurz gegoogelt (war also raus aus der Geschichte!) und habe, neben der Antwort folgendes gefunden, was ich hier nicht vorenthalten will:
Es wird dringend davon abgeraten, den nordischen Namen Siv und den englischen Namen Phillis als Doppelnamen zu kombinieren!
:lol:

Lieben Gruß

Asterix

 

Die Unglaublichkeit des Mondes, die Unvernunft unserer Flucht vor der Melancholie und die Tatsache, dass wir immer schneller liefen, dass meine Verletzung bei jedem Schritt wehtat, waren eine berauschende Mischung.

Bester Satz, und das Ende.

Ja, schönes Debüt. Sieht sorgfältig komponiert aus, auch nicht kitschig, so ein wenig auch coming-of-age. Kann man nicht klagen. Habe ich auch gern gelesen. Bin mal auf längere Sachen von dir gespannt.

Gruss, Jimmy

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo BodleianGhost,

ich schließe mich gerne meinen Vorgängern an - mir hat dein Debüt auch gefallen.
Du hast die bezaubernde Stimmung, die sich zwischen beiden entfaltet, schön einfangen.
Das Ende fand ich auch gut, für mich klingt das passend aus. Gut auch, dass du auf die Flüchtigkeit des Zaubers hinweist; spricht mich sehr an.


Ich war verliebt, ahnte diese der Liebe entfernt ähnliche Anwandlung zum ersten Mal im Leben, und es zerriss mich fast.

Den Einschub finde ich etwas ungelenk. Den kannst du bestimmt besser formulieren (oder du lässt ihn einfach weg ;)).

An einem Abend im November verliebte ich mich das erste Mal. Draußen war es schon dunkel und kalt, und ich fühlte mich ziemlich einsam und melancholisch, obwohl ich das Wort dafür natürlich noch nicht kannte. Die Nachttischlampe verstrahlte das leere, weiße Zimmer mit kaltem Licht.

Fettmarkiertes dürfte weg, finde ich.
Normalerweise sind Abende im November dunkel und kalt, weshalb Ausgeschriebenes eigentlich redundant ist (gestört hat mich das hier aber nicht). Nur mal so zum Anstoß.
Und das verstrahlte Zimmer ist mir auch aufgefallen. Leer ist es übrigens ja nicht, ich habe später schon ein anderes Bild vermittelt bekommen. U. a. füllt Siv doch den Raum.


Es sind viele Wortwiederholungen im Text - Asterix zeigt schon ein Beispiel auf. Gibt noch mehr davon. Kannst ja mal schauen.

Ich konnte Siv ebenfalls nicht augenblicklich zuordnen. Auch wenn es ein schöner Name ist, vielleicht solltest du ihn noch mal überdenken.


Sind aber alles Kleinigkeiten, die mein Lesevergnügen nicht beeinträchtigen konnten.


Vielen Dank fürs Hochladen


hell


PS: Der Titel hat mir auch nicht gefallen.

 

Hallo ihr,

vielen Dank erstmal fürs Lesen und für eure Kritik!

Mir selber würden die genannten Kritikpunkt nie auffallen, von daher bin ich sehr froh, eure Meinungen dazu zu hören.
Den meisten "Bemängelungen" stimme ich bei näherer Betrachtung zu, zum Beispiel den Wiederholungen, nur in zwei Punkten möchte ich mein Geschichtchen gerne verteidigen:

1. das "verstrahlte" Zimmer: dabei hab ich mir schon was gedacht, da das Licht der Nachttischlampe sehr kalt und unangenehm wirken soll. Das Zimmer wird dadurch also nicht "beleuchtet", sondern tatsächlich negativ belastet - der totale Gegensatz zu dem ganzen warm-gelben Leuchten und Strahlen draußen.
2. der Titel: ich persönlich finde, dass er sehr gut zu der Geschichte passt. Aber das ist ja nur meine Meinung und das kann jeder anders sehen.

Die anderen genannten Punkte werde ich mir zu Herzen nehmen und bei den nächsten Geschichten beachten :)

Liebe Grüße,

BodleianGhost

 

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