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Dunkel und gelb
An einem Abend im November verliebte ich mich das erste Mal.
Draußen war es schon dunkel und kalt, und ich fühlte mich ziemlich einsam und melancholisch, obwohl ich das Wort dafür natürlich noch nicht kannte.
Die Nachttischlampe verstrahlte das leere, weiße Zimmer mit kaltem Licht. Ich saß im Schneidersitz auf dem Krankenhausbett und las das gleiche Buch zum dritten Mal, auf dem Bett gegenüber balancierte Siv auf der Bettkante und versuchte, mit den Zehenspitzen den Boden zu berühren.
Die anderen beiden Betten waren leer, der Junge, der vorher das Zimmer mit Siv und mir geteilt hatte, war an diesem Morgen entlassen worden. Er war nicht in unserem Alter, vielleicht noch nicht einmal in der Grundschule, während Siv und ich beide in diesem Jahr dreizehn geworden waren.
Ich bemerkte, dass ich erstens den selben Satz zum dritten Mal las, ohne ihn wahrzunehmen, und zweitens Lust auf saure Weingummischnüre hatte – riesige Lust.
Ich klappte das Buch zu und sprang vom Bett, was ich nicht hätte tun sollen, denn augenblicklich fing die langsam verheilende Narbe an meinem linken Unterschenkel an, unangenehm zu pochen. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass die Naht nicht aufgerissen war, gab ich der immer noch verträumt balancierenden Siv einen leichten Schubs und sie fiel auf ihr mit Stiften und Zeichnungen übersätes Bett.
„Wir müssen raus“, sagte ich, während sie sich aufrichtete und mich mit großen Augen ansah. Sie hatte bereits ihr knielanges, hellblaues Nachthemd an.
„Du hast mich grade bei einem besonders schönen Tagtraum gestört“, antwortete sie nach einer Weile. Ihre Stimme war sehr hell und sie klang weder wütend ob meiner Traumstörung noch begeistert von der Idee, raus zu müssen.
„Es ist schon Nacht. Du kannst keinen Tagtraum geträumt haben“, sagte ich.
Als knapp Dreizehnjähriger, der seit Wochen in einem Krankenhauszimmer lebt, wird man ein wenig verrückt.
Siv sah mich immer noch entrückt an.
„Wir müssen raus gehen“, wiederholte ich, und holte meine Turnschuhe aus dem mikroskopisch kleinen Wandschrank neben meinem Bett.
„Wirklich, wir sollten aus dem Fenster klettern, zur Tankstelle laufen und Süßigkeiten kaufen“, erklärte ich, absolut entzückt von meinem brillanten Einfall, der mich für eine halbe Stunde vor dem trüb-weißen Licht, den kahlen Wänden und der Stille retten würde.
Das Zimmer lag im Erdgeschoss, vor dem Fenster wuchsen immergrüne Sträucher und kleine Birken, die um diese Jahreszeit schon fast alle Blätter verloren hatten.
„Dreh dich um“, befahl Siv. Der fast lächerliche Gegensatz zwischen der unfassbaren Zartheit ihrer Stimme und dem harten Ton, den sie ihr zu geben versuchte, brachte mich schon damals zum Lachen, aber ich gehorchte ihr und drehte mich mit dem Gesicht zur Wand, während sie in ihrem Schrank kramte und sich anzog.
Um nicht auf den Flur und am Zimmer der wachsamen Nachtschwester vorbei zu müssen, stiegen wir sehr leise und sehr ungeschickt aus dem großen Fenster; Siv kicherte und ich trat so ungeschickt auf, dass der Schmerz im Bein wieder einsetzte.
Die Luft war eisig und es war dunkel um uns herum. Das einzige Licht kam von ein paar Fenstern weiter oben und von einer einsamen, niedrigen Straßenlaterne neben der Glastür, die in das Gebäude führte.
Siv zog ihre Mütze tief ins Gesicht und wickelte sich fest in ihren Mantel. Unter dem Saum des Mantels lugte ihr Nachthemd hervor.
Zur Tankstelle war es nicht weit zu Fuß, knapp zehn Minuten vielleicht, immer die Straße vor dem Krankenhaus entlang, dann über eine breite, geschwungene Autobrücke und ein Stück durch eine ruhige Wohngegend mit wenigen Geschäften.
Es war windstill und klar. Auf dem Weg zur Brücke redeten wir nicht; ich litt, Siv fror.
Dann war der Moment: Wir betraten die Brücke und die Nacht verwandelte sich. Die Geländer waren gelb lackiert, wir liefen hoch, und in der Mitte des Halbkreises, den die Brücke beschrieb, erhob sich ein riesengroßer runder gelber Mond über dem schwarzen Horizont.
Wirklich, einen so großen, so nahen Mond habe ich weder vorher noch danach je gesehen.
Wir blieben stehen und sahen uns dieses seltsame, monumentale Goldstück stumm an.
Meine Augen wurden von dem gelben Leuchten angezogen und ich konnte sie nicht wieder lösen. Auf der großen Brücke ganz oben in der schneidenden Kälte neben der ebenfalls wie hypnotisiert den Mond anstarrenden Siv zu stehen, war unglaublicher, als ich ertragen konnte.
Irgendwann mussten wir weiter. Unsere Abwesenheit konnte jeden Augenblick entdeckt werden, und es wurde immer kälter. Wir liefen weiter und sahen uns alle paar Schritte wieder um, bis die Sicht durch Häuser und Bäume versperrt wurde.
Alles, alles war dunkel, still, und gelb: Die Bäume trugen Unmengen gelber Blätter, der Bürgersteig war voll davon, die Straßenlaternen leuchteten in sanftem Gelb, der feine Nebel der Novembernacht wurde von diesem Licht goldgelb erleuchtet, über einer kleinen Eckkneipe schien ein gelbes Schild.
Unsere Winterstiefel raschelten durch den Laubteppich auf dem Weg. Ich konnte die Tankstelle sehen: Ihr orangegelb leuchtendes Dach war unverwechselbar. Ein paar Autos fuhren vorbei, gelbes Scheinwerferlicht, eine Autowerkstatt, gelbe Leuchtreklame für Reifen, und über allem der schwarze Himmel.
Ich konnte meinen Atem sehen, ich konnte Siv sehen, die neben mir lief und hübsch war – im Halblicht der Nacht fielen ihre Blässe und ihre unnatürlich hervorstehenden Wangenknochen nicht auf.
Die Unglaublichkeit des Mondes, die Unvernunft unserer Flucht vor der Melancholie und die Tatsache, dass wir immer schneller liefen, dass meine Verletzung bei jedem Schritt wehtat, waren eine berauschende Mischung. Mein Atem ging schnell, mein Kopf war ein Glühen, und dann, wie aus Zufall, merkte ich, wie sehr ich Siv mochte, wie genial es war, mit ihr durch die dunkle und gelbe Nacht zu rennen.
Ich war verliebt, ahnte diese der Liebe entfernt ähnliche Anwandlung zum ersten Mal im Leben, und es zerriss mich fast. Das Gefühl, mein Brustkorb müsse bersten, war wunderbar – so viel Eisluft und Herzklopfen passten nicht in mich herein.
Beim Laufen griff ich nach Sivs kalter Hand und die letzten Meter bis zur Tankstelle rannten wir gemeinsam.
An den Rückweg kann ich mich kaum erinnern, der Mond war höher gestiegen und hatte seine normale Mondfarbe angenommen. Wir gingen nicht Hand in Hand zurück, aber ich teilte meine sauren Weingummischnüre mit Siv. Ich konnte nicht aufhören, sie anzusehen.
Unsere Flucht wurde nicht bemerkt.
Danach war alles wieder fast normal – wir redeten manchmal miteinander, eine Woche später wurde ich entlassen und zog aus dem weißen Zimmer im Krankenhaus wieder zu meiner Familie.
Ich sah Siv noch ein paar Mal, wir verabredeten uns und sahen uns Filme an oder gingen Schlittschuhlaufen, als mein Bein ganz verheilt war.
Aber sie war nicht mehr die Siv, mit der ich geflohen und gerannt war, mit der ich staunend und ehrfürchtig den gelben Mond gesehen hatte, und ich war nicht mehr der Junge, der unbedingt raus musste und dessen Herz im Angesicht des Augenblicks zerspringen wollte.
Nur diese Minuten, in denen die Nacht strahlte und in denen ich in Siv verliebt war, als ich gerade dreizehn geworden war, nur an die kann ich mich noch richtig gut erinnern.