Dundichs Wald
Zehn Uhr. Herr Dundich stand auf, um, wie jeden Tag um diese Zeit, für einige Minuten das Fenster zu öffnen. Draußen war Frühling, doch Dundich, der sehr viel zu tun hatte, bemerkte es nicht. Er setzte sich sofort wieder an seinen Schreibtisch, um weiterzuarbeiten.
Da sprang ein Windstoß ins Zimmer, erfaßte ein Schriftstück und entführte es, ehe Dundich danach greifen konnte, durchs Fenster. Draußen flatterte es noch eine Weile hin und her, dann blieb es, vom Fenster aus gerade noch sichtbar, im Buschwerk des kleinen Wäldchens liegen, das zum Garten gehörte.
Herr Dundich war ungehalten. Er rief nach seinem Diener, erinnerte sich aber dann, daß dieser eines Todesfalles wegen bis Mittags abwesend sein werde, und ging selbst hinunter, um das Blatt zu holen. Den Ort, wo es lag, hatte er sich gut eingeprägt. Trotzdem konnte er es nicht gleich finden, und erst nach einigem Herumstolpern im Unterholz war sein Suchen erfolgreich. Er setzte sich auf einen umgestürzten Baum, um zu rasten, und dabei fiel ihm ein, daß er diesen Teil seines Besitzes eben zum ersten Mal betreten hatte. Alles war still. Nur die Vögel, oben in den Bäumen, waren manchmal zu hören.
Am Abend sagte Dundich zu seinem Gärtner: "Ich habe beschlossen, von nun an bei schönem Wetter im Wäldchen zu arbeiten. Besorgen Sie das Nötige".
Also besorgte der Gärtner, was er für nötig hielt. Er legte einige Kieswege an, stellte auf einem Platz, den er vorher von Gesträuch und Fallholz gesäubert hatte, einen Tisch auf und erstattete, nachdem alles fertig war, seinem Herrn darüber Bericht. Dieser war zufrieden. Er ließ am nächsten Morgen seine Sachen in den Wald bringen und begann sofort, in der ihm ungewohnten Umgebung zu arbeiten.
Das ging so ungefähr eine Stunde. Dann aber sah er ein, daß er sich nicht konzentrieren konnte. Schuld waren die Vögel. Ihr Gezwitscher, so beruhigend es auch gestern auf ihn gewirkt hatte, jetzt empfand er es als störend. Er rief den Gärtner. "Die Vögel müssen weg", sagte er zu ihm. "Morgen ist Sonntag, da können Sie das erledigen".
Der Gärtner sagte ja, aber es klang nicht gerade freudig. Doch Dienst und persönliche Regungen sind verschiedene Dinge, und so ging er und kaufte Schrottpatronen. Am Sonntagabend begrub er dann mit seiner Frau, die sich immer wieder mit dem Schürzenzipfel die Augen wischte, die siebenundvierzig bunten Dinger, die Herrn Dundichs Nerven so beansprucht hatten, im Garten.
Am Montagmorgen war es ganz still im Wäldchen, und Herr Dundich lobte die gute Arbeit des Gärtners. Aber dann, in der Mittagspause, vermißte er etwas. Er wußte auch bald: es war das Gezwitscher der Vögel. Als es ihm am nächsten Tag ebenso erging, schrieb er an die Firma Wurlitzer. Ein Ingenieur kam.
"Ich möchte Vogelstimmen", sagte Herr Dundich. "Können Sie mir dienen?" Der Ingenieur konnte. Herr Dundich erhielt eine Zwitscherorgel mit Tasten wie "Amsel", "Meise", "Nachtigall" usw. Die Lautsprecher waren, als Nester getarnt, in den Baumkronen verteilt. Zwar war das Ganze nicht billig, aber Herr Dundich hatte seine Freude dran. Er konnte nun sogar nachts Vögel hören, die um diese Zeit schon längst schliefen. Wenn Herr Dundich jedoch arbeitete, war der Wald still. Es war großartig.
Eines Tags jedoch wurde er plötzlich gestört. Er war eben mit einem schwierigen Rechtsfall beschäftigt, als ("Nein" sagte er, "das gibt es ja nicht") ein Vogel sang. Eine Amsel. Später dann noch ein Buchfink, ein Star und ein Rotkehlchen. Dundich schickte nach dem Ingenieur. Der kam, horchte, reparierte eine Weile an dem Kasten herum, und sagte dann: "Es sind Echte"
"Doch nicht Vögel!?" stöhnte der Orgelbesitzer. "Leider ja", sagte der Ingenieur. Es sind Neue. Aber ein Kollege von mir kann Ihnen da sicher helfen". Und er schickte den Kollegen. Der sah sich die Sache an und sagte: "Künstliche Bäume sind da das Richtige. Oben Drähte unter Hochspannung, das vertreibt alle Vögel. Sehen sehr echt aus, die Bäume".
"Gut", sagte Herr Dundich, und der Ingenieur schickte Leute und die legten den Wald um. Dann brachten sie auf großen Spezialwagen die künstlichen Bäume und setzten sie ein wie Stiftzähne. Als alles fertig war, kam der Ingenieur zu Herrn Dundich und sagte, er werde ihm jetzt die Sache vorführen. Denn, so fügte er stolz hinzu, der neue Wald diene noch ganz anderen Zwecken als nur der Fernhaltung von Singvögeln und Herr Dundich werde staunen.
Herr Dundich staunte wirklich. An jedem Baum gab es ein Schaltbrett mit Druckknöpfen. Drückte man auf den einen, fiel ein Tannenzapfen herab. Bei Betätigung eines andern leuchteten die Äste, die aus durchscheinendem Kunststoff gefertigt waren, in allen möglichen Farben. Wieder ein anderer Knopf brachte eine kleine Hausbar zum Vorschein, deren Inhalt von Baum zu Baum variierte. Es gab insgesamt 57 Knöpfe. Jeder Baum hatte Hohlräume mit verschließbaren Öffnungen, um darin Eichkätzchen oder wilde Bienen halten zu können. Der Ingenieur lächelte, als Herr Dundich erschrak. "Keine Angst. Wir liefern ganze Bienenvölker ohne Stachel, vollkommen ungefährlich. Derzeit arbeiten wir sogar an einer nichtsummenden Sorte".
Herr Dundich war zufrieden. Besonders gefielen ihm auch die Blumen, die überall frisch gesetzt worden waren. "Alles Kunststoff, natürlich", sagte der Ingenieur, "mit synthetischen, aber streng authentischen Geruchsubstanzen ".
"Hier", fuhr er fort, "sehen Sie Haken in Kopfhöhe. Diese dienen zur Befestigung von Hängematten, Wäscheleinen etc. Die Bäume in der Nähe von Bänken haben ein Stück echtes Holz mit Rinde eingesetzt, selbstverständlich auswechselbar, zum Einschnitzen von Herzen oder ähnlichen Gefühlsäußerungen. Ein spezielles Schnitzmesser kommt auf Drücken von Knopf Nr. 22 zum Vorschein."
Der Ingenieur sah, daß Dundich sehr beeindruckt war. "Und jetzt," sagte er stolz, "kommt der Höhepunkt des ganzen, unser neues Computerprogramm "Synthezwitsch".
"Synthezwitsch?" fragte Dundich verwirrt.
"Ein Vogelstimmengenerator. Nicht mehr die Tonaufnahmen echter Vögel, sondern im Synthesizer erzeugtes Gezwitscher. Man kann jetzt Vögel singen hören, die es gar nicht gibt."
"Ich weiß nicht recht," sagte Dundich, "vielleicht klingt es altmodisch, aber wenn ich nun doch das Bedürfnis verspüre, echte..."
"Ich verstehe," sagte der Ingenieur, "Wir liefern auch echte Vogelstimmen. Und wenn ich echt sage, dann meine ich das auch so. Live ist jetzt die Devise. Wozu haben wir das Internet?" Er holte einen Laptop aus dem Stamm einer Eiche, die neben dem Schreibtisch stand. "Sie brauchen nur die Webadresse 'www.cyberzwitsch.com' einzugeben, und schon haben Sie eine reiche Auswahl an echten Vogelstimmen. Wir haben Mikrophone im Tiergarten und im Wienerwald, ja sogar im Vogelpark von Gran Canaria. Aber, wie gesagt - Liveaufnahmen. Die Perfektion des Synthesizers dürfen Sie da nicht erwarten."
"Das", schloß der Ingenieur, "war natürlich nur das Wesentliche. Alles Weitere entnehmen Sie bitte dieser Gebrauchsanweisung". Und er überreichte Herrn Dundich einen reich illustrierten Band im Format eines Telephonbuches. Dann sagte er noch: "Ihren Gärtner können Sie bei uns zu sehr günstigen Bedingungen ausbilden lassen. Ein einjähriger Kurs in Elektronik und Informatik wird ihn bereits befähigen, einfache Reparaturen selbständig auszuführen".
Nachdem der Ingenieur gegangen war, rannte Herr Dundich von einem Baum zum anderen, ließ da einen Zapfen herabfallen, zauberte dort eine Whiskyflasche hervor, und lachte jedesmal, wenn er etwas Neues entdeckt hatte.
Als der Diener ihm am nächsten Morgen das Frühstück bringen wollte, fand er das Bett unberührt. Besorgt ging er hinunter und sah dort seinen Herrn, wie er schweißgebadet von einem Baum zum andern sprang. Kaum hatte er seinen Diener erblickt, rannte er auf ihn zu und drückte wild auf sämtliche Knöpfe seiner Uniform.
"Was ist los?" schrie er. "Wo bleibt die Hausbar? Warum schreit kein Kuckuck? Weshalb kommt kein Messer zum Vorschein? Wieso fällt kein Tannenzapfen herunter?" Und dabei schwenkte er drohend die Gebrauchsanweisung.
"Weil ich ein Mensch bin", sagte der Diener ruhig. Er wußte wirklich keine andere Antwort. Doch sein Herr hing schon am Telephon, das er mit Taste 27 aus einer Rotbuche geholt hatte. "Ingenieur!" brüllte er. "Ingenieur!"
Die Ärzte nannten es Managerkrankheit und rieten ihm, seinen Wald in der nächsten Zeit nicht zu betreten. Er hält sich auch daran. So ziemlich. Nur manchmal wird sein Diener nachts durch Vogelschreie geweckt. Dann springt sein Herr wieder zwischen den Bäumen herum und frönt seiner Waldleidenschaft. Am Morgen danach ist er jedesmal sehr erschöpft und sagt traurig: "Wieder konnte ich nicht alle drücken. Es sind wirklich zu viele."