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Dukkha
Meditation. Achtsamkeit. Einatmen. Räucherstäbchen. Ausatmen. Buddha-Statuen. Wenn seine Jungs wüssten, dass er bei so etwas mitmachte, würden sie aus dem Lachen nicht mehr herauskommen. Andererseits hatte Steffen einen Grund, den auch sie verstehen würden: Claudia Binelli, die Sekretärin seines Abteilungsleiters. Claudia hatte ein Lächeln, das das Eis auf den Gipfeln des Himalaya zum Schmelzen bringen könnte – und einen Hintern, bei dem auch der Dalai Lama schwach werden würde.
Steffen hatte Roberto von Anfang an nicht leiden können. Seit seinem ersten Tag in der Finanzbuchhaltung ging der Kolumbianer, Venezolaner oder was auch immer er sein mochte Steffen gehörig auf den Geist. Er verabscheute die Art, wie Roberto sein Gegenüber beim Reden an den Arm fasste. Er hasste sein öliges Lächeln. Aber am meisten störte ihn, dass Claudia auch über Robertos dümmlichste Witze lachte und wie sie vor Kolleginnen von seiner „lockeren Art“ schwärmte.
Steffen machte sich keine Illusionen: Sein Blatt sah nicht gut aus. „Locker“ war er auf keinen Fall. Genau so wenig war er groß oder kräftig. Mit fünfunddreißig hatten seine Haare an den Seiten bereits den Rückzug angetreten und Frauen, denen er zulächelte, neigten dazu, zu einer genauen Inspektion ihrer Schuhspitzen überzugehen.
Steffens Team in der Finanzbuchhaltung bestand zu achtzig Prozent aus Muttis. Die „Muttis“, wie Steffen sie im Geist nannte, waren überwiegend wirklich Mütter. Sie waren zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahren alt, manche arbeiteten Teilzeit, etwa die Hälfte war geschieden. Alle waren irgendwo im unteren Mittelfeld der Attraktivitätsskala beheimatet. An Montagen pflegte Roberto in der kleinen Kaffeeküche des Büros die Riege der Muttis mit Berichten seiner Wochenenderlebnisse zu unterhalten.
Als Steffen sich an diesem Montagmorgen an den Muttis vorbei drängelte, um sich eine Tasse Kaffee einzugießen, musste er mit anhören, wie Roberto von diesem Yogi erzählte, den er – Gott wusste, wo – kennengelernt hatte. „Ich bin ja eigentlich auch nicht so, für äh, religiöse Dinge“, hörte er Roberto in seinem spanischen Akzent lispeln. „Aber ich habe dann doch mal eine halbe Stunde mich mit ihm hingesetzt und, äh, meditiert … Und da ist schon etwas. Unglaublich entspannend jedenfalls.“
Die Riege der Muttis nickte anerkennend vor so viel fernöstlicher Weisheit. Steffen setzte gerade zu einem hämischen Kommentar an, etwa: „Wofür musst du dich denn entspannen, du entspannst hier doch den ganzen Tag?“ Doch da entdeckte er in der Runde gerade noch rechtzeitig Claudia Binelli, die mit ebenso leuchtenden Augen zuhörte. „Also, das würde mich ja auch mal interessieren“, sagte sie.
Also warf Steffen eifrig ein: „Ich meditiere ja auch seit einer Weile regelmäßig. Wusste gar nicht, dass ihr euch für so was interessiert?“, setzte er dann lässig hinzu. „Bietet dein Yogi denn auch so was wie einen Schnupperkurs an? Wäre doch mal was, was wir so zusammen machen könnten, als Team. So nach der Arbeit.“
Claudia sandte ihm ein kurzes Lächeln zu, das ihn den Rest eines unsagbar langweiligen Bürotages über warm hielt.
Robertos Yogi gab seine Kurse in einem Gewerbegebiet am Rande der Stadt, zwischen einer Autolackiererei und einem Matratzengroßhandel. In der Halle wurden sonst Kurse in Jiu-Jitsu, Judo und Thaiboxen angeboten. Im Eingangsbereich bestand die einzige Dekoration aus einer Plastikpalme und in der Umkleidekabine waren die Hälfte der Spinde sowie die Dusche defekt. In der Halle hätte Steffen eine Buddha-Statue oder zumindest einen kleinen Schrein erwartet. Es gab nichts dergleichen. In einer entfernten Ecke stand ein Wagen mit lieblos übereinander gestapelten Trainingsmatten und die Luft roch vage nach Schweiß.
Der Guru selbst war beinahe noch weniger mystisch als der Ort. Steffen hatte vor seinem inneren Auge das Bild eines weisen, uralten Chinesen mit langem Bart und einem wallenden Gewand gehabt. Stattdessen trug der Mann eine verwaschene Jeans, Turnschuhe und ein Metallica-T-Shirt. Seinem Gesicht und der Größe nach – sie begegneten einander auf Augenhöhe – hätte Steffen ihn als Chinesen durchgehen lassen. Es stellte sich aber heraus, dass bereits James Yeshes Großeltern aus Tibet in die USA ausgewandert waren. James selbst sprach Deutsch mit kalifornischem Akzent.
Nachdem James das Dutzend Kollegen in Jogginghosen und Schlabberhemden einzeln mit Händedruck begrüßt hatte, wandte er sich nun an die Gruppe. „Es freut mich, dass ihr euch für Meditation interessiert“, sagte er mit einem feinen Lächeln. „Ich hoffe, ich kann euch heute etwas zeigen, das euch gefällt. Vielleicht kommt der eine oder andere danach ja sogar mal wieder.“ Für Steffen klang er fast schüchtern.
„Ich will euch für den Anfang ein paar Worte sagen. Aber auch nicht zu viele, denn beim Meditieren geht es nicht um Worte. Es geht genau darum, Beschreibungen beiseite zu lassen. Das Geschnatter im Kopf auszuschalten. Es geht ums Erleben. Es geht immer um die Praxis.“
Einige der Umstehenden nickten, ein paar lächelten schüchtern zurück. Steffen konnte an der Art, wie sie ihren Kopf beim Zuhören schräg legte, erkennen, dass Claudia aufmerksam lauschte.
„Meditation als Praxis ist Jahrtausende alt. Es gibt zwischen Indien, Vietnam, Tibet und Japan unzählige buddhistische und hinduistische Schulen und Formen davon. Auch im Christentum gibt es Formen des Gebets und der Kontemplation, die man als Meditation bezeichnen könnte. Das in sich Hineinhören, die Suche nach dem eigenen Bewusstsein – das ist eine menschliche Übung und an keine Religion oder Weltgegend gebunden.
Ich habe selbst mehr als zehntausend Stunden in meinem Leben meditiert. Es gibt aber auch Menschen, die fast ihr gesamtes Leben damit verbringen. Mir selbst sind nicht mehr als zwei Stunden am Tag möglich, schließlich habe ich auch noch einen anderen Job. Ich bin Lebensmittelchemiker und ich denke, mein Boss würde es nicht gut finden, wenn ich mit geschlossenen Augen im Büro sitze und mich aufs Atmen konzentriere.“ James’ Lächeln gewann einen ironischen Zug.
„Ich komme selbst aus einer buddhistischen Familie und meine Mutter hat mir beigebracht zu meditieren als ich etwa sechs Jahre alt war. Während der College-Zeit bin ich regelmäßig für Wochen nach Asien, vor allem nach Tibet, gereist, um von verschiedenen Meistern und Schulen zu lernen. Ich will euch aber keinen Vortrag über die Unterschiede zwischen Vipassana- und Vedanta-Meditation halten. Ich will euch auch nicht bekehren. Ich weiß, dass ihr alle jeden Tag zur Arbeit geht, Familien und Verpflichtungen habt. Wahrscheinlich wärt ihr froh, wenn ihr euch am Tag zwanzig Minuten fürs Meditieren nehmen könnt. Deshalb … Fangen wir einfach mal an!“
Da außer James niemand ein Meditationskissen dabei hatte, griff sich jeder eine der Trainingsmatten und schleifte sie in die Mitte des Raums. Steffen achtete darauf, einen Platz direkt hinter Claudia zu bekommen. Im Büro trug sie meist Röcke oder Kleider, aber Steffen sah gleich, dass ihr auch die eng sitzende Jogginghose gut stand.
„Wir machen eine kurze Sitzung, nur fünfzehn Minuten. Ich will euch ja nicht gleich verschrecken. Wie genau ihr sitzt, ist erst mal nicht so wichtig. Wenn ihr könnt, sitzt ihr im Lotussitz, etwa so …“ James setzte sich so auf sein Kissen, dass jeder Fuß auf dem Oberschenkel des anderen Beins zum Liegen kam. „Falls das nicht geht, sitzt ihr im Halb-Lotus oder einfach im Schneidersitz. Probiert es aus. Pendelt euch ein.“ James wiegte sich leicht nach links und rechts, vor und zurück und blieb dann gerade wie die Kobra eines Schlangenbeschwörers sitzen. „Achtet auf den geraden Rücken und dann versucht so zu sitzen, dass ihr es für fünfzehn Minuten aushaltet, ohne euch zu bewegen. Das ist das Wichtigste.“
Steffen beschloss, es nicht zu anspruchsvoll anzugehen: Er legte den rechten Fuß auf seinen linken Oberschenkel und schlug das andere Bein unter. Claudia vor ihm setzte sich natürlich mühelos im Lotussitz hin. Wow, ganz schön gelenkig, ging es ihm durch den Kopf und nur mit Mühe konnte Steffen ein Grinsen unterdrücken. Als die Muttis um ihn herum begannen, sich „einzupendeln“, musste Steffen fast laut lachen.
„Meditieren ist eigentlich ganz einfach: Alles, was ihr tut, ist sitzen und atmen.“ Fast wie im Büro, dachte Steffen und ärgerte sich gleich, dass er den Witz nicht laut machen konnte. Claudia hätte bestimmt gelacht. „Aber es ist auch schwierig, denn es geht darum, euer Bewusstsein als solches zu erfahren. Das heißt nicht über euer Bewusstsein nachzudenken. Tatsächlich ist es das Gegenteil von Nachdenken. Ihr sollt aber auch nicht über das Nichtdenken nachdenken. Keine Abstraktionen. Kein Geschnatter.“ James machte die Augen zu. „So, jetzt ihr. Schließt die Augen.“
Steffen tat es ihm gleich und starrte von innen auf die schwarze, unregelmäßig dunkelrot pulsierende Leinwand seiner Augenlider. „Ihr konzentriert euch einfach auf euren Atem. Ihr denkt nicht über euren Atem nach. Ihr konzentriert euch auf das Empfinden eures Atems, dort wo er durch die Nasenlöcher hinein und wieder hinaus strömt. Ihr denkt nicht. Wenn doch ein Gedanke aufkommt, unterdrückt ihn nicht – aber folgt ihm auch nicht. Ihr seht ihn von außen entstehen und wieder vergehen. Wie eine Wolke, die sich am Horizont bildet und sich wieder auflöst. Dann kehrt ihr zum Atem zurück. Sooo …“, machte er langgezogen. Dann sagte er nichts mehr.
Na schön. Steffen atmete ein. Die kühle Luft fuhr über die Ränder seiner Nasenlöcher und ließ vor seinem inneren Auge das Bild zweier Kreise entstehen. Beinahe im gleichen Moment strömte sie weiter und er spürte einen leichten Druck gegen die Haut im Inneren seiner Nase, links und rechts des Nasenbeins. Die Atembewegung erreichte ihr Ende und für einen Moment hielt Steffen die Luft in seiner Lunge. Dann atmete er aus: Seine Bauchdecke senkte sich und die nun wärmere Luft strich über die feinen Härchen in seiner Nase. Wieder verharrte er einen Moment und atmete ein …
Und was soll jetzt hieran schwierig sein?, fragte er sich. Wieder ließ die Luft, die er einsog, seine Nasenlöcher als leuchtende Kreise in der Dunkelheit vor ihm entstehen. Ich habe bisher jeden Tag geatmet … Auch ohne diesen Hokuspokus.
Nicht denken, hatte James gesagt. Das fiel ihm leicht. Über was sollte er auch nachdenken? Hier gab es ja nichts. Nur einen Haufen Büromenschen, die ihren Feierabend darauf verwendeten, in einer leeren Halle auf dem Boden zu hocken und zu atmen …Nein, schwierig war das mit dem Nichtdenken nicht. Nur unglaublich öde.
Die Langeweile wuchs. Mit jeder Sekunde wurde sie stärker, verwandelte sich in das Bedürfnis, seine Arme zu bewegen, seine Beine zu entfalten und aufzustehen. Aber was würde Claudia dann sagen? Zu allem Überfluss begann sein linkes Bein einzuschlafen. Also beschloss Steffen, doch wieder zu denken. Er machte eine Liste mit Dingen (Eier, Instant-Nudeln, Pizza, Shampoo …), die er auf dem Nachhauseweg noch vom Supermarkt holen würde.
War da noch etwas? Ach ja, Bier! Gut dass ich jetzt noch dran gedacht habe. Am Samstag kommen ja die Jungs vorbei, um das Spiel anzuschauen. Die würden doof gucken. Das Spiel … Immerhin zwanzig Euro gesetzt. Ob ich davon was wiedersehe, jetzt wo der Torwart sich verletzt hat? Verdammt. Aber gut, dass ich an das Bier gedacht habe. Nur doof, dass Ralf nicht kommt, aber den sieht man ja eh kaum noch, seit er diese Neue hat. Die hat ihn übel an der Leine. Aber heiß ist sie ja schon. Ich frag mich, ob sie ihn im Bett auch so herumkommandiert …?
Steffen fühlte eine beginnende Erektion. Ach was soll’s. Er öffnete das linke Auge einen Spalt. James Yeshe hatte seine Augen noch immer geschlossen, sodass keine Gefahr bestand, von ihm ertappt zu werden. Also öffnete Steffen auch das rechte Auge, gerade so, dass er sie rasch wieder schließen konnte, falls James ihn doch anschaute.
Sein Atem war Steffen inzwischen ganz egal. Damit bin ich durch. Dafür tat ihm die untere Wirbelsäule weh. Zum Glück gab es Ablenkung: Die zwei perfekten Rundungen von Claudia Binellis Hintern, die sich gegen die graublaue Matte drückten. Ihr zu einem Zopf gebundenes, blondes Haar, fiel leicht über die sich sanft hebenden und senkenden Schultern. Steffens Blicke wanderten von unten nach oben, dann wieder langsam den Rücken hinab nach unten. So lässt es sich doch aushalten …
Nach dem Umkleiden passte Steffen Claudia wie zufällig in dem Eingangsbereich mit der Plastikpalme ab. „Wow“, lachte er, „was eine Zeitverschwendung oder?“
Claudia, die Sporttasche über der Schulter, sah ihn überrascht an. „Nee, fand ich eigentlich gar nicht. Ich fand es super … reinigend, irgendwie. Wie so ein Spülgang fürs Hirn.“
Steffen spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. „Ähm, ja, ach so. Ja, das fand ich auch. Ich meinte nur … Also fünfzehn Minuten sind ja fast nichts. Das war mir zu kurz. Aber gut, ich habe ja natürlich auch schon Erfahrung und …“
„Hey!“, rief es plötzlich freudig von hinter Steffen und schnitt ihm das Wort ab. Roberto kam, wie immer strahlend, aus der Umkleide und stellte sich zwischen sie, wobei Steffen nicht entging, dass seine Hand kurz auf Claudias Schulter zum Liegen kam. „Super gut, oder? Hab ich euch nicht zu viel versprochen, oder?“ Sein Lächeln wurde noch breiter.
„Total!“ Claudia strahlte zurück. „War echt eine tolle Idee von dir!“
Während Steffen noch überlegte, ob er einwerfen sollte, dass die tolle Idee eigentlich von ihm stammte, setzten die beiden sich schon in Bewegung und er musste sich bemühen, mitzuhalten.
Unter den Muttis herrschte nach dieser ersten Session maßlose Begeisterung. Von nun an fuhr beinahe das ganze Team jeden Donnerstag nach der Arbeit raus ins Gewerbegebiet. Der Genuss, Claudia Binellis Rückseite in Jogginghose bewundern zu können, konnte Steffens Unwohlsein über die Entwicklung bald nicht mehr aufwiegen.
Kam er jetzt am Morgen in die Kaffeeküche, gab es nur noch ein Thema. „Seit ich regelmäßig meditiere, fühle ich mich so viel … wacher“, schwärmte Vera. „Ja! Die Welt wirkt so viel … farbiger, irgendwie“, flötete Angelika mit der hässlichen Goldrandbrille. Und die dicke Anna ergänzte: „Wie eine Peeling-Kur für die Seele! Und ich glaube, es hilft mir sogar beim Abnehmen!“ Steffen goss die Tasse nur halb voll, verzichtete auf Milch und Zucker und flüchtete aus der Küche.
Draußen stieß er fast mit Claudia zusammen. „Wovor rennst du denn weg?“, lachte sie auf.
Steffen nickte über seine Schulter. „Vor den Weibern da drin. Die kriegen sich gar nicht mehr ein. Kommt mir vor wie ein Werbefilm – oder wie bei einer …“ Sekte, hatte Steffen sagen wollen. Aber Claudias Gesichtsausdruck ließ ihn innehalten.
„Ach“, machte Claudia und schüttelte den Kopf. „Du hast einfach kein Gespür für … Spiritualität.“ Mit diesen Worten verschwand sie in die Küche.
Nein, dachte Steffen bei sich. Vermutlich nicht. Aber ich habe ein Gespür für grassierenden Schwachsinn. Er beeilte sich, an seinen Computer zu kommen.
Die Veränderungen kamen allmählich. Auf einzelnen Schreibtischen erschienen Buddhastatuen. Plötzlich hing an einer Wand des Büros ein tibetanischer Wandbehang mit einem Chakra darauf. Der Konsum an importiertem chinesischen Tee schoss sprunghaft in die Höhe. Kolleginnen hielten bei der Arbeit plötzlich inne, machten sich auf dem Stuhl gerade und gingen für zehn Minuten in sich. Andere verschwanden dafür gleich in einen leeren Meetingraum, in dem es hinterher nach Räucherstäbchen roch.
Das blieb auch der Abteilungsleiterin Frau Fromm nicht verborgen. Während des nächsten Abteilungsmeetings stand der Punkt auf der Tagesordnung. Endlich wird dem Schwachsinn ein Ende gesetzt, frohlockte Steffen innerlich. Frau Fromm fuhr allerdings fort: „Zunächst war ich skeptisch, allein schon weil religiöse Gegenstände auf dem Schreibtisch gegen unsere Clean Desk-Policy verstoßen. Die Auswertung hat allerdings ergeben, dass sich sowohl die Zahl der bearbeiteten Vorgänge pro Stunde als auch die Fehlerquote und der Krankenstand in den letzten Wochen außerordentlich positiv entwickelt haben. Ich habe deshalb durchgesetzt, dass unser Unternehmen als zusätzlichen Corporate Benefit in Zukunft die Hälfte der Beiträge für Ihre Meditationskurse übernimmt und diese voll auf die Arbeitszeit angerechnet werden.“
Richtig misstrauisch wurde Steffen, als James anfing, ihnen die „neue Technik“ beizubringen. James stand vor der Gruppe, neben ihm, etwa hüfthoch, ein mit einem hellblauen Tuch verhüllter Gegenstand. „Es geht bei der Meditation darum, die Mauer aus Illusionen und falschen Vorstellungen zu durchbrechen, sodass das reine Bewusstsein sich auf sich selbst richtet. Bisher habt ihr euren Atem als Meditationsobjekt benutzt, als Punkt, auf den ihr eure Aufmerksamkeit fokussiert. Für den nächsten Schritt will ich euch ein besseres Objekt anbieten. Die Technik, die ich euch beibringen möchte, ist nur für Fortgeschrittene geeignet. Aber als Gruppe haben wir im letzten halben Jahr große Fortschritte gemacht und ich glaube, dass ihr bereit seid.“
Der einzige „Fortschritt“, den Steffen im letzten halben Jahr bemerkt hatte, war, dass der Büroalltag zunehmend unerträglich wurde und seine unteren Rückenwirbel regelmäßig schmerzten. Aber James fuhr unbeirrt fort: „Ich bin der Technik vor fast zehn Jahren auf einer Reise durch eine entlegene Gegend Tibets begegnet. Ich war mit zwei anderen Amerikanern unterwegs, nicht weit von der Region, aus der meine Familie ursprünglich kommt. Wir hatten schlechte Karten, mieses Wetter und uns nach drei Tagen vollständig verirrt. Durch Zufall kamen wird auf unserer Wanderung durchs Gebirge an den Rand eines kargen Plateaus, das die Einheimischen als Leng bezeichnen. Ein seltsamer Ort. Es ist immer kalt und windig, am Tag wie in der Nacht und alles, was dort wächst, sind kleine verkrüppelte Sträucher. Der Rest sind Steine und Felsen.
Wir glaubten, dass wir das Plateau überqueren müssten, um wieder auf den richtigen Weg zu gelangen und doch noch ans Ziel zu kommen. Am ersten Abend auf dem Plateau wollten wir, um uns vor Wind und Kälte zu schützen, in einer Höhle Unterschlupf suchen – nur um festzustellen, dass wir nicht die ersten waren: Die Höhle wurde von einem alten Mann bewohnt. Alt ist hier zu wenig gesagt: Der Mann in der Höhle war so alt, dass an seinem gesamten Körper kaum mehr ein Haar wuchs. Die Haut war nicht nur ledrig sondern sah – zumindest im Licht des Feuers, das wir am Höhleneingang entfachten – so aus, als würde er lebendig mumifizieren. Seine Augen hatten keinerlei Glanz oder erkennbare Feuchtigkeit mehr. Trotzdem lebte er.
Irritierenderweise behauptete er, bereits deutlich älter als fünfhundert Jahre zu sein. Vielleicht habe ich diesen Teil aber auch falsch verstanden, weil er in einem mir unbekannten Dialekt redete. Am Ende stellte sich unser Irrweg als Glücksfall heraus, weil der Alte uns in die Technik einführte, die ich euch heute zeigen will.“ Mit diesen Worten zog James Yeshe das blaue Tuch von dem Ding zu seiner Linken.
Die Statue bestand aus einem so dunklen Stein, dass sie das Licht zu verschlucken schien. Steffen fand sie von der ersten Sekunde an ekelerregend. Was genau sie darstellen sollte, begriff er nicht recht. Es fühlte sich an, als müssten seine Augen sich zunächst an den Anblick gewöhnen – als hinge eine Art Nebel um die Statue, den sein Verstand erst nach und nach auflösen musste.
Am Rande bemerkte er, dass die Statue ihre Wirkung auch auf die anderen nicht verfehlte: Als James das Tuch zur Seite zog, hörte er, wie Vera neben ihm scharf die Luft einsog. Claudia vor ihm zuckte zusammen, als habe sie etwas gebissen.
Sofern sich der Vergleich mit einem Menschen nicht von selbst verbot, saß das schwarze Etwas im Lotussitz vor ihnen. Allerdings verfügten seine Beine jeweils über ein zusätzliches Gelenk, sodass jedes Bein gleich zwei Mal auf dem je anderen lag. Das Wesen hatte sechs Arme, die ebenfalls jeweils so etwas wie einen zusätzlichen Ellenbogen besaßen. Je zwei klauenförmige Hände lagen gefaltet in seinem Schoß, zwei hatte es auf die Oberschenkel gestützt und das letzte Paar war über den Kopf erhoben.
Der Torso der Kreatur begann über der Hüfte wespenhaft schmal und wuchs nach oben stark in die Breite, bis hinauf in eine unwahrscheinlich muskulöse Brust. Steffen stellte fest, dass er – und jeder andere Mensch – über einige der Muskeln, die das Wesen hatte, gar nicht verfügte. Um seinen Rücken lag etwas, bei dem es sich um einen Umhang mochte – oder um ledrige Schwingen, vergleichbar den Flügeln einer Motte handeln.
Sein Kopf vermischte auf groteske Art und Weise Merkmale eines Elefanten, einer Fledermaus und eines Tintenfischs. In der Mitte befanden sich zwei riesige, ovale Augen, von denen Steffen seinen Blick bald nicht mehr lösen konnte. Sie waren perfekt in ihrer Glattheit und wirkten zugleich unendlich tief und leer. Sie waren sicher aus dem gleichen Material wie der Rest der Statue, doch auf eine unerklärliche Art und Weise wirkten sie noch einmal dunkler, abgrundtief schwarz.
„Nehmt euch ruhig ein paar Momente, um euch an den Anblick zu gewöhnen“, sagte James. Steffen bezweifelte, ob es überhaupt möglich war, sich jemals an diesen Anblick zu gewöhnen. „Die Statue stellt einen Y’hingr’yn dar, eine Art von Naturgeistern, die von den Einheimischen um Leng verehrt werden. Der Alte, den wir in der Höhle trafen, zeigte uns ihren unschätzbaren Wert für die Meditation. Diese Statuen sind ein weit überlegenes Meditationsobjekt, verglichen mit dem eigenen Atem, dem Herzschlag oder auch einer Flamme oder einem Pendel. Eben weil sie so fremdartig sind.
Wir werden heute mit einer ganz kurzen, zehnminütigen Sitzung anfangen. Ich will, dass ihr während der Meditation euren Blick direkt auf die Augen des Y’hingr’yn richtet. Oder besser: in seine Augen. Lasst euch hineinfallen, wie in einen warmen Fluss. Seid gleichzeitig achtsam und konzentriert euch darauf, was mit euch geschieht. Wie ihr euch verändert. Beobachtet es und lasst es geschehen. Ihr werdet einen Sog spüren, der euch direkt ins Innere des Y’hingr’yn führt. Lasst euch von diesem Sog leiten und werdet eins mit ihm. Denn das ist der Sinn der Übung: In dem ihr eins werdet mit dem völlig Fremden, wird euer Bewusstsein die Illusion des Ich ablegen und völlig frei werden.“
Während der Übung tat Steffen sein Möglichstes, die leeren Augen der Statue zu vermeiden. Stattdessen ging er seiner eigenen meditativen Praxis nach: Er richtete den Blick auf Claudias Rückseite und malte sich all die Dinge aus, die er an einem späten Abend im Büro, an dem nur sie beide Überstunden machten, mit ihr tun würde. Manche davon sogar auf dem Tisch ihrer Abteilungsleiterin Frau Fromm. Aber heute machten ihm diese Phantasien weniger Freude als sonst: Die Stille lag auf ihm wie ein Leichentuch. Die zehn Minuten dauerten eine Ewigkeit an.
Claudia und er kamen hinterher gleichzeitig aus den Umkleideräumen. Steffen begann sofort: „Jetzt hat der liebe James aber endgültig den Verstand verloren, oder? Ich meine … Hast du dieses … Ding gesehen? Ich hatte schon Alpträume, die schöner waren …“
„Na ja … Ich versteh schon, was du meinst.“ Claudia sprach ungewohnt langsam. Steffen stellte erschreckt fest, dass ihre ruhige, leise Modulation ihn unwillkürlich an James Yeshe erinnerte. „Aber da ist auch etwas … Also, die Übung funktioniert. Ich glaube, ich habe in meinem Kopf noch nie so eine Ruhe gefühlt. Fast wie unter dem Meer. Und du weißt ja, wie es ist, wenn man gerade anfängt und so in den ersten drei Minuten alle möglichen Bilder vor einem auftauchen?“ Steffen biss sich auf die Zunge. Er würde sich hüten, Claudia zu erzählen, was für Bilder während der Sitzungen vor seinem inneren Auge auftauchten. „Ich habe diesmal Bilder gesehen, die gar nicht wie meine aussahen. Also, die wirkten nicht wie etwas, an das ich mich erinnern oder das ich mir ausdenken könnte.
Es passte zu dem, was James über das Plateau von Leng erzählt hat. Der Himmel darüber sah unglaublich weit weg aus. Er sah auch gar nicht wie unser Himmel aus, sondern hatte so eine türkise Farbe. Das Plateau war aber nicht leer: Überall standen riesige Türme, die bis in die Wolken gingen. Sie waren aus dem gleichen Material, aus dem auch diese Statue ist, dieser … Y’hingr’yn. Nur dass der nicht völlig schwarz war, so dunkelblau leuchtete, wenn ihn dieses seltsame Sonnenlicht berührte. Aus den Türmen zweigten sich weitere Türmchen ab, zwischen denen Brücken hin und her gingen, teilweise in ganz verrückten Winkeln. Und die Stadt war bewohnt von tausenden dieser ... Wesen.“
Steffen wusste nicht recht, was er erwidern sollte. Er räusperte sich nervös.
„Das Seltsamste war … Ich hatte das Gefühl, dass diese Wesen mich sehen konnten. Dass sie mich direkt anschauten.“
„Ähm … Das klingt wie ein ziemlich schlimmer Trip. Ehrlich gesagt: Es klingt nach einem guten Argument dafür, dass mit James und dieser ganzen Veranstaltung hier was nicht ganz richtig ist.“
Claudia ließ ihr helles Lachen hören. „Ach, Steffen, du bist manchmal so ein Griesgram. Ich denke, das heißt einfach, dass die Übung funktioniert. Und ehrlich gesagt: Ich hab mich selten entspannter gefühlt.“
In diesem Moment kam Roberto aus der Umkleide. Er legte Claudia einen Arm um die Hüfte und gab ihr einen Kuss auf die Schläfe. „Wollen wir? Ich kann nicht warten, nach Hause zu kommen.“
Claudia lächelte. „Klar.“ Sie sah wieder Steffen an. „Du musst auch vorne zur Bushaltestelle, oder?“
„Ja.“ Er hatte nicht die geringste Lust, den Weg mit den beiden zusammen zu gehen. „Oh, ich merke gerade: Ich muss mein Telefon im Spind gelassen haben. Geht ihr schon mal vor.“
Die beiden verabschiedeten sich und Steffen ging in die Männerumkleide zurück, wo er fünf Minuten die Schränke anstarrte. Als er in den Vorraum zurückkam, stand dort James Yeshe, heute in ein Saxon-T-Shirt gekleidet, die abgetragene Sporttasche über der Schulter und trank irgendein isotonisches Sportgetränk.
Als er Steffen sah, schnippte er die Kappe der Plastikflasche zu und näherte sich. „Herr Winkler, Sie sind auch noch hier? Das ist gut, ich wollte mit Ihnen reden.“
Steffen bereute es sofort, dass er nicht mit Claudia und Roberto gegangen war. Er zog beide Augenbrauen nach oben. „Ja, worüber denn?“
Steffen stellte fest, dass James im Zwiegespräch noch schüchterner war als vor der Gruppe. „Es geht um die neue Übung, die ich heute vorgestellt habe. Ich weiß ja, dass Sie eher ein Skeptiker sind. Und dass Sie sich während der Sitzungen auch manchmal mit anderen Dingen beschäftigen.“
Steffen spürte, dass er rot wurde. „Na ja, so ist das ja eigentlich auch nicht …“
„Das ist schon in Ordnung. Wir haben alle unterschiedliche Herangehensweisen, an das Leben und an die Praxis der Meditation. Es ist natürlich, dass die Geschwindigkeit, in der wir Fortschritte machen, sich unterscheidet. Und es wäre fatal, das hier als einen Wettkampf zu sehen. Trotzdem muss ich als Lehrer das Niveau meiner Schüler beobachten. Ich trage ja auch eine gewisse Verantwortung.“
„Wie meinen Sie denn das?“
„Ich meine …“ James schaute auf seine Schuhe, als könne er von Ihnen die richtigen Worte ablesen. „Nun ja, dass, wie ich vorhin gesagt habe, die neue Technik etwas für Fortgeschrittene ist. Und ich habe Zweifel, ob Sie Ihnen Gewinn bringen kann. Im schlimmsten Fall könnte eine solche Übung jemandem auf ihrem Stand sogar schaden.“
„Und das bedeutet jetzt ...?“
„Nun, ein Bekannter von mir, ein sehr guter Lehrer, bietet ab der kommenden Woche einen neuen Kurs für Anfänger an. Das läuft ebenfalls über Ihre Firma, sodass Sie die gleichen Vorteile hätten. Vielleicht würden Sie darüber nachdenken, den Kurs zu wechseln?“
Als Steffen bewusst wurde, was diese Worte bedeuteten, fixierte er James Yeshe. „Sie wollen mich aus dem Kurs werfen?“
James erwiderte seinen Blick, was ihm sichtliches Unbehagen bereitete. „Nein, auf keinen Fall! Ich möchte nur, dass Sie darüber nachdenken, was für Sie … am förderlichsten ist.“
„Ich verstehe.“ Steffen zögerte. „Das werde ich tun.“ Dann streckte er die Hand aus. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Und wir sehen uns nächste Woche.“
Während der Busfahrt nach Hause spürte Steffen die Wut in sich brodeln. Vor seinem inneren Auge drehte sich ein immer schneller werdendes Karussell greller Bilder: James, der ihn aus dem Kurs ausschließen wollte; die buddhadicke Anna, die von ihrer Erleuchtung schwärmte; Claudias mitleidiger Blick; die abgründigen Augen der scheußlichen schwarzen Statue; Robertos dümmliches Lachen – und sein Arm um Claudias Taille.
In seiner Wohnung angekommen ging er unruhig auf und ab, von einer Wand des Wohnzimmers zur anderen, dann wieder zurück, hin und her, hin und her. Er ging in die kleine Küche, machte sich ein Bier auf und marschierte weiter, während er die Flasche leerte. Und dann noch eine. Er ließ sich auf das ungemachte Bett fallen, dachte an Claudia und onanierte in ein Stück Küchenrolle. Er warf das vollgewichste Stück Papier vom Balkon und drehte laute Musik auf. Nachbarn? Scheiß auf die Nachbarn.
Aber der Druck von innen nahm immer mehr zu, auch noch als er das dritte Bier zur Hälfte geleert hatte. Schließlich setzte er sich an den Computer. Er begann einen Film zu sehen, gab aber nach vier Minuten auf. Er sah sich Pornoclips an, Dinge, für die ihn die Kollegen bestimmt als „pervers“ bezeichnet hätten. Und wenn schon. Das machen die eh. Dann hatte er eine Idee. Er tippte den Namen James Yeshe in eine Suchmaschine ein – und fand außer der Internetseite des Dojos im Industriegebiet nichts.
So begann eine Suche, die erst bei Sonnenaufgang damit endete, dass Steffen den Laptop zuklappte und wie betäubt mit dem Gesicht in sein Kissen fiel.
„Wie siehst du denn aus?“ Claudia schaute ihn entgeistert an.
Steffen wusste erst nicht, was sie meinte. Sein Gesicht im Spiegel des Fahrstuhls erschreckte ihn. Sah er wirklich so blass aus? Dazu die dicken Augenringe, das vom Hinterkopf abstehende Haar und … rasch knöpfte er sich den mittleren Knopf seines Hemdes zu.
Steffen schüttelte den Kopf. „Ist egal.“ Der Fahrstuhl erreichte die siebte Etage. „Komm, ich muss dir was zeigen. Komm einfach kurz mit!“
Claudia folgte ihm widerwillig in einen kleinen Besprechungsraum und Steffen zog die Tür hinter ihnen zu. „Ich hab was rausgefunden. Mehrere Sachen. Es ist wichtig, dass du mir genau zuhörst.“
Claudia machte ein beklommenes Gesicht und wich vor ihm zurück, stieß dann aber gegen den Tisch in der Mitte des Raumes. „Was … Warum bist du denn so aufgeregt?“
„Werd ich dir erklären.“ Steffen leckte sich die Lippen, überlegte, wie er am besten anfangen sollte. „Ich habe gestern Abend noch recherchiert. Über unseren Freund. James Yeshe.“ Er sprach den Namen mit einem sarkastischen Tonfall aus. „So nennt er sich ja zumindest. Unter dem Namen findet man aber fast nichts.“
Er spürte, wie Claudia versuchte, in seinem Gesicht zu lesen und fuhr eilig fort: „Weil das nicht sein richtiger Name ist. Ich hab mir sein Foto von der Seite des Dojos gezogen und noch zwei, in denen er irgendwann mal auf Facebook markiert wurde. Ich hab verschiedene Bildersuchen probiert, auch in Kombination mit dem Namen. Habe mich langsam durchgewühlt, auch über weitere Bilder, die ich dann gefunden habe … Und durch Zeitungsarchive.“ Steffen spürte die Nervosität weiter wachsen. Er musste Claudia überzeugen. „Ich glaube, dass er nicht James heißt, sondern Chime Yeshe.“
Claudias Blick ging zur verschlossenen Tür des Raumes. „Worauf willst du hinaus? Dass er seinen Namen geändert hat?“
„Ja! Und er ist auch nicht aus Kalifornien. Ich bin mir fast sicher, dass er aus China ist … vermutlich sogar aus Tibet. Wer weiß, vielleicht sogar aus der Gegend von Leng …“
Claudias Blick kehrte zu ihm zurück. Die Mischung aus Mitleid und leichter Angst darin versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube. „Steffen, was willst du mir sagen?“
„Diese Reise nach Leng, von der er erzählt hat. Die er mit den zwei Amerikanern unternommen hat. Wenn ich Recht habe, hat die wirklich stattgefunden … Zumindest passt der Zeitungsartikel dazu, den ich in einem Lokalblatt gefunden habe. Der Mann auf dem Foto sieht jedenfalls aus wie James … Ich meine Chime. Nur dass er sich damals Tom genannt hat. Jedenfalls, ja, er ist mit diesen beiden Amerikanern, zwei Freunden aus LA, nach Tibet gereist … Und die beiden sind nie zurückgekommen! James … Also, der Tom aus dem Zeitungsartikel hat den chinesischen Behörden später erzählt, dass sie während eines Unwetters im Gebirge voneinander getrennt wurden. Und seitdem sind sie wie vom Erdboden verschluckt! Verstehst du, was ich sage?“
„Ehrlich gesagt, nein, und ich glaube, ich muss jetzt langsam …“ Sie sah auf die Uhr und machte einen Schritt Richtung Tür.
Steffen trat ihr in den Weg. „Warte kurz, das ist noch nicht alles! Wenn ich Recht habe und James, beziehungsweise Chime, wirklich der Tom ist, der damals in Kalifornien gelebt hat, dann war er in eine noch ganz andere Sache verwickelt! Es gab damals in Süd-LA einen … Vorfall mit einem Meditationskurs. Das meiste sind nur kurze Meldungen gewesen, also musste ich mir etwas zusammenreimen. Aber was ich verstanden habe: Es gab da einen wöchentlichen Kurs, irgendwo am Rand der Stadt. Einige Teilnehmer haben später von … ungewöhnlichen Praktiken berichtet, was auch immer das heißt. Und einige haben von dem unheimlichen Einfluss erzählt, den der Lehrer auf sie hatte. Fast wie bei einer Hypnose, hat eine gesagt. Er soll auch mit mindestens zwei Frauen in dem Kurs was gehabt haben. Fast wie in einem Kult. Jedenfalls gab es da diesen Vorfall: Irgendwann, ganz plötzlich, sind zwei der Teilnehmer durchgedreht. Spontan verrückt geworden. Haben sich mit Zähnen und Nägeln auf die anderen gestürzt – wie bengalische Tiger.“
Claudias Blick war noch immer der gleiche, nur dass sie jetzt leicht den Kopf schüttelte.
„Verdammt, Claudia!“, brach es aus Steffen heraus und er fasste sie bei der Schulter. „Rede ich Chinesisch oder was? Einen Teilnehmer haben sie umgebracht, ihm einfach die Kehler herausgerissen, zwei andere wurden verletzt, bevor alle abhauen konnten! Und von dem Lehrer – danach keine Spur mehr!“
Claudia schloss für zwei Sekunden die Augen und sah ihn dann direkt an. „Steffen, das reicht jetzt. Vielleicht meldest du dich heute lieber krank und erholst dich. Du siehst echt nicht gut aus.“ Sie ging um ihn herum und öffnete die Tür
„Claudia!“ Ehe er wusste, was er tat, hatte sich seine Hand fest um ihren Unterarm geschlossen.
Sie sah erschrocken zurück und sein Griff lockerte sich. Claudia riss sich los und Steffen blieb allein in dem leeren Besprechungsraum zurück.
Krank nach Hause gehen? Claudias Vorschlag kam Steffen wie eine einzige Unverschämtheit vor. Als ob etwas mit ihm nicht stimmte. Und das ausgerechnet von Claudia. Aber kaum, dass er wieder an seinem Platz saß, holte ihn die Müdigkeit ein, die sich mit seinem Ärger zu einem rot pulsierenden Nebel in seinem Gehirn vermengte. Eine untätige Stunde vor dem Computer-Bildschirm später gab er auf.
Der Arzt schrieb ihn für eine ganze Woche krank. „Vermutlich ein Virus-Infekt und leichtes Fieber“, sagte der Mediziner. Kaum war er zu Hause an, spürte er Schmerzen in Armen und Beinen. Seine Stirn fühlte sich klamm an. Brütete er tatsächlich etwas aus? Erschöpft ließ er sich auf die Couch fallen. Steffen dachte daran, sich einen Pfefferminztee zu kochen, doch über den Gedanken schlief er ein. Er glitt hinüber in wirre Träume, in denen James Yeshes Kopf sich auf seinen Schultern um hundertachtzig Grad drehte – bis auf der Rückseite das Gesichts der Statue, des Y’hingr’yn, zum Vorschein kam. In einem weiteren Traum sah er eine nackte Claudia, die auf allen Vieren vor der Statue kniete …
Er schreckte aus dem Traum hoch und stellte fest, dass er Kopfschmerzen hatte. Es war wohl doch gut gewesen, sich krankschreiben zu lassen. Um seine Gedanken zu ordnen. Um einmal gründlich nachzudenken. Vielleicht sollte er sich eine neue Stelle suchen? Bei der Firma war er schon lange nicht mehr glücklich. Die Fromm konnte ihn nicht ausstehen – die meisten in der Abteilung ignorierten ihn. Er hatte das Gefühl, dass sich inzwischen herumgesprochen hatte, warum er damals in die Abteilung versetzt worden war. Sexuelle Belästigung, dass ich nicht lache! Nur weil Sabine seine Witze nicht verstanden hatte ... Aber hätte die blöde Kuh damit nicht zu ihm kommen können – statt gleich zur Teamleitung zu rennen?
Steffen dachte viel nach in diesen Tagen unter der Decke auf seiner Couch. Er trank auch viel Tee. Er onanierte und dachte an Claudia. Und an Sabine. Er dachte über sein Leben nach. Und gelegentlich schlief er ganz plötzlich ein und sah vor seinen eigenen Augenlidern die nachtschwarzen Augen der widerlichen Statue.
Die Statue. Y’hingr’yn. Steffen schreckte aus einem seiner Alpträume hoch. Für einen Moment war er desorientiert. Dann stellte er fest, dass er auf seiner Couch lag. Offenbar war am Abend hier eingeschlafen. Auf dem Laptop neben ihm flimmerte noch immer tonlos Game of Thrones, die Kopfhörer lagen daneben. Ein namenloser Schrecken saß ihm im Nacken. Noch ehe er wusste, was er tat, schaltete er die Lampe neben der Couch ein.
Das Licht, das in alle Ecken des Zimmers flutete, beruhigte ihn. Ein wenig. Er zog den Laptop an sich heran und begann zu suchen. Wie zum Teufel schrieb man Y’hingr’yn? Zunächst fand er nichts, egal wie absurd er die Buchstaben aneinander reihte. Auch das Hinzufügen des Wortes Leng förderte nur Verweise auf Horrorgeschichten, auf einen Autor namens August Derleth zu tage, auf irgendwelche Rollenspiele und weitere verwirrende Begriffe wie Kadaath. Aber Steffen hatte noch weitere Asse im Ärmel. Er kannte Orte und Kanäle im Internet, von denen andere Leute – seine Kollegen – ganz sicher nichts ahnten. Und jetzt würde sich zeigen, ob sie noch für etwas anderes gut waren, als für exotische Pornos.
Was er bald darauf fand, zog ihn in einen unentrinnbaren Strudel hinab: Leng als Unort, an dem unsere Dimension sich mit anderen überlappt. Als eine Anomalie in der Realität, durch die andere Dinge hereinschwappen. Ein vorsinntflutlicher Kult von todlosen Chinesen. Die Y’hingr’yn als Rasse, die Äonen vor den ersten Menschen große Teile Zentralasiens bevölkert hatte. Die durch ein kataklysmisches Ereignis im Kosmos ihre Körper verloren hatten und deren Geister in eine Dimension reinen Schreckens geschleudert wurden, aus der sie nun zurückzukehren trachteten. Hinweise auf Verbindungen des Y’hingr’yn Kults von Leng nach Jakarta, nach Los Angeles, Mailand und Kapstadt.
Die Schwärze vor dem Fenster färbte sich allmählich grau, als Steffen entkräftet den Laptop zuklappte. Diesmal träumte er nicht. Er schlief wie ein Toter.
Genau so unvermittelt erwachte er zweieinhalb Stunden später. Der Blick auf sein Handy verriet ihm: Heute war Dienstag, der Tag der wöchentlichen Sitzung. Steffen war schlecht. Er fühlte sich kranker, als an den Tagen zuvor. Aber er wusste, was er zu tun hatte: Er musste zur Arbeit. Und danach mit zur Meditation. In seinem Kopf saß die Gewissheit, dass etwas Furchtbares passieren würde. James hatte ihn nicht dabei haben wollen. Vielleicht, weil er irgendetwas tun konnte. Weil er nicht vollkommen in Yeshes Bann stand. Er konnte Claudia nicht im Stich lassen. Also quälte er sich aus dem Bett hoch und duschte kalt.
Auf der Arbeit angekommen ignorierte er die neugierigen Blicke und das Getuschel. Er wusste, dass er blass wie Kreide war, dass sich in seinem Gesicht ein lückenhafter Bart breitgemacht hatte. Vermutlich war auch seine Kleidung derangiert. Aber es war ihm egal. Er setzte sich an seinen Platz und gab sich den Tag über keine allzu große Mühe, so zu tun, als würde er arbeiten. Man ließ ihn in Ruhe.
Auch auf der Busfahrt ins Gewerbegebiet wechselte niemand mit ihm ein Wort. Als sie ausstiegen, fühlte er eine Berührung an der Schulter. Claudia sagte zu ihm: „Du wirkst echt noch ganz schön angeschlagen. Bist du sicher, dass du dich nicht lieber noch etwas zu Hause ausruhen willst?“ Ihre Stimme klang ehrlich besorgt.
„Nein. Nein es geht schon wieder“, log Steffen.
Dann betraten sie das Dojo.
Steffen fand es auf eine subtile Art verstörend, dass während der Meditation nun alle mit offenen Augen dasaßen. Früher war er der einzige gewesen, der während der Sitzungen die Augen offen gehalten hatte, was ihm die Freiheit erlaubt hatte, den Blick schweifen zu lassen – quer durch den Raum oder über Claudias Körper. Jetzt aber blieb ihm aus Angst entdeckt zu werden nichts anderes übrig, als es den Kollegen gleichzutun und in die kalten leeren Augen des Y’hingr’yn zu starren.
Dazu kam, dass James Yeshe ihnen auch bei dieser Übung wieder gegenüber saß, die Statue selbst also gar nicht sehen konnte. Ob er dennoch meditierte oder sie alle im Auge behielt, war unmöglich zu sagen.
Das Erste, was Steffen auffiel, war die Veränderung in der Atmung der Kollegen um ihn. Bis eben hatten sie entweder betont tief ein- und ausgeatmet – oder flach und unhörbar. Doch nun hatte sich ihre Atmung beschleunigt, ging bald unnatürlich schnell und laut. Die dicke Anna neben ihm hechelte wie ihn gehetzter Hund. Irgendwo in Steffens Hirn, in einem vergessenen Winkel, der seine Ahnen in grauer Vorzeit vermutlich einmal vor nächtlichen Raubtieren gewarnt hatte, begann ein Warnlicht zu blinken.
Dann kamen die Zuckungen. Erst waren es Claudias Unterarme, die sich rührten, dann setzten sich die ruckartigen Bewegungen bis zu den Schultern hoch fort. Steffen spürte einen Schrecken so kalt, als habe man ihn in Eiswasser getaucht. Nach einer Minute gingen spastische Zuckungen durch die Kollegen um ihn als risse ein wahnsinniger Marionettenspieler an ihren Fäden.
„Das reicht jetzt!“, rief Steffen und sprang auf die Füße. Zumindest hatte er das vorgehabt. Aber seine Lippen blieben wie zugenäht und seine Beine lagen wie Blei unter ihm. Und dann merkte er es: Seit einigen Minuten sah er nicht mehr in die Augen der Statue – sondern in jene James Yeshes. Und so sehr er sich auch bemühte, er konnte der Blick nicht mehr abwenden. In seinem Kopf war ein Schaltkreis geschlossen worden und eine Kraft von innen hielt ihn fest als sei er selbst zur Statue geworden.
Die heftigen Zuckungen rissen die Meditierenden aus ihrer Sitzhaltung zu Boden, wo sie die Gliedmaßen wild umherwarfen. Mit Entsetzen verfolgte Steffen, wie Claudia auf den Rücken fiel. Ihre Beine traten nach etwas Unsichtbarem in der Luft, die Hände versuchten sich hilflos am Boden festzukrallen. Ihr Körper bäumte sich wie unter unglaublicher Spannung auf und ein Gurgeln entfuhr ihrem Mund – aber noch immer konnte Steffen das groteske Schauspiel nur am Rande seines Gesichtsfeldes verfolgen, immer noch hielten ihn Yeshes Augen gebannt.
Und dann begannen sie zu sprechen. Die Bewegungen der Kollegen – wenn sie noch Steffens Kollegen waren – mäßigten sich, bekamen etwas Absichtsvolles. Zunächst waren sie noch unbeholfen. Als müssten sie die Körper noch ausprobieren, schoss es Steffen durch den Kopf. Gleichzeitig kamen aus ihren Mündern Laute, die sich mit nichts vergleichen ließen, was Steffen je gehört hatte. Die Worte waren eindeutig nicht für menschliche Stimmbänder gemacht. Und doch waren es Worte. Und während sie noch sprachen, richteten sich die Körper langsam wieder in eine sitzende Haltung auf. Sie wandten die Köpfe neugierig nach links und nach rechts als sähen sie die Halle zum ersten Mal. Und wahrscheinlich tun sie das auch.
Nun verließ Yeshe den Lotussitz, auf seinen Lippen das bekannte, feine Lächeln, und stand langsam auf. Wie verlegen strich er mit den Händen sein T-Shirt glatt und sagte in fast entschuldigendem Ton: „Ich habe Ihnen ja gesagt, dass Sie noch nicht so weit sind.“ Er schüttelte den Kopf und sein Lächeln gewann einen fast zärtlichen Zug. „Aber solche Lektionen muss ein Schüler wohl selbst lernen.“
Der eiserne Griff um Steffens Geist hatte sich gelöst. Er konnte sich wieder bewegen. Aber es nützte ihm nichts, denn die anderen standen vor ihm. Und noch ehe Steffen ganz auf den Beinen war, stürzte sie sich mit einem unmenschlichen Heulen auf ihn. Die dicke Anna sprang ihn von der Seite her an und ein roter Filter legte sich über sein Sichtfeld, als sein Hinterkopf ungebremst auf den Boden der Halle schlug. Während sich Claudia Binellis Fingernägel in seinen Hals bohrten sah Steffen mit schwindendem Bewusstsein in die Augen des steinernen Y’hingr’yn. Sie wirkten unglaublich lebendig.