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Duft und Geruch
„Hey, Schlitzauge! Pass auf!“
Der Ball trifft mich an der Schläfe. Er kam aus dem Nichts, ich hörte nur ein kurzes Pfeifen. Meine Brille hängt jetzt schief. Für einen kurzen Moment seh‘ ich die Welt verschwommen. Nur für einen ganz kurzen.
„Uh“, johlen die Jungs. „Jetzt wird er wütend. Vorsicht, er kann Kung Fu.“
Sie lügen, diese Arschlöcher. Sie wissen ganz genau, dass ich kein Wushu kann. Und sie sind es auch, die mir dieses Wort beigebracht haben. ‚Arsch-loch‘ haben sie mir eingebläut, immer und immer wieder. Und damit haben sie mir ein gutes Rüstzeug gegeben. Auf so einer Information kann man viel aufbauen. Wesentlich mehr als auf Wörter wie ‚Danke‘ und ‚Bitte‘. Zumindest in meinem Alter.
„Arschloch!“, rufe ich, muss aber dann doch lachen. Die Jungs rennen dem Ball hinterher, lassen mich links liegen. Sie suchen sich andere Opfer, wenden sich anderen Vergnügungen zu. Vedad aber bleibt zurück. Vedad ist Türke. Er ist gedrungen, grinst viel. Seine Zähne sind ebenmäßig und breit. Breit wie die Kürbiskerne, die er so gerne in sich hineinstopft.
‚Geht’s gut?‘, fragt Vedad nur mit den Augen.
‚Na klar‘, antworte ich. ‚Warum soll‘s mir schlecht gehen?‘
Vedad greift in die Tasche, hält mir eine Tüte mit Kürbiskerne hin. Ich halte die Hand auf. Wir knabbern. Die Schalen spucken wir kunstvoll aus wie in einem orientalischen Western. Es kommt zum Showdown und wir lachen.
Dann kommt die Lehrerin vorbei. Sie nimmt Vedad die Kürbiskerne weg. Er darf sie nicht mehr in die Schule mitbringen, der Hausmeister hat ausdrücklich darum gebeten. Die Regel gilt für alle Schüler. Zuviel an Müll liegt auf dem Pausenhof, zu hartnäckig kleben die Schalen zwischen den Steinen. Vedad schmollt, kann aber nichts dagegen machen. Ich weiß, dass der Verlust ihn nicht sonderlich schmerzt. Sein ganzer Rucksack ist voll mit Knabberzeug. Dafür sorgt seine Mutter, Tag für Tag.
*
Meine Mutter gibt mir kein Knabberzeug mit in die Schule. Nicht dass sie grundsätzlich etwas dagegen hätte. Sie ist nur sparsam. Wenn sie Knabberzeug mitgibt, dann nur meinem Bruder. Lin ist zwei Jahre älter. Er ist der ganze Stolz der Familie. Er ist auch kurzsichtig und eigentlich verstehen wir uns ganz gut. Wir haben nur verschiede Schicksale.
Als Lin ein paar Monate alt war, da breitete man vor ihm mehrere Sachen auf den Boden aus. Dann setzte man Lin dazwischen und wartete gespannt, welches Objekt sein Interesse wecken würde. Das ist eine alte Tradition bei uns. Lin griff nach einem Schreibpinsel. Meine Eltern waren überglücklich. Das bedeutete, er würde es zu einem hellen Kopf im Leben bringen.
Ich durchlief die gleiche Prozedur. Ich übersah die Münzen, das Rechenbrett, die Briefmarken und das winzige Schwert. Ich interessierte mich weder für den Pinsel, noch für das Spielzeugauto. Stattdessen griff ich nach einem Spiegel. Meine Großmutter hielt ihn zufällig in der Hand. Was das über mich aussagt, weiß ich nicht. Auch meine Eltern wissen es nicht. Vielleicht darf ich deswegen die Narrenfreiheit genießen, von der Lin nur träumen kann. Mein Großvater soll kichernd gesagt haben, dass ich einmal ein Dandy sein werde. Ein oberflächlicher Mensch also. Und mein Großvater, der hatte in allem recht. Das ist auch eine Tradition bei uns.
*
„Kocht das Wasser schon?“, fragt mein Vater.
„Noch nicht“, sage ich.
„Dann komm‘ her und schneide das Gemüse.“
Ich greife nach dem schweren Hackmesser, schneide gewissenhaft den Kohl in Streifen.
„Nicht so“, sagt mein Vater, „schau her.“ Er schiebt mich zur Seite. Er lässt das Messer blitzschnell fallen, rattert, was das Zeug hält. Das Geräusch erinnert mich an einen Specht. Mein Vater hält kurz inne, dann hackt er wieder darauf los. Wirklich wie ein Specht.
„Jetzt du“, sagt mein Vater.
Ich bemühe mich, es ihm gleich zu machen, habe aber Angst, mir einen Finger abzuhacken. Mein Vater schüttelt nur den Kopf.
„Sag‘ mir, wenn das Wasser kocht, ja?“, sagt er und verschwindet. Er geht rauchen. Seit ihn das Gesundheitsamt bei der Arbeit gesehen hat, darf er nicht mehr in der Küche rauchen. Er tut es dennoch, nur jetzt nicht, zur Mittagszeit. Mein Vater verbringt die ganze Zeit in der Küche. Wir können es uns nicht leisten, ein Koch einzustellen. Mein Vater ist aber schnell und ausdauernd und abends sitzt er im Unterhemd vor einem Glas Tee. Er schlägt die Beine übereinander. Er blickt ins Leere, raucht. Seine Brillengläser sind trüb von den vielen Fettspritzern. Den Tee trinkt er immer noch wie früher aus Einmachgläsern und nicht aus einem richtigen Glas.
*
„Was spielst du da?“ frage ich Lin.
„Chopin“, sagt Lin.
Vedad besucht mich. Wir sitzen zu dritt in unserem Zimmer. Vedad könnte sich mit meinem Bruder unterhalten, mein Bruder hat aber dafür keine Zeit. Lin muss üben. Er bekommt Klavierunterricht. Bald soll er auch noch Geige spielen.
Irgendwie fühlt sich Vedad unwohl in der Nähe meines Bruders. Irgendwie. Er sagt aber nichts. Da wir kein Computer und keine Spielkonsole haben, wird es ihm schnell langweilig. Er mag auch Chopin nicht.
Meine Mutter kommt rein. Sie trägt ein Tablett mit Snacks und Cola. Vedad kann sein Blick nicht von ihr lassen. Meine Mutter stellt das Tablett ab, lächelt uns an. Vedad wird rot. Er ist schüchtern. Seit Kurzem ist auch seine Stimme brüchig. Er greift eine Salzstange, kaut vorsichtig, hustet. Dann trinkt er einen Schluck.
Meine Mutter bedient die Gäste in unserem Restaurant. Seit sie das macht, ist sie ein ganz anderer Mensch geworden. Früher sagte man ihr, dass sie nicht schön sei, und wenn, dann nur knapp über dem Durchschnitt. Ihre Wagenknochen seien zu hoch. Ihre Arme und Beine zu lang. Ihr Rücken zu breit. Die Augen zu weit auseinander. Die Nase zu groß. Die Stimme zu tief. Und ungebildet sei sie, weil sie nicht studiert hat. ‚Wie eine Mongolin‘, hatte die Großmutter meines Vaters gesagt. Das will schon was heißen.
Vedad ist mein Freund. Wir versuchen, ehrlich zueinander zu sein. Er hat einmal versucht, mir zu erklären, dass er Schwierigkeiten damit hätte, meinen Gesichtsausdruck zu lesen. Wir sähen alle ähnlich aus. Doch seit er uns kennt, kann er uns besser auseinanderhalten. Mir geht es genau umgekehrt. Ich kann nicht nur aus Vedads Gesicht lesen, auch die Gesichter anderer Leute sind da kein Problem. Ich kann wie in einem Spiegel jede Gefühlsregung erkennen. Ich kann versteckten Zorn lesen. Verborgene Lust. Unverständnis. Misstrauen. Gier. Mein Vater besteht darauf, dass das alles nur eine Form von Unhöflichkeit sei. Ich bin mir aber nicht so sicher. Man kann nicht alles über einen Kamm scheren.
Hier sind alle Männer in meine Mutter vernarrt. Sie starren sie an. Sie sind immer aufmerksam, versuchen, ihr zu gefallen. Sie geben ihr Trinkgeld. Greifen nach ihr. Blicken ihr lange nach. Selbst wenn mein Vater dabei ist, halten sie sich nicht zurück. Wenn ich mein Vater wäre, dann würde ich sie zurechtweisen. Aber mein Vater ist da anders. Er ist gebildet. Er war früher Kalligraphie-Lehrer, hat den Ouyang Xun-Stil unterrichtet. Er kann sich nicht herablassen, sich da einzumischen.
„Wart ihr heute brav in der Schule?“, fragt meine Mutter.
„Natürlich“, sagt Vedad, „wir sind immer brav.“
Lin übersetzt, ohne vom Klavierspielen zu lassen. Meine Mutter nickt zufrieden. Es fällt ihr nicht leicht, Sachen zu verstehen, die nichts mit einer Bestellung zu tun haben. Wie gut, dass sie Lin hat. Lin geht aufs Gymnasium. Seine Lehrer schenken ihm Bücher. Unsere Lehrerin hat uns nie etwas geschenkt. Nur einmal, da bekamen wir ein „Vier gewinnt“-Spiel. Nur nicht von der Lehrerin. Die Willmersdorfer Sparkasse hat es uns gegeben.
*
Vedad ist ganz vernarrt ins Fischen. Es liegt ihm im Blut, seine ganze Familie geht fischen. Der Vater fischt, der Bruder auch. Von ihnen kann er sich die Ausrüstung ausleihen. Er hat auch eine eigene, bescheidene Ausrüstung, nimmt aber gerne die des Vaters. Besonders, wenn der Vater auf Montage geht. Einmal, da hat er versucht, in Treptow zu fischen. Er hat Wind von einer guten Stelle bekommen. Er nahm zwei Ruten seines Vaters mit. Feinstes Carbon.
„Was ist passiert?“, frage ich Vedad.
„Nix. Schlägerei“, sagt er bescheiden.
Vedad nimmt sich immer Zeit. Besonders, wenn er mit mir spricht. Er verwendet gerne einzelne Wörter. Als wir uns kennenlernten, da sagte er nur schlichte Dinge wie ‚gut‘, ‚ja‘, ‘nein‘ zu mir. In der Schule haben wir später gelernt, dass das ‚Infinitiv‘ heißt, was Vedad am Anfang immer sagte. Er sagte ‚geben‘, ‚nehmen‘, ‚kommen‘, ‚gehen‘, ohne Weiteres hinzuzufügen. Nur noch die Gestik. Bloß einmal, da sagte er immer eine Zeitlang zu allem, was ich sagte ‚besser‘. Seitdem verwendete er dann auch vermehrt zwei Wörter: ‚gut so‘ und ‚nicht schlecht‘ und ‚voll cool‘. Ich fühle mich wohl in Vedads Nähe.
„Wie, Schlägerei?“, frage ich. „Mit wen?“
„Mit wem“, sagt Vedad nachsichtig. „Scheiß Ossis.“
„Kaputt?“, frage ich.
„Die Rute? Nein, Carbon. Wenn kaputt, dann Vater …“ Er fährt sich mit dem Zeigefinger über die Kehle, reißt die Augen auf.
‚Wenn … dann‘, geht mir durch den Kopf. ‚Wenn Küche brennt, dann gut‘. Das ist ein guter Satz. Muss ich gleich an Vedad testen.
„Nein“, sagt Vedad. „Wenn die Küche brennt, dann ist es gut. Oder: dann geht es mir gut. Aber das ist ein komischer Satz.“
„Nein“, sage ich. „Scheiß Küche.“
Vedad lacht. Ich lache auch.
*
Vedad kennt den Namen vieler Fische. Ich bin erstaunt. In der Schule ist er nicht besonders kommunikativ. Eher schläfrig. Wir sitzen ganz hinten, in der letzten Bank. Wenn ich aufhorche und mich etwas am Unterricht interessiert, dann zieht er an meinem Ärmel. Bringt mich zur Räson. Aber mit den Fischen ist er nicht so. Spricht er darüber, leuchten seine Augen auf. Barsch, Plötze, Aal, Blei, Karpfen, Zander. Er kann nicht nur ihr Aussehen beschreiben. Er kennt ihr Verhalten. Er kennt ihre Wünsche. Beim Sprechen wird Vedad selbst zum Fisch. Ahmt ihr Schwimmen nach. Das Auf- und Zuschnappen der Mäuler. Wie sie zappeln, wenn sie an Land gezogen werden.
Mein Vater mag auch Fische. Meine Mutter auch. Nur Lin und ich mögen sie nicht. Mögen nicht ihren Geschmack. Aber Lin traut sich nicht, das zuzugeben. Ich hab’s da leichter. Ich esse keinen Fisch. Mein Vater füttert Lin jeden Tag mit Fisch. Es sei gesund.
Ich frage Vedad nach dem Geschmack der Fische. Darüber hat er nicht gesprochen. Vedad verzieht das Gesicht. Das interessiert ihn nicht. Er fängt die Fische, isst sie aber nicht. Er wirft sie immer zurück ins Wasser. Versucht, vorsichtig zu sein, ihre Mäuler nicht zu beschädigen. Ich würde gerne wissen, was die Fische dazu sagen. Wie ihre ‚wenn … dann‘-Sätze lauten. Aber Fische sind stumm. Das weiß doch jeder.
*
Es ist dunkel. Wir liegen im Bett. Ich erzähle Lin von meinem Tag. Lin sagt nichts, hört zu. Lin ist ein guter Zuhörer. Viel besser als ich.
„Weißt du“, sage ich, „ wir waren am Teltowkanal fischen. Da gibt’s ein Heizkraftwerk, das Wasser ist dort warm, zieht die Fische an. Man darf dort nicht fischen, wir haben das aber trotzdem getan. Wir haben den Bus genommen und dann sind wir viel gelaufen. Lichterfelde ist voll cool. Ganz viele Bäume. Und alte Villen.“
Mein Bruder schweigt. Er versucht, in meine Haut zu schlüpfen.
„Eigentlich ist Fischen ganz anders, als man sich das vorstellt, weißt du, Lin? Ich dachte, das ist langweilig. Aber da war einer neben uns, der hat eine nach der anderen geraucht. Viel mehr als Vater. Der Boden um ihn herum war voller Kippen. Immer hat er gesagt, wir sollen die Klappe halten. Und Vedad, der hat nur Sonnenblumenkerne gegessen. Am Ende sah das wie ein Schlachtfeld aus.“
„Habt ihr was gefangen?“, fragt Lin. Seine Stimme kommt von weit her. Dabei liegt er nicht weit von mir, höchstens zwei Meter.
„Nein, aber Vedad sagt, das ist auch egal. Man muss das sportlich nehmen, sagt er. Wir haben auch ein Mädchen kennengelernt, Jana. Sie mag Vedad. Sie hat uns zu sich eingeladen. Ihre Familie hat ein ganz großes Haus. Willst du mitgehen Lin, willst du auch Jana besuchen?“
Lin antwortet nicht. Vielleicht denkt er an seine Musik oder daran, was er so über den Tag gelesen hat. Ich schlafe ein. Ich träume von Vedad. Vedad hat Jana geheiratet. Sie wohnen am Teltowkanal. Sie haben auch Kinder. Sie winken mir glücklich zu. Vedad kann von seinem Garten aus fischen. Braucht keine Angst zu haben, dass ihm Kontrolleure auf die Pelle rücken. Ich höre ein leises Wimmern. Ich werde stutzig. Niemand in meinem Traum weint. Darin sind wir alle glücklich.
*
Harald besucht uns. Harald ist Schauspieler. Seine Frau ist eine entfernte Verwandte meiner Mutter. Harald ist ein Feinschmecker, er will immer nur das Beste haben. Mein Vater legt sich ins Zeug. Schickt ihm Lin zur Unterhaltung, scheucht mich durch die Küche. Er hievt die schweren Pfannen, der Schweiß strömt ihm übers Gesicht. Währenddessen sitzt Harald im Gästeraum und trinkt. Und trinkt. Und trinkt.
Ich spüle Schweinedärme aus. Säubere Hühnerfüße. Salze Schweinefüße ein. Der Geruch gekochter Innereien macht mich wahnsinnig. Besonders der Geruch der Nieren. Mein Vater lässt mich nicht aus den Augen. Auch Harald beobachtet er. Und meine Mutter und Lin auch.
Trägt meine Mutter die Gerichte auf, so duften diese verführerisch. Keine Spur mehr vom Geruch an ihnen. Harald isst aber wenig davon. Er ist ein Feinschmecker, will nur das Beste haben. Er nimmt zwei Bissen und spült sie mit Alkohol runter. Dann will er wieder etwas anderes. Etwas Neues. Doch er zahlt nicht. Harald ist unser Gast.
Vedad sagt, Harald ist berühmt. Er kennt ihn aus dem Fernsehen, da spielt Harald einen Trinker. Wie im richtigen Leben. Er sei aber ein Penner, sagt Vedad. Er sagt das, obwohl er Harald gar nicht kennt. Ich beobachte Harald. Sehe seine großen Ohren, die breite Nase. Sein Blick ist traurig, die Augen trüb. Auch Lin ist traurig. Er sitzt daneben und sieht wie ein kleiner Harald aus. Nur mit einer dicken Brille.
Harald ist erzürnt. Er schreit seine Frau an. Schreit andere Gäste an. Alle Blicke sind auf ihn gerichtet. Er scheint sich wohl dabei zu fühlen, gibt nicht nach, ist störrisch wie ein Kind. Nur ich sehe aus der Küche, wie Lin den Kopf hängen lässt. Wie er stumm vor sich hinstarrt. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Ich mag Harald. Und selbstverständlich mag ich auch Lin.
*
Ich sitze mit meinen Eltern zusammen. In letzter Zeit machen wir das oft. Ich begleite sie zum Arzt, auf die Ämter, begleite sie in der Schule meines Bruders. Das Restaurant bleibt dann geschlossen. Die Küche ist aber noch nicht abgebrannt.
Mein Vater sieht nicht gut aus. Meine Mutter auch nicht. Sie reden auch kaum miteinander. Wenn sie reden, dann nur mit meiner Hilfe. Und ich rede mit ihnen und rede auch mit dem Arzt. Übersetze beim Amt. Gebe das Bedauern des Gymnasiallehrers an sie weiter.
Mein Vater hat das Menü geändert. Die Leute mochten sein Essen nicht. Er wollte ihnen erzählen, dass er das Kochen als Kunst gelernt hat. Wie die Kalligraphie. Dass es für ihn zwischen den beiden keinen Unterschied gibt. Jetzt haben wir ein Koch. Er kocht Gerichte, hat für Kunst nichts übrig.
Da ich nicht mehr ständig nach Essen rieche, sitze ich weiter vorne. Vedad ist mitgezogen, wir haben uns zwei Bänke vorgewagt. Es läuft gut für Vedad. Er ist gut in der Schule. Ich helfe ihm jetzt mit den Hausaufgaben. Ich lasse mir Zeit dabei. Lasse auch ihm Zeit.
Ich habe mit Lin lange nicht mehr gesprochen. Wir besuchen ihn manchmal im Krankenhaus. Lin hat beschlossen, nicht mehr zu sprechen. Er sitzt nur da und starrt vor sich hin. Wir spielen ihm Chopin vor, die Mazurkas, die er so mochte. Wir lesen ihm auch vor. Lin bleibt stumm wie ein Fisch, schaut uns nicht an. Meine Mutter frisiert ihn, macht ihm die Haare. Wenn sie das macht, dann halte ich den Spiegel. Aber Lin ist höflich, schaut da nicht rein. Er lässt sich Zeit, blickt noch daran vorbei.