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Duett
Der Wein, den Dieter ausgesucht hatte, war hervorragend, das musste Renate zugeben. Überhaupt, das Restaurant war wirklich sehr stilvoll. Dieters Entscheidungen waren immer stilvoll. Er legte großen Wert auf guten Geschmack. Sie nippte versonnen einen weiteren Schluck aus ihrem Weinglas. Dann bemerkte sie, dass Dieter sie fragend ansah.
Entschuldigung“, riss sich Renate aus ihren Gedanken, „was hast Du gesagt?“
„Ich fragte, ob Du nicht auch der Meinung bist, dass Delacroix mit diesem Werk die Stimmung seiner Zeit exzellent eingefangen hat?“
„Was? Oh, ja natürlich, Du hast Recht, erstaunlich.“
Renates Gedanken schweiften schon wieder ab. Sie konnte Dieters Ausführungen nie lange folgen. Vielleicht lag das an seiner monotonen Stimme, vielleicht auch daran, dass er ohne Feuer, ohne Höhepunkte erzählte und sein Gegenüber dabei nie direkt ansah. Seine Augen, hinter der getönten Brille sowieso kaum zu erkennen, schienen auf irgendeinen Punkt an der Wand gerichtet. Manchmal sah Renate, dass seine Hände, die manierlich sortiert rechts und links vom Besteck auf dem Tischtuch lagen, zuckten, als wolle Dieter seine Rede mit einer Geste unterstützen, die er sich dann jedoch selbst nicht erlaubte.
Renate, die mit dem Rücken zur Tür saß, spürte, dass sich die Atmosphäre des Restaurants veränderte. Eine gespannte Erwartung war zu spüren, die Gespräche von den anderen Tischen wurden leiser. Sie drehte sich um. Ein Stehgeiger war zur Tür hereingekommen, ein Zigeuner, dunkelhäutig, mit schwarzen Haaren und bekleidet mit einer Art Tracht, wie man sie in den Ländern des Balkan findet. Dieter unterbrach seinen Redefluss und sah auf.
„Oh, ein Geiger. Na, hoffen wir mal, dass er gut ist. Aber sonst würde man ihn hier wohl nicht spielen lassen. Man legt hier ja schon Wert auf ein gewisses Niveau.“
„Ich habe früher einmal Geige gespielt“, sagte Renate.
„Wirklich? Ein vielseitiges Instrument. Ich bewundere die exzellente Technik mancher Violinisten. Erstaunlich, wie winzige Unterschiede in der Handhaltung das Timbre des Tons...“
Renate hörte schon nicht mehr zu, sondern beobachtete gespannt, wie der Geiger einmal in die Runde schaute und dann mit temperamentvollem Schwung den Bogen ansetzte. Vom ersten Ton an war sie wie gefangen in seiner Melodie. Er führte sie in ferne Länder, erzählte von Leidenschaft, von Liebe und Tod, von reißenden Gebirgsbächen und stillen Sternenhimmeln. Jeder Ton, jede seiner Bewegungen, jeder Blick aus seinen dunklen Augen versprühten Leben. Er durchschritt den Raum, blieb hier und da an den Tischen stehen. Renates Blick verfolgte ihn wie gebannt. Trotzdem schien es ihr unwirklich, als er plötzlich direkt vor ihr stand. Er hielt im Spiel inne.
„Ah“ sagte er mit einem Schmunzeln, „ich sehe, sie sind selber Geigerin, meine Dame!“ Renate bemerkte, dass sie unwillkürlich die Hände gehoben und auf einer unsichtbaren Geige in der Luft die Melodie des Zigeuners begleitet hatte. Schnell ließ sie die Arme sinken. Sie sah Dieters missbilligenden Blick. Nichts hasste er mehr, als aufzufallen. Der Zigeuner lächelte sie aufmunternd an. „Nicht doch! Folgen Sie ihrem Herzen! Spielen Sie für uns!“
Ehe Renate sich versah, hatte er ihr sein Instrument in die Hand gedrückt. Der Hals war warm wo seine Hand gelegen hatte. Ihr Verstand sagte ihr, dass man so etwas nicht macht, dass sie sich blamieren würde, wenn sie jetzt etwas spielte, doch sie war schon aufgestanden und hatte die Geige an ihr Kinn gelegt. Ihre Knie zitterten leicht, aber ihre Finger fanden die Saiten automatisch, der Bogen in ihrer Rechten fühlte sich an wie eine natürliche Verlängerung ihres Arms. Die ersten Töne klangen noch etwas unsicher, dann floss die Musik aus ihr heraus, griff die Melodie der letzten Zigeunerweise auf, die noch in ihr nachklang, ließ die Geige erzählen, was die Musik in ihr ausgelöst hatte, spann den Faden weiter.
Ihr Blick traf den des Zigeuners. Seine Augen blitzten und er streckte die Hand nach der Geige aus. Sie beendete den Takt und reichte die Geige zurück. Er legte sie an sein Kinn und beantwortete ihr Spiel, führte ihren Gedanken zu Ende, lud sie ein, mit ihm weiterzuträumen.
Fasziniert lauschte Renate. Ihre Umgebung hatte sie vergessen. Er hatte sie verstanden. Sie konnte spüren, dass er jede ihrer Ideen, jeden Ton so erkannt hatte, wie sie ihn gemeint hatte. Und er antwortete ihr, warb um sie. Seine Melodie schlang sich um ihren Körper, liebkoste sie, lockte sie, ihm zu folgen. Sein Rhythmus griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich.
Er spürte auch ihr Verlangen, ihm wiederum zu antworten. Genau im richtigen Moment hielt sie die Geige wieder in ihrem Arm, fließend, fast völlig ohne Unterbrechung schloss sich ihr erneutes Spiel an seines an. Sie willigte ein, gab sich ihm hin, nahm seine Herausforderung an und verlockte ihn aufs Neue.
Von ihr unbemerkt war die Geige wieder in seinen Händen gelandet. Er riss sie noch einmal mit, seine letzten Takte ein Crescendo, ein rhythmisches Feuerwerk. Dann war es vorbei. Renate fand zurück in die Wirklichkeit, als würde sie aus einem tiefen Schlaf erwachen. Der Zigeuner hatte ihre Hand gefasst, und verneigte sich anmutig zu den begeistert klatschenden Restaurantbesuchern. Auch Renate neigte leicht den Kopf.
Der Abschied war kurz. Ein Blick aus seinen dunklen Augen, ein Lächeln, ein auf ihre Wange gehauchter Kuss. Dann verschwand er, durchschritt die Tür des Restaurants, ohne sich noch einmal umzusehen.
Atemlos setzte sich Renate. Dieter sah sie an. „Dem hast du es aber gegeben“, sagte er.
Renate war verwirrt. „Wie bitte?“
„Na, der konnte Dir doch technisch nicht im Geringsten das Wasser reichen. Toll, wie Du ihn mit Deiner Fingerarbeit an die Wand spielen konntest. Da sieht man doch gleich, wer eine echte Ausbildung genossen hat und wer nur ein Wald-und-Wiesen Musiker ist.“
Sie starrte ihn an. Nichts hatte er verstanden. Gar nichts. Dieter redete einfach weiter.
„Warum hast Du das Geigespielen aufgegeben? Wirklich, Deine Technik ist brillant. Ich wusste gar nicht, dass Du Dich für Musik interessierst. Vielleicht sollten wir demnächst einmal zusammen in ein Konzert gehen.“
Renate schüttelte den Kopf. „Nein, Dieter, lieber nicht.“
„Aber wieso denn nicht?“
„Ich glaube, das mit uns hat keine Zukunft. Wir passen einfach nicht zusammen.“
Sie ließ ihn einfach dort sitzen und trat aus dem Restaurant in die kühle Nachtluft. So frei, so lebendig hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.