Du
Du gehst die Straße hinunter, den Blick fest nach vorne gerichtet. Ich sitze an meinem Fenster, wie immer am frühen Abend und beobachte dich. Ich versuche, mich auf dein Gesicht zu konzentrieren, alles andere auszublenden- deine abgetragene Kleidung, das Abzeichen auf deiner Brust, den vorsichtigen Gang. Ich versuche dich, als das zu sehen, was du bist, nicht als das, was alle Welt mir einredet.
Kurz bevor du an meinem Fenster vorbeikommst, richtet sich dein Blick auf mich und für einen Moment gelingt es mir, die Realität vollkommen auszublenden. Die tuschelnden Nachbarn verschwinden und all das, was uns auseinandergebracht hat, erscheint mir plötzlich so banal, so unwichtig.
Ein Mann und eine Frau lieben sich. Was ist daran falsch? Was hält mich davon ab, auf die Straße hinauszulaufen und dich zu küssen?
Doch dieser Moment hält nicht lange an. Sobald dein Blick meinen losgelassen hat, kehrt meine Vernunft zurück, hält mich an meinem sicheren Platz an der Fensterbank.
Du wendest dich nicht um, als du die Haustür aufschließt und deine Wohnung betrittst. Es ist so, als würden wir uns nicht kennen.
Es ist besser so. Sicher.
Ich warte, bis die Tür hinter dir zugefallen ist, bis nichts mehr von dir zu sehen ist, dann renne ich nach draußen und knie auf der Straße vor meinem Fenster. Meine Finger umschließen einen runden Gegenstand und ich versuche ihn zu ertasten, bevor ich ihn mir ansehe.
Du hinterlässt mir jedes Mal einen Gegenstand, etwas kleines, für jeden Passanten unwichtiges. Doch für mich ist es ein Teil von dir.
Ich öffne meine Hand- es ist eine Murmel, eine kleine, blaue Murmel.
Es kostet mich all meine Willenskraft, nicht nach oben zu deiner Wohnung zu sehen und noch anstrengender ist es, wieder zurück in mein Zimmer zu gehen, wieder zurück in meine Welt zukehren und ich versuche meine Gedanken auf diese Welt zu fokussieren, dich auszuschließen.
Sicherheit. Für uns beide.
*
Manchmal, wenn ich am Fenster sitze und du nicht rechtzeitig kommst, denke ich zurück an den letzten Sommer, einen Sommer, in dem alles so viel einfacher schien.
Es gab nur dich für mich, nur die langen Sommerabende, an denen wir gemeinsam durch die Stadt liefen, Spaziergänge, bei denen uns keine skeptischen Blicke folgten. Tage, an denen du tragen durftest, was du wolltest, Abende, an denen wir essen gehen konnten, wo wir wollten.
Ich versuche, meine Angst um dich zu verdrängen, in dem ich schöne Bilder heraufbeschwöre. Du und ich, nachts, barfuss auf dem Asphalt, der noch warm von der Sommersonne ist. Tanzend, mit dreckigen Füßen und so glücklich.
Du und ich im Regen im Wald, nass und kalt, aber geborgen.
Es ist schwer, die Erinnerung an diese Bilder aufrecht zu halten und es ist schwer, nicht vor Sorge hinauszulaufen und dich zu suchen.
Ich frage mich oft, ob es Vernunft ist, die mich zurückhält oder einfach nur Angst.
Ich hoffe, dass es Vernunft ist. Angst macht alles noch schwerer, noch komplizierter. Ich möchte keine Angst haben, möchte nicht so sein, wie all die anderen.
Ich fürchte, ich bin es doch.
Erinnerungen kehren zurück, halten mich an meinem Stuhl. Du bist noch immer nicht zurück und die Sorge um dich wecken die Erinnerungen, die ich am liebsten verdrängt habe.
Erinnerst du dich auch noch so genau an den Augenblick, in dem alles kaputt ging?
Ich saß bei dir in der Wohnung und wir buken Kekse- es war der zweite Advent und überall hingen bereits Weihnachtsgirlanden und in der Luft der Geruch nach Zimt.
Wir wussten damals schon, dass das, was wir taten, falsch war, dass du und ich verschieden waren und dass wir uns in Gefahr brachten. Doch wir waren jung und was sind schon ein paar Gefahren gegen die große Liebe?
Und so war der Schock umso größer, als deine Mutter tränenüberströmt in die Wohnung stürzte und verzweifelt weinte. Unter ihren Schluchzern verstand ich immer nur zwei Buchstaben und ich sah, wie du blass wurdest und mein Magen krampfte sich vor Angst zusammen.
KZ.
Ich konnte die Bedeutung dieser Buchstaben nicht ganz erfassen, doch ich wusste, dass es etwas schreckliches war, etwas, was auch dich jederzeit ereilen konnte.
Und als die Tränen deiner Mutter versiegt waren, sah sie mich mit einem Hass in ihren Augen an, der noch heute meine ganze Vorstellungskraft überfordert, mit demselben Hass, mit dem sie die Leute auf der Straße ansahen.
Derselbe Hass, der jeden von uns begleitet, egal, wohin man geht.
Als ich nach Hause kam, wusste meine Mutter schon bescheid und traf die Maßnahmen, die ihrer Vernunft am ehesten entsprachen.
Du wirst ihn nie wieder sehen
Und da- endlich- du kommst die Straße hinunter und reißt mich aus der Vergangenheit mitten in die Gegenwart zurück.
Und wieder ist es dasselbe Ritual und als ich diesmal meine Hand öffne, sehe ich einen glatten weißen Stein.
Er ist noch warm von der Sonne und deinen Berührungen.
*
Die Zeiten werden härter.
Als die ersten Sirenen ertönen, als die ersten Flugzeuge über die Stadt hinwegdonnern, retten wir uns alle in den Bunker nahe unserer Straße.
Ein Schild vor der Tür lässt mich zusammenfahren, erstarren.
Keine Juden.
Meine Mutter zerrt mich weiter, in den Bunker hinein, und während ich höre, wie Bomben auf unsere Stadt fallen, unsere Heimat zerstören, versuche ich wieder, mich an den schönen Bildern festzuhalten, versuche nicht daran zu denke, wo du jetzt wohl sein magst.
Wie lange muss das noch so gehen?
Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis die Entwarnung erklingt, bis ich wieder in meinem Zimmer bin, bis zum nächsten Abend und bis ich dich wieder sehe- gesund und den Blick stark.
Ich atme auf und doch frage ich mich im selben Moment- was ist das nächste Mal? Wie viele Bombenangriffe musst du noch ungeschützt über dich ergehen lassen? Wird es überhaupt ein nächstes Mal geben?
Und bevor ich nachdenken kann, bevor die Vernunft- oder die Angst- mich übermannt, bin ich bereits auf die Straße gelaufen, auf dich zu und halte dich in meinen Armen.
Für einen Herzschlag fühle ich mich wieder ganz.
Von jetzt an wird alles gut, sage ich mir, was kann uns noch auseinander bringen?
Du sagst nicht, doch dein Blick und deine Umarmung sagen mehr, als ich überhaupt wissen will.
Ich sehe nicht die Leute, die an uns vorbeigehen, die uns ansehen und aufgeregt miteinander reden, wild gestikulieren.
Ich sehe nicht meine Mutter, die wie versteinert am Straßenrand steht.
Ich sehe nicht deine Mutter, die hinter der Gardine steht, aus Angst, gesehen zu werden.
Ja, es ist alles wieder gut, meine kleine Welt ist in Ordnung, muss in Ordnung sein.
Als die Sirenen beginnen zu heulen, schiebe ich das Geräusch zunächst auf meinen verwirrten Gedanken, die Angst, die immer noch in meinem Hinterkopf lauert.
Eine Wahnvorstellung, Einbildung, nichts weiter.
Dann spüre ich, wie sich dein Körper versteigt und wie plötzlich alles ruhig wird, bis auf die Sirenen, alles in eisige Anspannung verfällt.
Panik kriecht in mir hoch.
Nein, das kann nicht sein, das kann einfach nicht sein.
Ich will dich nicht loslassen, ich kralle mich an dir fest, mit dem Heulen der Sirenen in den Ohren.
Du löst meine Finger von deiner Jacke, siehst mich eindringlich an.
"Geh."
Deine Stimme klingt rau, so vertraut. Jetzt endlich, nach so langer Zeit kann ich sie wieder hören und dann ist es ausgerechnet dieses Wort, was aus deinem Mund kommt.
Ich warte nicht, bis du weitersprichst, ich nehme dir deine Worte weg.
"Es ist besser so?", frage ich und Bitterkeit schwingt in meiner Stimme mit. "Sicherer?"
Du nickst, entfernst dich von mir. Ich höre die ersten Flugzeuge, meine Mutter schreit hysterisch nach mir.
Nein, hämmert es in meinem Kopf. Nein.
Ich will wieder zu dir laufen, mich an dir festklammern, alles vergessen, diesen sinnlosen Krieg, diese Angst.
Doch ich lasse mir Zeit zu denken, zu viel Zeit, zu viele Gedanken.
Ich schlucke die Tränen hinunter und sehe dich noch ein Mal an, dann wende ich mich ab und folge meiner Mutter.
Ich spüre deinen Blick auf mir, bis ich um die Ecke gebogen bin.
*
Am nächsten Tag machen wir weiter mit unserem Ritual, als wäre nichts geschehen. Als hätte es diesen Moment, diese Sekunde in deinen Armen nicht gegeben.
Als ich dich gesund sehe, kann ich mir einen Seufzer der Erleichterung nicht verkneifen und ich denke, dir geht es genauso.
Dieses Mal hinterlässt du mir etwas glitzerndes und ohne genau hinzusehen, erkenne ich sofort, dass es wertvoll ist und nicht allzu lange alleine auf der Straße liegen sollte.
Es ist ein Ring, der Ring, den du sonst immer an deinem kleinen Finger trägst. Den Ring, den dir dein Vater hinterlassen hat.
Diese Nacht verbringe ich weinend, den Ring fest umklammert.
Alles fühlt sich so endgültig an.
*
Sie kommen, als du gerade kurz vor meinem Fenster bist.
Zwei Soldaten, einschüchternd, nicht so freundlich, wie sie mir immer begegnen.
Ich weiß sofort, dass sie es auf dich abgesehen haben.
Ich will nach draußen rennen doch dein Blick fängt meinen auf und bedeutet mir, dort zu bleiben, wo ich bin.
Bring dich nicht in Gefahr.
Nein, ich kann dich nicht alleine lassen, nicht jetzt.
Ich springe auf und blicke in das Gesicht meiner Mutter.
"Es ist sinnlos."
Dieses Mal kann ich die Tränen nicht zurückhalten und eine ungläubige Wut steigt in mir auf.
"Es kann nicht sein!", brülle ich, unter Tränen und blind vor Angst.
Meine Mutter nimmt meine Hände, sieht mich an.
"Du kannst ihm nicht helfen."
Ich kann ihren Blick nicht erwidern, will mich losreißen, doch sie ist stark.
Ich drehe mich um und ein schreckliches Gefühl überkommt mich.
Ich habe Angst.
Mir wird klar, selbst wenn meine Mutter mich loslässt, ich würde nicht hinauslaufen.
Bedeutest du mir tatsächlich so wenig, dass ich nicht mein Leben für dich riskieren würde?
Nein. Niemals.
Es ist die Hilflosigkeit, die mich lähmt, die Gewissheit, dass ich dir nicht helfen kann, egal, wie oft ich für dich sterbe.
Immer noch die Hände umklammert, drehe ich mich um und sehe zu, wie du abgeführt wirst, direkt an meinem Fenster vorbei.
Vor meinem Fenster bleibst du stehen, eine Sekunde nur, gerade lange genug, um mich anzusehen und einen kleinen Gegenstand fallen zu lassen. Du wirst weitergerissen und auch ich reiße mich los, renne nach draußen und kaure mich neben die Stelle, an der du eben standest und sehe dir hinterher.
Die Nachbarn sind aus dem Haus gekommen, beobachten dich, sehen mich an.
Erst, als du nicht mehr zu sehen bist, nehme ich den Gegenstand in die Hand, den du hast fallen lassen.
Eine kleine Rosenknospe.
Die erste des Jahres.