- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Du warst da
Nach endlosem hin und her Wälzen läutete endlich mein Wecker. Das sonst so verhasste Geräusch erschien mir plötzlich fröhlich und fast schon ermutigend.
Nachdem ich mein seriöses Kostüm angezogen hatte und die Haustür hinter mir zufiel, machte ich mich auf den Weg. Die Menschen auf der Straße lächelten mich an. Als würden sie mir zujubeln - wie bei einer Sprinterin, die vom Startblock schießt.
Mit einem guten Gefühl betrat ich das Gebäude und ein netter Mann namens Sebastian führte mich herum. Beschäftigte Menschen schwirrten herum wie fleißige Bienen. Finger tippten auf Tastaturen. Kaffeemaschinen brummten. Wir blieben vor der Glaswand eines modernen Büros stehen. ,,Das ist dein Büro. Lass dich von Stephanies Schweißfüßen nicht irritieren, man gewöhnt sich an den Geruch.” Ich kicherte und blickte kurz über seine Schulter. Ein Mann im Anzug verließ mit einem kleinen Karton das Büro. ,,Jedenfalls kannst du mich jederzeit kontaktieren, falls du Fragen hast - so und jetzt mach dich an die Arbeit. Die Berichte schreiben sich nicht von selbst.” Ich begrüßte Stephanie, die mit einer Hand Erdnussbutterflips in ihren Mund schiebt und mit der anderen auf ihrer Tastatur herumtippt. Schon nach meinem ersten geschriebenen Wort fühlte ich mich richtig produktiv. Ich fühlte es, nein ich wusste genau, dass in diesem Moment ein neues Leben für mich anfangen würde. Genau in diesem Moment.
Drei Jahre später.
Als ich auf dem Weg zur Arbeit die Straße zur First Avenue hinunterlief, spürte ich einen Blick auf mir ruhen. Er war sehr intensiv. Wie ein elektrischer Schlag. Ich blieb stehen. Blickte mich um. Ein Bettler saß auf dem Bürgersteig. Sein faltiges Gesicht lugte unter seiner Mütze hervor, die löchrige Jacke war ganz zugezogen und der lange Bart wehte ein wenig im Wind. Seine zittrige Hand ruhte auf einem kleinen, weiß-braunen Terrier, dessen Kopf auf seinem Schoß lag. Ich kramte in meiner Handtasche und zog meinen Geldbeutel heraus. Ich legte einige Scheine in die Dose vor ihm. Der Bettler nahm sie sorgfältig wieder heraus und streckte sie mir entgegen. Zum ersten Mal sah ich ihm in die Augen. Die stahlblaue Farbe schien nicht recht in das Grau seiner Umgebung zu passen. Sein Arm ragte immer noch in die Höhe. Ich schüttelte den Kopf. Er schüttelte den Kopf. Ich drehte mich um und ging. Nach ein paar Schritten blickte ich zurück. Er machte immer noch keine Anstalten, den Arm zu senken. Warum wollte er mein Geld nicht? Hatte ich ihn womöglich beleidigt? Sein Arm fing an zu zittern. Schließlich entschloss ich mich dazu, wieder zurückzugehen. Zögernd nahm ich ihm die Scheine ab. Ich versuchte seinen Blick zu deuten, es gelang mir aber nicht. Seine Mundwinkel deuteten ein Lächeln an. Zaghaft lächelte ich zurück und ging. Nach einer Weile fiel mir auf, dass ich und der Bettler kein einziges Wort gewechselt hatten.
In den nächsten Tagen, Monaten und Jahren ging ich jeden Tag um 7.53 bei dir vorbei. Jeden Tag nicktest du mir zu und ich lächelte zurück. Es bestand eine unerklärliche Vertrautheit zwischen uns beiden. Auch wenn ich noch nie mit dir gesprochen hatte, fühltest du dich wie ein langjähriger Freund an.
Im Berufsleben stieg ich die Karriereleiter hinauf. Und bei jeder Stufe, die ich erklimmte - von der Ressortleiterin zur Chefin vom Dienst und schließlich zur Chefredakteurin - schien es dir immer schlechter zu gehen. Immer mehr Falten zierten dein Gesicht, du wurdest immer dürrer und deine Hand zittriger. Besonders rührend fand ich, wie liebevoll du dich dennoch um deinen Hund kümmertest. Mehrmals versuchte ich, dir Geld zuzustecken, doch stets betrachtetest du mich dann mit diesem durchdringenden Blick und alles verlief so wie bei unserer ersten Begegnung.
Eines Tages ging ich wie üblich um 7.53 an der Straße entlang. Ich wollte dir gerade zunicken, als ich stehen blieb. Ich schaute mich um. An der Stelle an der du normalerweise auf seiner zerfransten Decke saßt und eine Dose für deinen Hund aufmachtest, befanden sich jetzt nur noch graue Pflastersteine. Panik überfiel mich. Ist dir etwas zugestoßen? Ich konnte es nicht glauben.
Du warst da. Du warst da gewesen als ich einmal spät dran war und meinen heißen Kaffee verschüttete. Du warst da gewesen als ich mein schönstes Kleid trug und du daraufhin verschmitzt geschmunzelt hattest. Du warst da gewesen als ich im fünften Monat schwanger, mich die Straße hinunter geschleppt hatte und mich wie ein Trampeltier gefühlt hatte. Du warst die ganze Zeit über da gewesen. Du hattest mich in all meinen Lebensphasen begleitet und jetzt warst du einfach verschwunden. Vom Erdboden verschluckt. Eine Träne lief langsam meine Wange hinab. ,,Wo bist du?”, flüsterte ich in die Leere hinein.
Ich erkundigte mich bei Krankenhäusern, Polizeistationen und Bestattungsunternehmen.
Und ich fand dich. Du heißt Arnold Smith. Geboren am 18.05.1950 in New Jersey. Am 23.06.2008 starbst du an einem Herzinfarkt. Bei der Trauerfeier, die ich organisiert hatze, zählte ich Menschen. Der Pfarrer sprach zwei Worte, der Sarg wurde in das Grab gehoben und zugeschüttet. Anschließend gingen alle ihrer Wege. Außer mir. Ich blieb wie angewurzelt stehen und begann zu schluchzen. ,,Sie kannten ihn?”, fragte eine Frauenstimme hinter mir. ,,Es tut mir leid. Ich dachte, ich wäre allein.”, wimmerte ich und wischte meine Tränen ab. ,,Es braucht Ihnen nicht Leid zu tun. Ich bin Megan Corwall. Ich bin die Leiterin der Essensausgabe auf der Wilmer Street.” Sie reichte mir ein Taschentuch. ,,Ich heiße Caroline Adams. Ich bin jeden Tag an ihm vorbeigelaufen. Ich habe noch nie in meinem Leben ein Wort mit ihm gewechselt. Ich weiß eigentlich gar nichts über ihn. Und jetzt ist er tot. “ Es folgt ein längeres Schweigen. ,,Arnold aß am liebsten Kartoffelsuppe. Er konnte nicht genug davon kriegen.” Der Gedanke brachte mich zum Lächeln. ,,Er hat mir einmal erzählt er hätte als Journalist an einer bekannten Zeitung gearbeitet. Wie hieß die nochmal? Ach ja, The New York Post. Jedenfalls liebte er das Schreiben über alles, bis er eines Tages gefeuert wurde. Von da an ging es bergab. Seine Frau wandte sich von ihm ab und ließ sich scheiden. Da landete er auf der Straße…” Die Frau redete noch weiter, doch ich hörte ihr nicht mehr zu. Wie versteinert starrte ich auf das Porträt von Arnold, das neben seinem Grab stand. Er saß an einer Schreibmaschine und lächelte in die Kamera.
Er liebte das Schreiben über alles … Ich erinnerte mich an meinen ersten Arbeitstag. Wie hieß die Zeitung nochmal? ... Ein Mitarbeiter zeigte mir mein neues Büro, als ein Mann mit einem Karton herauskam. The New York Post …
Aufeinmal durchzog ein eisiger Schmerz meinen Körper. Mein Herz drohte zu zerspringen. Ich bekam keine Luft. ,,Schätzchen? Sie sehen ganz blass aus…” Plötzlich wurde alles schwarz.
Wenn ich jetzt an dich zurückdenke, muss ich lächeln. An all die schönen Erinnerungen, die ich indirekt mit dir geteilt habe. An all die Tage, an denen ich mich schon auf dich gefreut hatte als ich aus dem Bett stieg. Du hast mich gelehrt, für jeden Tag dankbar zu sein, den ich in meinem warmen Zuhause - und vor allem mit meiner Familie teilen darf. An meinem ersten Arbeitstag habe ich dich zwar nur von hinten gesehen, ich bin mir aber trotzdem sicher, dass du es warst. Ich glaube du wusstest auch, wer ich war.
Die Frage, warum du mein Geld nicht annehmen wolltest, hat mir lange Zeit keine Ruhe gelassen. Ich habe sie aber für mich selbst beantwortet. Ohne Vorwarnung hast du deinen Job verloren. Dein Schicksal könnte jedem von uns passieren. Du wolltest kein Geld von mir annehmen, weil du befürchtetest, ich könnte morgen genau wie du auf der Straße sitzen. Natürlich ist dieser Gedanke ehrenhaft von dir. Mich plagen heute aber dennoch Schuldgefühle. Ich hätte dich zwingen sollen, das Geld anzunehmen. Du brauchtest Hilfe. Du hast aber keine bekommen.