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Du trägst nie ein Kleid aus Seide.
Der Kaffee schmeckte bitter. Ich saß an der kleinen italienischen Bar im Hauptbahnhof, denn wie so oft hatte für ein Frühstück in den eigenen vier Wänden die Zeit nicht mehr gereicht. Diesmal allerdings nicht, weil ich mich noch einmal im Bett herumgedreht hatte oder weil ich zu lange unter der Dusche stand:
Es war kurz nach sieben, als mich der Wetterbericht des Radios aus dem Schlaf holte. Das erste morgendliche Licht fiel durch die kleinen Löcher in der Jalousie und warf bizarre Muster an die weiß getünchte Schlafzimmerwand. Ich versuchte die Nacht von mir zu streifen, doch so oft ich die dünne Bettdecke auch von mir schob, sie blieb an meinem Körper kleben. Gerade wollte ich auf den Nachttisch greifen und meinen Tabak nehmen, als ich erstarrte. Sie spielten ihr Lied, einen Song den ich seit drei Jahren wie eine Reliquie hütete und dennoch nicht hören wollte. Die Crickets hatten „Don't ever change“ im Januar '63 veröffentlicht, ein halbes Jahr später hatten die Beatles es für eine BBC-Show eingesungen. Doch auch als das Lied '94 auf einem der unzähligen Anthologie-Alben erschien, hatten die Radiosender es nicht einmal spielen wollen – bis zu diesem Tag. „You don't know the latest dance, but when it's time to make romance your kisses let me know you're not a tomboy.” Ich sprang aus dem Bett und ging ans Fenster. Auch wenn es nahezu ausgeschlossen war hatte ich das Gefühl, dass sie jeden Moment die Straße entlang käme. Hektisch zog ich an der Zigarette und wartete, bis John auch die letzte Strophe gesungen hatte.
Ich ging in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an und sprang anschließend unter die Dusche. „I love you when you're happy, I love you when you're blue, I love you when you're mad at me, so how can I get tired of you?” Die Fab Four waren hartnäckig. Wir hatten dieses Lied an unserem ersten Abend gehört, als wir nach einer Party auf dem Bett in meinem WG-Zimmer lagen, und beschlossen, es zu unserer „Hymne“ zu machen. „You never wear a stitch of lace and powder's never on your face, you're always wearing jeans except on Sunday.” Ich sprang in meine Jeans und warf einen Blick auf die Uhr. Ich hatte noch ganze acht Minuten um zum Bahnhof zu kommen. Meinen Rucksack geschultert stellte ich die Kaffeemaschine ab und sprintete die vier Etagen hinunter auf die Straße. „A lot of other girls I've seen, they know how to treat guys mean. But you would rather die than ever hurt me.” Christian und Alexandra hatten bereits am Tag zuvor gesagt, dass sie mit einer späteren Bahn fuhren, also musste ich die zwanzig Minuten lange Fahrt wohl alleine auf mich nehmen. Drei Jahre war es nun her, dass wir uns getrennt hatten, drei Jahre, in denen ich weder von ihr gehört noch sie gesehen hatte, nicht einmal ihr Lied. Und dennoch hatten die Pilzköpfe es geschafft mir das Gefühl zu geben, das alles sei nur wenige Stunden her. Ich dachte an unsere ersten Tage, an die Spaziergänge am Rheinufer, ich versuchte mir ihr Gesicht bis ins Detail vorzustellen, doch ich merkte schnell, dass es mir nicht gelingen wollte. Die großes Flächen waren schnell ausgemalt, Ihr blondes Haar, die zarten Wangen und die etwas zu groß geratene Nase, doch die scharfen Konturen fehlten, waren im Laufe der Jahre verblasst und nahmen dem Bild, das ich in mir zeichnete, die Form. „Du hast ihr damals geschworen, dass Du Sie niemals vergessen wirst“, dachte ich und starrte aus dem Fenster auf die Bäume, die mit rasender Geschwindigkeit an mir vorbeizogen. „Niemals wolltest Du sie vergessen, und nun ist es schon längst passiert.“ Ich versuchte mir ihre Stimme in Erinnerung zu rufen, doch ich hörte nichts, selbst ihr Duft, den ich so viele Male eingesogen hatte, war verschwunden. Langsam beugte ich mich in Richtung eines vielleicht 17-jährigen Mädchens, das mir gegenüber Platz genommen hatte, um sein Parfum zu erriechen. Es war nicht das, das sie getragen hatte, ihr Parfum war weniger süß, oder weniger holzig? „No don't you ever change. No promise me you're always gonna be as sweet as you are.”
Ich ging die Treppe hinunter zum kleinen Italiener, bei dem ich immer frühstückte, wenn ich zu Hause keine Zeit hatte und bestellte einen Espresso und ein gefülltes Cornetto. Irgendwo in der Bahnhofshalle spielte jemand das Violinkonzert Nummer zwei von Bartók, doch auch der gute, alte Bela konnte die vier Jungs aus Liverpool nicht aus meinem Kopf vertreiben. Während ich den Rhythmus auf dem langen Marmortisch trommelte, versuchte ich mir erneut ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen. Vergeblich. „Du hast sie tatsächlich vergessen“, murmelte ich, zahlte und ging zur U-Bahn. „Sie wird traurig sein, verletzt, wenn sie erfährt, dass sie Dir mittlerweile scheinbar egal ist, dass sie nicht mehr ist als ein Gesicht, ein Satz, ein kurzer Duft, den man schnell wieder vergisst.“
Ich drängte mich durch die Wartenden und stellte mich an den Rand des Bahnsteiges. „But you would rather die than ever hurt me.” Ich hatte ihr weh getan, hatte mir weh getan, indem ich mein eigenes Versprechen gebrochen und sie einfach vergessen hatte. Sicherlich würde Sie weinen, wenn Sie davon erführe, würde aufstehen und schweigend meine Wohnung verlassen. „So please don't ever change, no don't you ever change, no promise me you're always gonna be as sweet as you are.” Ich hatte mich verändert, war wohl nicht mehr der süße Junge, der sie mehr liebte als alles andere, denn warum sollte man das Gesicht eines Menschen einfach so ausradieren, wenn es noch Bedeutung hatte. „Du hast ihr weh getan“, dachte ich, „warum? Du liebst Sie doch, oder?“ Ich senkte meinen Blick.
Die eisernen Räder der U-Bahn quietschten grell, als sie am Bahnsteig abbremsten.