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Du stehst auf meiner Vergangenheit
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Du stehst auf meiner Vergangenheit Eine Erzählung
Jedesmal, wenn ich im Dorf ankam und aus dem Bus stieg, konnte ich das Wasser schon riechen. Allein der erste Schritt auf das alte Kopfsteinpflaster erfüllte mich mit Freude. Nein, nicht nur Freude, auch Wärme und Geborgenheit war dabei. Wenn ich hier ankam, war immer alles gut.
In den Kindertagen war es die Vorfreude auf das schöne Wochenende am See.
Ich freute mich auf das Schwimmen und Kahn fahren, auf das liebevolle Mittun meiner Eltern. Später war es das Gefühl der Erleichterung, der Geborgenheit aus der Stadt hierher zu kommen und den Eltern meine Sorgen zu erzählen.
Seit meiner Kindheit verbrachten wir vom zeitigen Frühjahr an bis lange in den Herbst hinein die Wochenenden und manches Jahr auch die Ferien hier im Sommeridyll.
Die Wellen berührten die alte Dorfstrasse genau da, wo sie eine große Kurve machte. Hier blieb ich meist stehen, um mit den Augen den Bootssteg zu suchen, der zum Haus meiner Eltern gehörte. Der See lag langgestreckt vor mir und mir schien, wenn ich die Luft ganz tief einsog, Wasser, Fisch und Sonne roch, dann war ich da.
Am linken Ufer lagen die Bootsstege und Plattformen hintereinander, nur die Buchten des Sees ließen den Eindruck einer ungeordneten Reihenfolge der Stege entstehen. Rechts bildete Schilf so weit das Auge reichte für Angler und Liebespaare ein Paradies.
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Wenn meine Mutter wusste, dass ich mit dem Nachmittagsbus komme, dann ließ sie ein rotes Handtuch am Geländer der Plattform hängen.
Der erste Willkommensgruß!
Nun ging ich am Südufer hinter den alten Gärten einen ausgetretenen Sommerweg entlang. Heftige warme und nach Staub riechende Sommergewitter hatten ihm tiefe Furchen beigebracht, wie in einem lieben Gesicht die Tränen des Lebens Spuren hinterlassen. Aber bei Trockenheit waren die Gräben und eingetrockneten Fußspuren des Pfades hart wie Stein.
Auch wenn der Weg eine halbe Stunde dauerte, so ging ich doch gerne an der Gartenzier hinter den, nach Firnis riechenden, Zäunen entlang. Die Leute vom Südufer kannte ich alle, es kannte jeder jeden, wie in einer Dorfgemeinschaft. Hier waren es gut gelaunte Wochenendhäusler, die sich gegenseitig besuchten und halfen, wenn bei dem einen oder anderen etwas am Häuschen zu werkeln war.
Noch zweimal machte der Weg einen Knick, dann kam unser Zaun.
Er war schon etwas windschief und man konnte glauben, er würde von der Ligusterhecke gehalten – oder umgekehrt?
Nun stand ich am Tor und als die Strahlen der Nachmittagssonne schräg in den stillen sommerlichen Garten fielen, kam es mir vor als bliebe die Zeit stehen. Die Eltern warteten schon auf mich, Mutter deckte den Kaffeetisch und Vater zündete sich, auf und ablaufend, eine Zigarre an. Bevor ich die Gartentür öffne genieße ich für einen Augenblick den Anblick der Beiden und atme die vertraute Luft der Kindheit. So sah ich sie und so werde ich sie immer sehen. Heute ist mir, als hätte es nur solche Nachmittage gegeben. In meinen Gedanken sind sie verklärt und gehören zu den schönsten Kindheitserinnerungen.
Fünfzehn Jahre sind vergangen. Die Eltern sind lange schon gestorben und ich lebe weit von hier. Wie ich höre fährt auch der Nachmittagsbus längst nicht mehr, nur ein Frühbus und eine Abendfahrt wird noch angeboten.
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Und doch, die Sehnsucht nach vergangenen Tagen trieb mich das Alte wieder zu sehen.
Ach, der Zaun, er steht noch. Windschiefer als früher, aber er ist mit der Hecke eine Symbiose eingegangen. Sie halten sich aneinander wie zwei alte Leute, die sich gegenseitig ein Stück des Weges stützen.
Ich sehe über den Zaun. Aber was ist das?
Mir schießen die Tränen in die Augen. Das alte Häuschen ist weg. Aber was viel schlimmer ist, die große alte Trauerweide hat man gefällt. Welche Bilder entstehen vor meinem Auge. Sie war so klein, als ich Kind war, wuchs mit mir heran. Später gab sie mir und nun auch schon meinem Kind Schatten. Sie trug ein Baumhaus, vom Großvater für die Enkel gebaut.
An ihre Stelle und auf einen Teil der Wiese hat man Beton gegossen, um drei oder vier Wohnwagen aufzustellen. Kaum kann sich etwas Grünes in diesem „Garten“ behaupten.
Ich sehe einen Menschen zwischen den Wohnwagen laufen und möchte ihm zurufen: „ Du stehst auf meiner Vergangenheit!
Ich wohne jetzt in einer sehr schönen Landschaft. Das Haus ist ein Neubau und der alte Bauer hatte vor Jahren dem Bauherrn ein Stück von seinen schönen Wiesen am Waldrand verkauft
Auch hier wurde planiert, für Wege und um Autos abzustellen.
Ein großes weißes Fünffamilienhaus steht nun dort, wo früher das Paradies der Kinder des Bauern war. Hier waren sie ungestört mit ihren kleinen und großen Geheimnissen, so dicht am Wald. Weit unten am Wiesenrand steht das Haus der alten Bauersleute. Wenn die erwachsenen Kinder heute ihre Eltern besuchen und mich vor dem Neubau sehen, ob sie dann auch traurig denken: „Du stehst auf meiner Vergangenheit!“ ?