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Du kannst es schaffen!
Sie steht am Fenster und sieht auf die Straßen. Wartet darauf, dass etwas passiert. Jeden Tag wiederholt sich das Ganze. Sie steht am Fenster und sieht auf die Straße. Beobachtet die Menschen dort unten. Sie ist 20, attraktiv. Früher brauchte sie nie zu warten, dass etwas passiert. Kaum war sie aus der Schule zu Hause kam von jemandem ein Anruf, was sie nachmittags untenehmen sollten. Doch die Zeit ist vorbei. Seit etwas über einem Jahr, seit die Schule vorbei ist. Alle hatten sich von ihr zurückgezogen, auch schon bevor die Schule zu Ende war. Seit genau jenem Tag. Davor war sie super beliebt gewesen. Konnte sich nie über Langweile beschweren. Fast jeden Tag war sie mit einem Jungen unterwegs gewesen, ständig wechselnde Begleitung. Ihre Freundinnen waren auch immer beliebt gewesen, aber sie war der große Star. Sie waren die In-Clique, jeder wollte dazu gehören, aber nicht jeder wurde aufgenommen. Alle waren neidisch auf die, die dazu gehörten. Geld, Schönheit, Einfluss das waren die Kriterien. Sie hatten sich viel darauf eingebildet.
„Wie oberflächlich wir doch waren.“ denkt sie sich. „Wir haben alle fertig gemacht, die uns nicht in den Kram passten. Viel einfacher als sich damit auseinander zu setzten, dass nicht alle Menschen gleich sind und trotzdem ebenbürtig.“
Sie hat viel über Menschen gelernt, seit jenem Tag. Vor allem viel über ihre Freunde. Sie waren nur Freunde solange sie genau diese Kriterien erfüllte, als sie so wie jetzt in die Schule kam wandten sie sich alle von ihr ab. Nach und nach wurde der Freundeskreis kleiner. Sie hatten alle keine Zeit mehr, mussten auf einmal für ihr Abi lernen. Als ob sie das jemals getan hätten. Eigentlich störte sie es gar nicht so sonderlich bei vielen von ihnen, aber einige waren ihr wichtig gewesen. Nun ja auch die hatten sie links liegen lassen.
Es fängt an zu regnen. Ihre Stimmung sinkt mit dem Wetterumschwung. Jetzt sind noch nicht einmal die wenigen Leute auf der Straße, die sie vorher beobachtet hat Sie fährt den Computer hoch und logt sich in einen Chat ein. Hier kann sie wieder normal sein, so wie früher. Sie wird nicht gesehen und nicht bemitleidet. Sie unterhält sich mit vielen Leuten unter anderem mit einem Jungen, mit dem sie schon ungefähr ein halbes Jahr chattet.
„Hi Süße! Wie gehts?“
„Naja, ich hab ziemliche Langeweile.“
„Wir chatten jetzt so lange miteinander. Ich würd mich gerne mal mit dir treffen.“
„Nein, das geht nicht.“
„Wieso nicht? Wir wohnen doch in der selben Stadt.“
„Du wärst enttäuscht.“ Sie hat Angst davor, was er sagen wird, wenn er sie sieht. Er kennt zwar ihr Foto, aber das zeigt halt nicht das wichtigste, das was ihr Leben bestimmt.
„Nein, das wäre ich sicher nicht.“ Er hat sich in den Kopf gesetzt sie zu überreden und nach einer Weile gelingt es ihm. Sie gibt ihm ihre Adresse.
„Gut ich bin in einer halben Stunde bei dir.“
Sie zieht sich um, will nicht, dass er sie in der gammeligen Jogginghose sieht. Obwohl es wahrscheinlich keinen Unterschied machen würde. Sie will einmal seit dem Tag mutig sein und sich ihm stellen. Es wird Enttäuschung in seinen Augen geschrieben stehen. Erst Erstaunen, dann Enttäuschung und schließlich Mitleid. So ist es immer wenn sie irgendwen kennenlernt, mit dem sie vorher nur telefoniert hat. Z.B. der Elektroinstallateur der vor einer Woche da war. Sie versucht nicht an das zu denken, was passieren wird. Bei dem bisschen Schminken, was sie vornimmt, gehen ihr trotzdem die ganze Zeit die Gedanken durch den Kopf.
Es klingelt, sie will nicht öffnen, drückt aber trotzdem auf den Summer. Hört wie er die Treppe raufkommt und öffnet die Wohnungstür. Vor ihr steht ein junger Mann, der ihr lächelnd einen Blumenstrauß entgegenstreckt. Kein Anzeichen in seinen Augen von den Dingen, die sie erwartet hat. Einfach nur Offenheit. Sie kennt ihn. Er war früher mit ihr in einer Stufe. Deswegen ist er auch keineswegs erstaunt, als er sie so sieht. Er war schon immer sportlich gewesen, erinnert sie sich, aber mittlerweile schien er auch noch Krafttraining zu machen und die Sonnenbank zu besuchen. Die Bräune passte gut zu seinen langen schwarzen Haaren, die er zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte. „Darf ich reinkommen, oder soll ich dir einfach die Blumen geben und wieder verschwinden?“ „Entschuldige bitte, natürlich komm rein.“ murmelt sie vor sich hin und ist sich noch nicht mal sicher, ob er es überhaupt gehört hat.
Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit jemandem den sie kennt und der sie besucht, obwohl er es weiß. Vor allem jemand, den sie früher immer schlecht behandelt hatte, als sie noch zu der Clique gehörte. Sie hatten ihn immer niedergemacht, weil er meist alleine irgendwo auf dem Pausenhof rumhing und Goethe oder Shakespeare las. Sie fanden es lächerlich, dass er sich für so etwas interessierte. Mittlerweile las sie selbst viel und auch Goethe war ab und zu darunter. „So ändern sich Menschen.“ Denkt sie, zeigt ihm das Wohnzimmer und stellt die Blumen in eine Vase. „Danke für die Blumen, die sind wirklich schön“, sagt sie als sie sich ihm wieder zuwendet und versucht ein Lächeln. „Freut mich, dass sie dir gefallen, setz dich doch bitte mit auf das Sofa.“ Sie sieht ihn ungläubig an und hat den Verdacht, dass er nur gekommen ist um sie zu verhöhnen und sich dafür zu rächen, dass sie ihn so schlecht behandelt hat. Doch sein Lächeln sieht ganz und gar nicht höhnisch aus. „Da gibt es ein kleines Problem, was ja ziemlich offensichtlich ist.“ Er stand auf und blieb vor ihr stehen. „Manchmal braucht man zwar Hilfe dabei, aber man kann alles schaffen, wenn man nur will. Leg deine Arme um meinen Hals.“ Sie kannte das schon, so machte es ihre Schwester auch immer, wenn sie sie aus dem Rollstuhl in die Badewanne oder auf das Bett setzte. „Na siehst du es geht doch“, meinte er, als er sie in den Armen festhielt und sie seit langer Zeit zum ersten Mal wieder stand. Sie nickte nur.
Sie wollte nicht mehr abhängig sein von anderen, wollte sich selber zum Besuch auf das Sofa setzten können. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass es wenig Hoffnung gäbe, dass sie jemals wieder laufen könnte, also hatte sie es auch nie versucht. Sie wollte nicht noch mal so eine Enttäuschung erleben, wie an dem Tag, als sie den Autounfall hatte und als sie aus dem Koma wieder aufwachte die Beine nicht mehr bewegen konnte. Alle Erinnerungen gingen ihr wieder durch den Kopf, der Aufprall vom Auto, das monotone Piepen von den Geräten im Krankenhaus, als sie aufwachte, die Erklärungen der Ärzte was passiert war. Das alles erlebte sie nur noch mal, weil ihr dieser junge Mann aus dem Rollstuhl aufgeholfen hatte und sie jetzt in den Armen hielt. Sie sieht ihm in die strahlenden Augen und lächelt ihn an. Er gibt ihr sanft einen Kuss....
Als er später neben ihr im Bett liegt sieht er sie ernst an. „Ich liebe dich, du bist die tollste Frau, die mir jemals begegnet ist.“ „Sag sowas nicht, was ist an einem Krüppel wie mir schon toll, ich kann kaum etwas alleine machen, bin fast so hilflos wie ein Kleinkind. Und ich verstehe nicht, was du an mir findest.“
„Weißt du, dass ich dich früher für eine extreme Zicke hielt, aber trotzdem immer von dir fasziniert war? Ich wollte nie etwas mit eurer Clique zu tun haben, aber du warst irgendwie immer ein wenig anders. Du hast zwar die gleichen Sprüche abgelassen wie die anderen, aber irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass du ein schlechtes Gewissen dabei hattest. Nach dem Unfall hast du dich verändert, du hast dich immer mehr zurückgezogen und deine tollen Freunde auch. Ich sah dich kaum noch auf dem Hof. Und nach dem Abi überhaupt nicht mehr.“ Er setzt sich auf und fährt fort. „Und dann hab ich dich im Internet gefunden, hab dich anhand des Photos in deinem Profil erkannt. Du warst immer so niedergeschlagen und ich hab mir Mühe gegeben dich aufzubauen. Aber das hat nicht funktioniert. Du hast trotzdem nicht angefangen die Übungen zu machen, die dir der Arzt gezeigt hat.“ „Woher weißt du das mit den Übungen?“ sie sieht ihn erstaunt an, doch er lächelt nur. „Ich arbeite mit deiner Schwester zusammen, ich hab so vieles über dich erfahren, was ich von dir im Chat niemals erfahren hätte.“ Sie denkt lange über das nach, was er ihr gesagt hat. Die Übungen. Was ist wenn sie noch mal die Enttäuschung erleben muss, dass sie nicht laufen kann. Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, nimmt er sie in die Arme und murmelt: „Du kannst das schaffen, wenn du willst und wenn du dir dabei helfen lässt. Ich würde dir gerne dabei helfen.“
Es sind zwei Jahre vergangen seit diesem Tag. Sie gehen zusammen die Straße entlang, die Straße, die sie vorher lange Zeit immer nur aus dem Fenster gesehen hatte. Sie läuft noch etwas unsicher, aber er hält sie an der Hand und sie fühlt sich zumindest sicher. Es hatte lange gedauert bis die Muskulatur überhaupt so weit trainiert war, dass sie die Laufübungen anfangen konnte. Aber sie hat es geschafft. Mit seiner Hilfe und mit der Hilfe ihrer kleinen Tochter, die jetzt etwas über ein Jahr alt ist. Lächelnd erinnert sie sich an die Worte, mit der er sie immer motiviert hat. „Du kannst alles schaffen, wenn du willst.“