"Du hast nichts verstanden!"
Als ich heute Morgen aufwachte, hallten die Worte immer noch in meinem Schädel nach, zerfetzt und doch so allgegenwärtig, wie die Splitter von einem zu Bruch gegangenen Kaleidoskop in meinem Auge. Es war wie an jedem Morgen in der letzten Zeit. Und genau wie an all den unzähligen Tagen davor, wachte ich schweißgebadet und mit einem Schrei auf den Lippen auf, dessen Ursprünge irgendwo in den Tiefen meiner existentiellen Ängste lagen. Jener Ängste, die auszusprechen ich mich nie traute. Ja, ich ging sogar soweit, sie vor mir selbst zu verleugnen.
Doch nun bin ich soweit. Endlich habe ich den Mut gefunden, mich in den Kreis zu stellen und es auszusprechen:
Hi, mein Name ist Cpr.Nobbs, und ich habe noch nie etwas verstanden.
Na gut, nie ist vielleicht etwas übertrieben, denn meine Kindheit verlief eigentlich ganz normal und harmonisch. Die Rahmenbedingungen des zu Verstehenden blieben konstant, die Umwelt schien für einen stillzustehen. Doch dann kam die Pubertät, und die Welt warf unzählige neue Fragezeichen in den Raum. Tja,... und die scheine ich irgendwie von der falschen Seite angepackt zu haben, denn seitdem hörte ich einen Satz immer wieder und wieder, bis er zum Bewußtsein wurde, zum roten Faden meines Lebens:
„Du hast nichts verstanden.“
Am Anfang stimmte es ja auch. Ich verstand grundsätzlich nichts, aber wenigstens wußte ich, daß ich nichts verstand. Doch irgendwann machte ich dann den Fehler zu glauben, ich hätte etwas verstanden, nur um gleich wieder zu erfahren, ich hätte absolut garnix verstanden. Ich denke, das war das traumatischste Erlebnis meines Lebens.
Seitdem ging es nur noch bergab. Fragen über Fragen, und kein Verstehen. Nicht, daß es an Antworten gemangelt hätte. Ihre Anzahl und Richtigkeit schien im gleichen Verhältnis zu steigen, wie die Quantität des an mich gerichteten, bereits erwähnten Satzes. Ich war stagniert. Alle um mich herum verstanden immer alles, hatten innerhalb von Sekunden die absolute Wahrheit zu jedem Thema bereit, auch wenn sie dabei manchmal nur die von anderen weitergaben. Aber sie wußten es wenigstens, und es ging ihnen dabei gut.
Ich wurde zum gesellschaftlichen Außenseiter; dem „Nichtversteher“, wie manche hinter vorgehaltener Hand murmelten. Letztens habe ich ein paar Kinder von Nachbarn gesehen, die mit dem Finger auf mich zeigten und lachend im singsang riefen: „Er hat es nicht verstanden, er hat es nicht verstanden... ha,ha,ha.“
Jetzt träume ich auch noch davon. Ich habe seit Wochen wiederkehrende Alpträume, in welchen die Worte zu Ungeheuern mutieren und mich pausenlos jagen. Und ich weiß, daß es kein Entkommen gibt. Komisch, daß es das einzige ist, was ich weiß.
Aber ich habe den Kampf aufgenommen. Ich will dieses Muster durchbrechen, denn ich möchte verstehen... Doch ich brauche Hilfe.
Deswegen dieser Hilfeschrei, der Seelenstrip meiner Ängste, denn ich möchte kein Freak mehr sein. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als daß Ihr, die Ihr verstanden habt, mich in eure Mitte nehmt und mit sinnlicher Stimme im Kollektiv zu mir sagt: Du bist einer von uns, du bist einer von uns...
Mein Name ist Cpr.Nobbs, und ich habe noch nie etwas verstanden.