Du entscheidest!
Hektisch stocherte Ben mit dem Schlüssel am Schloss des Schuppens herum, während Jo und Paula ungeduldig an seinen verschwitzten Rücken drängten und seine Nervosität damit noch steigerten. Der alte Schuppen, war ihr Lieblingsversteck gewesen, damals als Oma Martha noch lebte und Jule in Latzhosen auf ihrem blauen Roller fuhr. Ben wünschte sich, er hätte den Schlüssel unter dem Blumentopf über die Jahre einfach vergessen.
„Nun mach schon“, drängte Jo. Ben konzentrierte sich und plötzlich glitt der Schlüssel ins Schloss und die Tür öffnete sich. Paula drängte vor und knipste das Licht an. Es gab eine Werkbank, auf der ein umgestülpter Karton stand. Darüber eine Pinnwand mit Skizzen und daneben einen Arbeitsplatz mit Laptop. Während Jo die Zeichnungen an der Wand betrachtete, schaltete Paula den Computer ein. Ben hörte den Rechner mit leisem Surren hochfahren, als sein Blick zu dem alten Kinderroller wanderte, der hinter einem Regal in der Ecke hervorschaute. Es fühlte sich nicht richtig an, was sie hier taten, auch wenn Jule selbst schuld war. Keiner von ihnen hätte sich für ihr Projekt interessiert, wenn sie letzte Woche, als es wieder einmal um die FridayForFuture-Demos ging, nicht behauptet hätte, es wäre nötiger einen Schutz vor den Folgen des Klimawandels zu entwickeln, als zu demonstrieren. Für die Klemm war das natürlich eine Steilvorlage, ihnen wiederholt zu predigen, dass Politik nicht in die Schule gehöre und dass die Demos Schulverweigerung wären. Paula war ausgeflippt als Jule nichts dazu sagen wollte, was das denn für eine Super-Technik sein sollte und irgendwas von „Jugend forscht“ gemurmelt hatte. Klar, dass Paula Seitdem alles daran setzte, Jules Geheimnis zu lüften.
„Schaut mal hier.“ Jo hatte unter dem Karton auf der Werkbank ein Modell entdeckt. Eine Miniaturstadt unter einem Drahtgitter.
„Ist das etwa ein Bubble?“, fragte Paula, die durch die Dateien auf dem Computer scrollte. „Ihr Projekt heißt nämlich: Bubble-Technik als Schutz vor dem Klimawandel.“
Ben drehte den Laptop zu sich und überflog die geöffnete Projektbeschreibung:
Screen: Ein Bubble ist ein Energiegitter zum Schutz vor Umgebungsstürmen. In seinem Inneren besteht die Möglichkeit zur Wetteroptimierung. Das Energiegitter wird aufgebaut aus.....
„Krass! Wenn das wirklich funktioniert….“
„Was machst du hier?“
Er zuckte zusammen und drehte sich zur Tür. Dort stand Jule, zitternd, mit einem Schürhaken in der erhobenen Hand, die Augen dunkel vor Zorn.
„Hast du nicht zu dem Nerd aus der 12 b gesagt, dass du am Wochenende verreisen wolltest?“, fragte Paula, als ob das eine Entschuldigung für ihre Anwesenheit wäre.
„Der Nerd aus der 12 b heißt Julian und ich habe gesagt, dass meine Eltern am Wochenende weg sind.“ Obwohl sie zu Paula sprach, blieb ihr Blick weiter auf Ben gerichtet. „Wenn du schon meine Gespräche auf dem Schulhof belauscht, dann hör wenigsten richtig zu.“ Sie ließ die Hand mit der improvisierten Waffe sinken. Paula biss sich verlegen auf die Unterlippe und wurde rot.
„Wir wollten nur mal gucken. Wir wollen dein Projekt nicht sabotieren oder so“, versuchte Jo zu erklären.
„Mir doch egal. Es geht euch gar nichts an, was ich mache. Verschwindet!“
Ohne ein weiteres Wort verdrückten sich Jo und Paula zur Tür. Nur Ben blieb zurück. „Es tut mir leid. Du hast so geheimnisvoll getan und dann hab ich mich an den Schlüssel erinnert.“ Sein Blick glitt zurück zum Bildschirm. „Funktioniert das wirklich?“
„Wieso bist du so gemein?“ Ben sah, wie sich Jules Augen mit Tränen füllten. Sie wollte keine Antwort. Sie wollte nur, dass er ging: „Raus! Hau ab!“
Die Schuppentür knallte hinter ihm zu und Ben stand unschlüssig im Dunkeln des Gartens. Die Anderen waren nicht mehr zu sehen. Er schämte sich dafür, was passiert war und gleichzeitig fragte er sich, ob es wirklich möglich sei, ein Energiegitter aufzubauen, das vor negativen Umwelteinflüssen schützte. Aber Jule hatte ihm deutlich genug gemacht, dass er der Letzte war, mit dem sie über ihr Projekt reden wollte. „Wieso bist du o gemein?“ Sie gab ihm die Schuld für den Einbruch, nicht Paula oder Jo. Nur ihm.
„Hey. Hier rein!“ Ein Mädchen mit roten Haaren winkte ihn hektisch zu einer Kellertreppe herüber.
Ohne zu fragen folgte Ben dem Mädchen die Treppe hinunter durch einen dunklen Keller, dann eine schmale Treppe hinauf zu einer anderen Straße. Dort warf sie ihm einen grauen Umhang über die Schultern, um das fehlende Blinken an seinen Handgelenken zu überdecken, zerrte ihn zu einem Eingang am Ende des Blocks und bugsieren ihn die Feuertreppe hinauf in den dritten Stock. An der letzten Tür rechts klopfte sie zweimal lang, einmal kurz und schob ihn durch die sich öffnende Tür.
„Gut, du hast ihn. Und euch ist sicher keiner gefolgt?“ Der junge Mann, der die Tür hinter ihnen schloss, maß Ben mit kritischem Blick. „Wo ist der Fake-Chip? Und warum hast du nicht die Klamotten an, die wir dir geschickt haben?“
„Ich …, ich weiß nicht, was du meinst.“ Ohne auf Bens Gestammel einzugehen, drängten die beiden ihn in einen Wohnraum, in dem ein weiteres Mädchen die Straße auf mehreren Bildschirmen aufmerksam beobachtete.
„Die Suche wurde abgebrochen. Wir hatten noch mal Glück.“
„Das war knapp. Ihr müsst euch an die Regeln halten, sonst fliegen wir alle auf und die Illegalen, die wir mit gefakten Bewohner-Chips versorgt haben auch. Jemanden von den Outlands einzuschleusen, ist kein Spiel, verdammt. Darauf steht die Todesstrafe“, fauchte die Rothaarige und drückte ihn auf einen der Sessel.
„Was sind die Outlands? Wovon redet ihr? Wo bin ich denn überhaupt?“
Die drei Fluchthelfer erstarrten. Das Mädchen, das am Computer saß, sprang auf und fuhr mit einem Scanner über Bens Arm.
„Antik! Er ist ein Vorfahr! Krass, ich hab´ schon von Zeitreisen gehört, aber dass es die wirklich gibt.“ Das Mädchen starrte Ben ungläubig an.
„Dass du dich her traust, Vorfahr!“ Die Rothaarige baute sich drohend vor ihm auf. „Deinetwegen toben draußen die Unwetter und die Menschen in den Outlands sterben im Hochwasser. Nur wer sich´s leisten kann, ist sicher in dieser Scheiß-Bubble, mit künstlichen Tageszeiten, recyclebarer Einheitskleidung und mit Reisbrei zu jeder Mahlzeit. Aber jeder hier hat Angst vor einem Aufstand der Outlands. Denn dann ist es vorbei mit dem künstlichen Frieden. Und das ist alles nur deine Schuld.“
„Das ist nicht wahr!“, wollte Ben rufen und dem Mädchen erklären, dass seine Ma und er mit dem Fahrrad fuhren, statt mit dem Auto und dass sie Ökostrom kauften, doch dann fielen ihm die Tiefkühlpizzen ein, die er sich reinzog, wenn er zu faul zum Kochen war, der Flug nach Neuseeland, den er für nächstes Jahr nach dem Abi plante, die Stunden, die er vor dem Computer verzockte und er blieb stumm.
„Warum habt ihr nichts gegen den Klimawandel gemacht, als ihr noch konntet?“
Ben schämte sich. Was sollte er sagen? Die Wahrheit war einfach, aber erschreckend: „Ich denk´ da meistens gar nicht drüber nach. Es ist so einfach: ein Klick und die neue Jeans kommt zu dir nach Hause, Mikrowelle an und Lasagne rein, den Fernseher laufen lassen, bei den Hausaufgaben. Wenn du´s schlau anstellst, kostet ein Flug nicht mehr als ein T-Shirt, ist doch klar, dass dann alle fliegen.“
„Schön, dass dein Leben so einfach ist. Meins ist es nämlich nicht. Ich lebe hier illegal. Meine Eltern sind im Oderhochwasser in den Outlands gestorben. Also hau ab, Vorfahr! Verpiss dich!“ Die Rote zerrte Ben hoch und drängte ihn zur Tür.
„Aber wo soll ich denn hin? Wie komme ich wieder zurück?“
Mit einem dumpfen Knall flog die Tür auf und schwerbewaffnete Polizisten stürmten in Wohnung. „Auf den Boden! Auf den Boden! Haben wir euch endlich! Ich habe euch für schlauer gehalten. Diesem Scheißer mit seinem roten T-Shirt konnte man folgen wie einem Signalfeuer!“ Ein schwerer Stiefel trat Ben die Beine weg und er schlug schmerzhaft auf den Boden. Neben ihm lag das Mädchen mit den roten Haaren. Sie wehrte sich nicht, sie schrie nicht, sie weinte nicht, sie sah nur zu Ben und der Hass in ihren Augen war schlimmer zu ertragen, als die Tritte der Polizisten.
Er befreite sich von der Decke, schlüpfte in seine Shorts, zog ein frisches T-Shirt an und stürmte aus dem Haus. Obwohl es noch früher Morgen war, brannte die Sonne beruhigend heiß. Auf dem staubigen Weg sonnten sich Schmetterlinge und die Vögel schilpten in den Bäumen. Vor Jules Gartentor sprang Ben vom Rad. Auf dem Weg zum Haus wehte ihm süßer Fliederduft entgegen. Jules Oma hatte hier einen großen Gemüsegarten gehabt, Beerensträucher und Obstbäume. Und als sie die Arbeit nicht mehr alleine geschafft hatte, hatte sie sich den Garten mit Bens Mutter geteilt. Die Frauen hatten gesät, gehackt und gegossen, seine Ma mehr und Oma Martha immer weniger und er hatte mit Jule die sonnenwarmen Johannisbeeren vom Strauch gefuttert und mit der Katze gespielt. Jetzt war nur noch der alte Flieder von Oma Marthas Garten übrig. Den Rest hatten Jules Eltern nach ihrem Tod durch Rasen ersetzt auf dem jetzt ein kleiner Mähroboter seine Runden drehte. Ben fragte sich, ob alles anders gekommen wäre, wenn seine Ma nicht so leidenschaftlich gegen die Zerstörung von Marthas Garten protestiert hätte. Dann hätten Jules Eltern ihnen vielleicht kein Hausverbot erteilt und Jule und er wären Freunde geblieben, statt den Streit ihrer Eltern auszutragen und sich gegenseitig zu beschimpfen.
Während Ben gegen die Terrassentür hämmerte, überlegte er, was er tun sollte, wenn sie nicht aufmachte? Und was sollte er sagen, wenn sie aufmachte? Im ersten Stock erschien Jules Kopf im Fenster vom Schlaf verwuschelt und mit einer Zornesfalte zwischen den Brauen, als sie ihn entdeckte. „Spinnst du jetzt ganz?“
„Ich muss mit dir über dein Projekt reden. Es ist wichtig. Wirklich.“ Das Fenster wurde geschlossen. „Jule, bitte mach auf.“ Die Lautstärke seiner Stimme in der Morgenstille ließ Ben zusammenzucken. Doch dann dachte er an das Mädchen mit den roten Haaren und brüllte, so laut er konnte: „Sonst schreie ich so lange, bis du aufmachst.“
„Nicht nötig!“ Jule stand in Shorts und Shirt mit nackten Füßen in der geöffneten Tür, die langen braunen Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden. Ihre Augen waren noch müde, aber die Zornesfalte war verschwunden. „Kaffee?“
Ben nickte und noch während sie mit der Kaffeemaschine hantierte, erzählte er ihr seinen Traum. Kommentarlos stellte sie die Tassen auf den Terrassentisch, ließ sich in einen der Korbsessel fallen, zog die Beine unter und nippte an ihrem Kaffee. „Du hattest einen Alptraum. Na und? Was hat das mit mir und meinem Projekt zu tun?“
„Verstehst du denn nicht? Wenn deine Bubble wirklich funktioniert, wird sich niemand mehr um Klimaschutz kümmern, dann werden alle nur noch daran arbeiten, die Bubble zu bauen. Aber die wird sich nicht jeder leisten können. Also gibt es auch das Outland und Menschen, die den Klimafolgen ungeschützt ausgesetzt sind.“
„Das ist doch Quatsch. Nur weil man in den Bubbles sicher wäre, heißt das doch nicht, dass die Politik keinen Klimaschutz mehr betreiben muss.“
„Aber so war es doch immer. Sobald es eine Technik gab, die das Leben einfacher machte, haben die Menschen sie genutzt ohne Rücksicht auf die Folgen. Denk doch nur an die Atomenergie. Jedem war klar, wie super gefährlich sie ist und trotzdem wurden die Kraftwerke gebaut.“
„Und jetzt können wir nicht mehr zurück. Durch all die Energie ist unser Leben so einfach geworden. Die Leute wollen sich nicht einschränken. Was ist, wenn wir´s nicht schaffen mit dem Klimaschutz? Dann brauchen wir die Bubble. Sie muss nur groß genug sein für alle Menschen. Dann gibt es kein Outland.“
„Du weißt, dass die Bubble nur was für reiche Gegenden ist. Und selbst wenn wir alle Menschen in Bubbles unterbringen könnten, dann muss alles künstlich gesteuert werden. Und wer will und kann entscheiden, wie warm die Luft sein soll, wieviele Stunden Sonne es am Tag geben soll, ob wir Mücken in der Bubble brauchen, oder nicht. Wie soll das gehen? Wir Menschen verstehen ja nicht mal uns selbst, wie wollen wir dann eine ganze Welt erschaffen?“
„Wir können doch einfach alles so lassen, wie es ist und nur einen Schutzschirm drum machen.“
„Werden wir aber nicht. Wenn es die Möglichkeit gibt, alles zu steuern, wird es auch gemacht. Es wurden sogar Schweine mit einer zusätzlichen Rippe gezüchtet, nur um mehr Fleisch zu produzieren. Glaubst du wirklich, die Welt in der Bubble würde so bleiben, wie sie ist? Mit Hagel und Regen, mit Mücken, Flöhen und Kakerlaken?“
„Du meinst also ich sollte mein Projekt nicht einreichen?“
„Ich meine, du solltest noch einmal darüber nachdenken. Es ist dein Projekt. Du entscheidest.“
Es war alles gesagt und Ben fühlte sich besser. Der Traum verblasste. Er sah, wie es in Jules Kopf arbeitete. Schon als kleines Mädchen hatte sie dieses besondere Stirnrunzeln und Ben spürte plötzlich, wie sehr er sie die ganze Zeit vermisst hatte.
„Kommst du am Freitag mit zur Demo?“
„Mit dir? Und Paula?“
„Paula ist bloß ein Kumpel.“
„Und wenn ich das Projekt doch einreiche?“
„Kannst du doch trotzdem demonstrieren!“