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Du darfst noch nicht gehen
Eine kühle Brise wehte der jungen Frau durchs Haar und trocknete die Tränen in ihrem Gesicht.
Grace Summers war grade Zeugin eines Autounfalls geworden.
Der Kleinwagen war von der Straße abgekommen und in einen Baum gerast.
Automobil und Natur verschmolzen somit zu einem skurrilen Kunstwerk, das Grace eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
Auf der Straße hatte sich ein Menschenknäuel gebildet.
Eine alte Frau und ihr Ehemann standen wie angewurzelt da und hielten sich die Hand vor den Mund.
Ein paar Jugendliche liefen aufgeregt hin und her und schauten neugierig auf den zusammengepressten Haufen Schrott vor ihren Augen.
Schmutziger Qualm quoll durch die zersprungenen Fensterscheiben ins Wageninnere und verdeckte die Sicht.
Vielleicht war es auch besser so, dachte sich Grace.
Keiner dieser Menschen hier kannte das Opfer. Niemand würde der armen Seele helfen oder ihr beistehen können.
In einiger Entfernung konnte Grace das dumpfe Geräusch einer Sirene hören. Der Notarzt war unterwegs. Vielleicht konnte er noch helfen.
Die junge Frau stand abseits der Menschenmenge auf dem Gehweg. Sie wurde hier nicht gebraucht. Und es war auch nicht ihre Angelegenheit.
Und trotzdem weinte sie. Obwohl sie das Opfer nicht kannte zitterte sie am ganzen Körper.
Niemand schien sie bemerkt zu haben. Keiner beachtete sie. Die Menschen vor ihr waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als das sie sich noch um die junge Frau hätten kümmern können.
Und so wendete sich Grace ab und lief den Gehweg entlang.
Die ganze Szene war ihr so bekannt. Sie hatte das alles schon einmal erlebt. Nur war es damals anders gewesen.
Sie hatte sich mit ihrem Freund gestritten und war grade auf dem Weg zu ihm, um sich zu entschuldigen.
Auf halber Strecke bemerkte sie plötzlich die roten Lichter auf der Straße.
Es dämmerte bereits und so hatte sie nicht viel erkennen können.
Erst als sie an der Menschentraube und dem Krankenwagen vorbeilief, bemerkte sie am anderen Straßenrand den ausgebeulten und völlig verschrotteten Porsche.
Grace blieb stehen und drehte sich noch einmal um.
Die Tränen trübten ihren Blick.
Ihr erster Gedanke damals war der Autokauf mit Will gewesen.
Wie ein kleiner Junge hatte er sich auf den schwarzen Porsche gefreut. Will hatte ihn geliebt wie eine Mutter ihr Kind liebte.
Grace musste lächeln.
Alle zwei Tage hatte er ihn gewaschen und poliert. Es kam immer wieder zu kleinen Streitigkeiten, wenn Grace es mal wagte ein Eis in seinem Wagen zu essen.
Will sprach das zwar nie aus, aber er achtete bei der Fahrt immer penibel darauf, das sein Sitzleder von eventuellen Schokoladenflecken verschont blieb.
Nach ein paar Monaten normalisierte sich sein Verhalten allerdings wieder.
Grace stand da und schaute wie paralysiert auf den demolierten Wagen.
Will würde verdammt traurig sein, wenn er sein „Baby“ so sehen könnte.
Vielleicht war es der Schock, oder vielleicht wollte es Grace auch einfach nicht wahr haben.
Sie lief einfach weiter. Sie schaute weder auf das Nummernschild des Autos, noch schenkte sie dem leblosen Körper auf dem Asphalt irgendeine Beachtung.
Die Ärzte hatten ein weißes Tuch über die Leiche gelegt.
Ein paar Schaulustige standen am Straßenrand und beobachteten die Arbeit der Notärzte mit einer perversen Neugierde.
Grace aber lief weiter. Von hier aus waren es sowieso nur noch fünf Minuten bis zum Haus von Wills Eltern.
Er hatte stets ein gutes Verhältnis zu ihnen gehabt. Eigentlich wohnten Will und Grace zusammen.
Sie hatten sich ein schönes, kleines Haus gebaut. Will arbeitete als Anwalt und Grace war Hotelfachangestellte in einem fünf Sterne Hotel.
Zusammen verdienten sie ziemlich viel Geld und so war es auch möglich gewesen das Haus zu finanzieren.
In den letzten Monaten waren beide extrem knapp bei Kasse gewesen. Das Haus und die Einrichtung verschlangen Unmengen an Geld.
Wills Eltern hatten sie allerdings gut unterstützt, wofür Grace auch sehr dankbar war.
Wenn sich die beiden mal wieder gestritten hatten, konnte sich Grace immer bei Wills Mutter ausweinen, während ihr Ehemann Jack mehr der Ansprechpartner für Will war.
Grace hatte keinen Kontakt mehr zu ihren leiblichen Eltern. Aber sie war so dankbar, dass sich ihre zukünftigen Schwiegereltern so liebevoll um sie kümmerten.
Als sie damals kurz vor Wills Elternhaus stand und die Polizisten sah, die sich grade mit Karen unterhielten, wurde ihr plötzlich ganz anders zumute.
Ihr Herz wurde von einer kalten Hand gequetscht.
Ihr war so, als würde es jeden Moment in tausend Teile zerspringen.
Wills Mutter war schon längst in die Arme ihres Ehemanns gefallen.
Grace konnte nicht zu ihnen gehen. Sie musste zurück zu ihrem geliebten Will.
Sie war einfach an ihm vorbeigelaufen. So als wäre er ein Fremder gewesen.
Er lag auf dem kalten Asphalt und war alleine.
Sie konnte ihn doch nicht einfach alleine lassen...
Grace war schon ein paar hundert Meter weit gelaufen. Die Unfallstelle war von hier aus kaum noch zu sehen.
Die junge Frau zitterte noch immer. Sie hatte zwei Jahre lang versucht mit dem Verlust ihres Mannes fertig zu werden.
Die Familie war daran zerbrochen.
Anfänglich hatten sie alle zusammen getrauert. Heute jedoch versuchte jeder für sich selber den Verlust zu verarbeiten.
Karen hatte sich sehr verändert. Sie war krank geworden und sprach nicht mehr viel.
Jack versuchte stark zu sein und sich nichts anmerken zu lassen, aber Gott allein wusste wie es in seinem Inneren aussah.
Grace hatte ihre Arbeit verloren. Das Haus wurde verkauft und zurzeit lebte sie in einer Dreizimmer Wohnung.
Das Geld allerdings reichte kaum noch aus.
Manchmal schämt sie sich für das, was aus ihr geworden war.
Ein paar mal hatte sie ernsthaft darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen.
Sie beschäftigte sich nur noch mit Will und der Vergangenheit.
Dieser Mann war für sie die große Liebe gewesen. Sie war innerlich schon längst bei ihm.
Sie lebte ausschließlich für die Vergangenheit. Lebte nur noch die Erinnerung an ihren Schatz.
Plötzlich wurde Grace aus ihren Gedanken gerissen.
Vor ihr raste ein Fahrradfahrer über den Weg. Ein älterer Mann mit grünem Anorak.
Er fuhr genau auf Grace zu, aber verminderte sein Tempo nicht.
Die junge Frau sprang im letzten Moment zur Seite ins Gras.
„Verdammt noch mal Mister, haben sie denn keine Augen im Kopf?!“, schrie sie ihm hinterher.
Grace hievte sich schwerfällig auf die Beine und schaute dem Fahhrad hinterher.
Der Fahrer machte keine Anstalten sich bei der Frau zu entschuldigen. Er drehte sich noch nicht einmal um, sondern fuhr mit gleichem Tempo weiter.
Grace schaute ihm nach und schüttelte den Kopf.
Dann spürte sie plötzlich eine Hand auf ihren Schultern.
„Geht es dir gut?“, fragte eine ihr wohl bekannte Männerstimme.
Grace stöhnte laut auf und presste ihre Hand vor den Mund.
„Will?“
Der Mann machte nun ein paar Schritte nach vorne und stellte sich vor Grace.
Diese hatte die Augen geschlossen.
Eine vereinzelte Träne lief ihre Wange hinunter.
Sie spürte, wie ihr der Mann mit dem Handrücken über die Wange wischte.
„Was gibt es denn da zu weinen? Ich dachte du freust dich eventuell.“
Wills Stimme klang so warm und herzlich.
Wie sehr hatte Grace das vermisst. Wie oft hatte sie sich gewünscht, ihn noch einmal sprechen zu hören.
Dann öffnete sie die Augen.
Die Tränen trübten ihren Blick, aber nach und nach schärften sich die Konturen.
Grace fing laut an zu schluchzen. Im selben Moment rannen ihr Tränenflüsse über die Wangen.
Diese Augen. So rehbraun und ehrlich. Seine vollen Lippen und dieses wunderschöne, verschmitze Lächeln. Die kurzen, strubbeligen dunklen Haare.
„Will, was...was ist los mit mir?“
Grace machte ein paar Schritte nach vorne. Ihre Handflächen berührten sein Gesicht.
Ihre Finger glitten über seine Nase und seine Lippen. Sie streichelte seine Wangen.
Dann presste sie sich wieder die Hände vor den Mund und starrte ihn ungläubig an.
„Ich...ich muss langsam aber sicher verrückt werden. Du kannst nicht hier sein, du bist doch tot.“
Grace drehte sich um und versuchte wegzurennen.
Ihre Beine waren schwach und zittrig.
„Wo willst du hin Spatz?“
Will packte seine Frau am Arm.
„Sieh mich an Grace, ich bin real. Sonst könnte ich dich wohl schlecht festhalten oder?“
Grace versuchte sich zu beruhigen und drehte sich wieder um.
„Und jetzt hör mir gut zu Grace. Ich beobachte dich schon eine ganze Weile. Ich bin seit meinem Tod nicht von deiner Seite gewichen.“
Grace Körper wurde von Weinkrämpfen geplagt, ihre Stimme brach mitten im Satz zusammen.
„Wie ist das möglich? Was geht hier eigentlich vor?“
Die junge Frau warf sich in die Arme ihres geliebten Mannes.
Sie konnte seinen Duft riechen. Dieser wunderbare Duft, der nach und nach aus ihrem Leben verschwunden war.
Auch Will drückte seine Frau aufrichtig und innig. Wie sehr hatte er sich gewünscht, endlich mit ihr reden zu können.
„Hör zu Grace, wir haben nicht viel Zeit.“
Will drückte sein Mädchen ein Stück weit von sich weg und hielt ihre Schultern fest umklammert.
„Weißt du Grace, ich habe dich damals gesehen. Du weißt schon...der Unfall.
Du bist einfach an mir vorbei gelaufen. Ich habe dich gerufen aber du hast mich nicht gehört.“
Will kullerte nun ebenfalls eine Träne über die Wange.
„Ich bin dir nachgelaufen weißt du. Das ganze Stück, bis zum Haus meiner Eltern.“
Grace war völlig verwirrt. Sie wusste nicht was sie von den Worten ihres Mannes halten sollte.
„Ich hab gedacht, du bist immer noch böse auf mich wegen diesem lächerlichen Streit und würdest deshalb kein Wort mit mir wechseln.“
Will unterbrach den Satz und schaute seiner Frau tief in die Augen.
„Bis ich gemerkt habe Grace, warum mich keiner wahrnimmt...“
Der junge Mann schaute auf den Boden. Seine Stimme bebte.
„Ich bin den ganzen Weg mit dir zurückgelaufen Grace. Ich habe gesehen wie du auf der Straße lagst und um mich geweint hast.“
Grace war einer Ohnmacht nahe, so viele Gedanken schossen ihr in diesem Moment durch den Kopf.
Grace versenkte ihren Kopf an Wills Brust und umklammerte seinen Körper.
„Ich will nie wieder von dir getrennt sein Will.“
Der junge Mann strich seiner Freundin eine blonde Strähne aus dem Gesicht und küsste ihre Stirn.
„Wir werden nie getrennt sein...wir gehören zusammen Spatz. Für immer und ewig.“
Will schaute den langen Gehweg hinunter. Zwischen ein paar Bäumen konnte er das Licht des Krankenwagens erkennen.
„Aber vorher will ich, dass du meinen Eltern sagst das es mir gut geht...wirst du das machen Spatz?“
Grace schaute ihn fragend an.
„Bist du ein Geist Will? Sag mir, wie können wir zusammen sein wenn ich lebendig bin und du tot?“
Will ging ein paar Schritte zurück und drehte sich um.
„Komm mit mir Grace, lass uns ein wenig spazieren gehen.“
Er streckte seine Hand aus und lief in die Richtung, aus der Grace grade eben gekommen war.
Die junge Frau griff nach der Hand ihres Freundes und kuschelte sich an seine Schulter.
„Wie lang können wir jetzt zusammen sein Schatz? Wenn du tot bist, dann will ich auch nicht mehr leben hörst du...wenn wir dann endlich wieder zusammen sein können.“
Will lächelte seine Frau liebevoll an.
„Ich habe dir doch gesagt Spatz, ich bin dein ganzes Leben lang an deiner Seite. Du wirst mich nie bewusst wahrnehmen, aber ich bin immer bei dir.“
Wills Lächeln gefror augenblicklich.
„Ich kann es nicht mehr mit ansehen, wie du dich meinetwegen quälst. Das Schicksal wollte es so. Ich lasse nicht zu, das du dein Leben wegwirfst nur weil du dich mir gegenüber verpflichtet fühlst.“
Will blieb stehen und drückte seine Frau ganz feste an sich.
„Du wirst jetzt da runter laufen Grace. Geh zu meinen Eltern und sag ihnen, dass ich sie sehr lieb habe.“
Will schloss die Augen und setzte wieder sein verschmitztes Lächeln auf.
„Und bitte gib den beiden einen Tritt in den Hintern. Sie sollen endlich wieder anfangen zu leben. In Urlaub fahren und es sich gut gehen lassen.“
Grace versuchte jetzt ebenfalls zu lächeln.
„Sie werden mir nie glauben was hier passiert ist Will.“
Die junge Frau schaute traurig auf den Boden.
„Ich kann es ja selber kaum glauben...“
Will kratzte sich nachdenklich am Kinn.
„Kein Problem Spatz. Weißt du, ich sehe meine Mutter oft am Grab sitzen. Sie hat die Angewohnheit Tagebuch zu führen. Einmal habe ich ihr Tagebuch gefunden als ich klein war. Sie hat mir dann manchmal was daraus vorgelesen.“
Will schmunzelte wie ein kleiner Junge.
„Damit hat sie nach meinem Tod wieder angefangen Grace. Sie sitzt vor meinem Grab und liest mir Gedichte vor. Sag ihr bitte, dass ich sie sehr schön finde und mich immer wieder freue sie zu hören. Sag ihr bitte, das Gedicht mit dem Namen „Will und Grace“ gefällt mir am besten...“
Grace war wieder in Tränen ausgebrochen. Sie war so überglücklich und froh ihren Mann wieder zu haben.
„Und nun geh bitte Grace. Lauf den Weg zurück den du gekommen bist und lebe noch ein glückliches Leben, zusammen mit Mama und Papa. Du musst wissen Gracie, sie lieben dich wie ihre eigene Tochter.“
Will gab seiner Frau einen langen und zärtlichen Kuss.
„Und nun geh bitte. Wir sehen uns schon bald wieder.“
Als Grace die Augen wieder aufmachte war Will verschwunden. Vor ihr lag bloß dichter Nebel. Ein paar Hundert Meter entfernt konnte sie die roten Lichter des Krankenwagens erkennen.
War das alles nur ein Traum gewesen? Einbildung vielleicht?
Sie wusste es nicht. Ebenso überrascht war sie von diesem starken Nebel, der urplötzlich die Umgebung um sie herum verschlungen hatte.
Sie beschloss zurückzulaufen...
*
Nach ein paar Hundert Metern kam sie wieder an der Unfallstelle vorbei.
Sie musste an die Worte von Will denken. Sie dachte wieder an damals und plötzlich übermannte sie ein überwältigendes Gefühl.
Der rote Kleinwagen, der mit dem Baum verschmolzen war trug das Kennzeichen „GS“...
Grace presste sich eine Hand vor den Mund und überquerte die linke Straßenseite.
Die Passanten sahen sie nicht. Sie blickten durch sie hindurch. Hörten ihre Rufe nicht.
Grace versuchte zur Unfallstelle vorzudringen. Aber die Menschenmenge machte keine Anstalten sie durchzulassen.
Sie versuchte die Leute auf sich aufmerksam zu machen, doch keiner kümmerte sich um die junge Frau.
Grace ging einfach so durch die Körper hindurch...bis sie dann plötzlich auf dem Asphalt in ihr eigenes Gesicht blickte.
Die Notärzte hatten sich um ihren schlaffen Körper versammelt und versuchten sie wiederzubeleben.
Grace kannte nun auf einmal die ganze Wahrheit. Sie wusste jetzt, was Will ihr vorhin versucht hatte zu erklären.
Sie drehte sich noch einmal um und erblickte weit Abseits auf dem Gehweg ihren Liebsten.
Er lächelte sie an und hob seine rechte Hand zum Abschied.
Grace hauchte ihm einen Kuss zu und legte sich danach zu der leblosen Hülle auf die Straße.
Wie gerne wäre sie hier bei ihrem Liebsten geblieben...für immer und ewig.
Dafür war sie gegen den Baum gefahren.
Sie wollte genauso sterben wie einst ihr über alles geliebter Mann.
Jetzt hatte sie allerdings eine Pflicht zu erfüllen.
Das Leben wartete auf sie. Karen und Jack warteten ebenfalls.
Sie würde mit ihren Schwiegereltern zusammen weiterleben.
Will war die ganze Zeit bei ihr. Sie konnte es sich nicht erklären, aber irgendwie war sie sich dessen immer bewusst gewesen...