Du bist wie sie
In dem grellen Licht der Neon röhre wirkt dein Gesicht fahl und blass.
Du betrachtest es. Schaust auf die weichen, haselnussbraunen Haare, die dein Gesicht umgeben wie ein Rahmen. Du magst sie. Wenn du nicht gesehen werden willst, lässt du deinen Vorhang fallen und das Haar versteckt deine großen grauen Augen, deine Wangen mit den vielen Sommersprossen, deine kleine Nase und die roten schmalen Lippen, wie die Wellen den Meeresgrund.
Aber heute musst du dich nicht verstecken, heute bist du allein mit dir und deinem Spiegelbild.
Du betrachtest deinen Körper. Schaust auf deine kantigen Schultern, auf deinen langen Hals, dein hervortretendes Schlüsselbein über dem sich blass, zarte Haut spannt. Lässt deinen Blick über deine Taille, dein Becken, deine schlanken Beine, bis hin zu den winzigen Füßen schweifen.
Früher hattest du Probleme mit deinem Körper. Heute ist er dir gleichgültig.
Wie so vieles.
Behutsam streichst du über das gelbliche Gebilde, das kreisförmig unterhalb deiner Rippe entstanden ist. Erst war es blau und groß, jetzt wird es immer schwächer, bis es verschwindet und niemand mehr die Stelle finden kann an der es war.
Der Bluterguss wird unsichtbar aber die Narbe in deiner Seele bleibt. Für immer.
Das ist das einzige was dir nicht gleichgültig ist, was dein Interesse weckt.
Die neue Fessel, die Last deines Lebens.
Jegliches Bewusstsein für alles was einmal wichtig war ist verschwunden, so über und über vernarbt ist deine Seele.
Mit jedem Schlag, jedem Tritt, jeder ungerechtfertigten Beschuldigung, jedem Vorwurf, jeder Beleidigung ist etwas in dir zerbrochen. Am Anfang hast du versucht deine Wunden zu heilen, aber die Wunden wurden mehr und du warst zu langsam und zu müde als das du deine Seele hättest pflegen können.
Du lässt deinen Finger an dem blanken Badezimmerfenster entlang wandern, über den Wiesenpfad hinunter zum Bach. Du gehst kaum noch aus dem Haus, das ist sicherer.
Die Sonne scheint auf das Fenster, es ist Mittag und sie steht hoch am Himmel. Rund und gesund. Sie scheint direkt auf deine kalten Hände, doch sie erreicht dich nicht.
Die Einsamkeit ist schlimm. Du siehst wie Freunde dir den Rücken kehren und bist machtlos. Freundschaft erfordert Intimität. Geheimnisse lassen kein Vertrauen zu.
Du bist kaputt. Und so schwach. Warst du schon immer.
Du resignierst und ich gewinne.
Ich finde dich, wie du auf den weißen, quadratischen Badezimmerkacheln kauerst. Du schaust auf, dein Blick trifft meinen und ich sehe eine einzelne Träne auf deiner Wange glitzern. Ich streiche eine Haarsträhne aus deinem Gesicht, du zuckst zusammen.
Ich beuge mich zu dir hinunter und flüstere mit meinem heißen Atem in dein kaltes Ohr: „Nicht doch. Traurig sein ist leicht, weil es aufgeben bedeutet. Nimm dir Zeit, tanze, mit deinem Kopf in der Luft.“
Dann hole ich aus und schlage zu. Mein Schlag trifft deinen Kopf. Er wirbelt herum und schlägt hart an die weiß getünchte Wand. Es tut gut. Wenigstens das ist dann von mir, wo du doch sonst alles, alles von deiner Mutter hast.