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Du bist nicht perfekt
Du bist nicht perfekt
Ich hatte dich schon immer gehasst, als du mir zum ersten Mal begegnet warst. Schon als die Lehrerin dich vorstellte, habe ich begonnen dich zu hassen. Destiny. Du konntest alles besser. Sogar den Lehrern hast du den Kopf verdreht, nicht nur den pubertierenden Jungs. Ich habe es gehasst, wie du deine blonde Mähne immer über die Schulter geworfen hast, wie du geschmeidig den Schulflur entlang gegangen bist und dein Po sich im Takt bewegte. Leider warst du keine blöde Vorzeige-Blondine. Englisch konntest du fließend, Mathe machtest du spielerisch und überhaupt war die Schule für dich ein Klacks. Alle fanden dich sympathisch. Niemand hat dir gegenüber etwas Böses gesagt. Ich hätte gerne Böse über dich geredet. Aber was hätte ich sagen sollen?
Ich konnte es nicht glauben, dass du so perfekt warst. Also stieg ich dir nach. Die ersten paar Tage beobachtete ich dich nur in der Pause. Da standest, du in der Clique der besonders netten Menschen. Hast gelacht, deinen kalorienarmen Saft getrunken und natürlich deine Haare hintergeworfen. Ich ging aufs Klo und betrachtete mich im Spiegel. Ich war nicht so perfekt. Ich hatte mir vor kurzem meine Haare kurz schneiden lassen. Sie waren schwarz und ich wirkte jungenhaft. Aus meiner Schultasche holte ich Zettel und Stift und notierte: Destiny, noch immer perfekt.
Nach drei, vier Tagen beschloss ich, dich auch nach der Schule zu beobachten. Es rentierte sich, denn schon am selben Tag sah ich, wie du gemütlich alleine (!) das Schulgebäude verließt, durchs Stadtzentrum schlendertest und in einem unbeobachteten Moment dir eine Zigarette anzündetest. „Sie raucht! Wie, wie… böse!“ Ich holte meine Zigarettenschachtel ebenfalls raus und zündete mir eine Kippe an. Leider hatte ich dich in diesem Moment verloren.
Am nächsten Tag warst du mir nicht unbedingt sympathischer. Ich sah dich nämlich mit Rick aus der Parallelklasse Händchenhalten am Pausenhof. Ich hätte fast kotzen können. Ich rannte aufs Klo und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. „Sie ist mit meinem imaginären Freund zusammen!“ Ich biss auf meiner Lippe rum, bis sie blutete. Meine Hassgefühle für dich steigerten sich.
Nach der Schule sah ich wieder das gleiche wie am Tag zuvor, aus der Schule raus, ins Stadtzentrum und Kippe an. Weiter sah ich, wie du ein Café betreten hast. Nach kurzem Nachdenken folgte ich dir. Drinnen wartete anscheinend schon jemand auf dich. Ein Junge. Na ja, eigentlich schon ein Mann. Er war Mitte zwanzig und begrüßte dich herzlich. Er gab dir einen Zungenkuss. Verdutzt lugte ich über meine Karte. Sie geht fremd? Sie hintergeht Rick? Ist ihr ein Typ nicht genug? Nachdem ich mich beruhigt hatte, konnte ich feststellen, dass ich einen zweiten Punkt eintragen konnte: Sie geht fremd. Dein Perfektheitsgrad nahm ab. Und ich freute mich. Neugierig sah ich, wie er dir irgendwas über den Tisch schob. Pillenähnliches Zeug. Irgendwas in einem kleinen Plastikbeutelchen. „Sie nimmt Drogen?“
Als mir am nächsten Tag wieder schlecht geworden war, nachdem ich dich mit Rick gesehen hatte, verschwand ich im Klo, um mich abermals im Spiegel zu betrachten. Dabei ist mir entgangen, dass du nach mir ebenfalls das Klo betreten hattest. Ich hörte nur Würggeräusche und anschließend leichtes Schniefen. Die Tür wurde aufgeschlossen und du kamst raus. Hattest einen vernebelten Blick und hast getaumelt. Ich war noch nie mit dir alleine in einem Raum gewesen. Wir sahen uns an und konnten mit der Situation nichts anfangen. Wir gingen in eine Klasse und hatten noch nie ein Wort miteinander gewechselt. Also drehte ich mich um und ging raus. Erst später fiel mir ein, wie fertig du ausgesehen hast.
Ich spionierte dir noch einige Tag nach, aber es geschahen immer die gleichen Dinge, du rauchtest, bekamst irgendwas von deinem Mit-Zwanziger-Freund und trankst dann mit ihm ein Bier. Natürlich entging mir dein Würgen nicht und mir entging auch nicht, dass du auf Drogen warst. Aber so wie mir Sachen nicht entgingen, entging dir auch nicht, dass ich dir nachstieg. Jetzt sitze ich hier mit dir in diesem Café. Dein Freund war gegangen und du sitzt mir gegenüber. Ich empfinde nichts.
„Was geht’n mit dir?“ Sich nahm einen Schluck aus dem Bier. „Bist du vielleicht so ’ne kleine Perverse? Oder ist mein Leben so interessant, dass du mir seit zwei Wochen nachrennst?“ Am liebsten würde ich jetzt meinen Notizblock rausholen: Hat eine böse Umgangsart.
„Jetzt red’ schon!“ Schrie sie mich fast an, weil ich nur verdattert da sitze und hoffe dass sie von mir ablassen wird.
„Na gut, also, es ist so. Ich fand dich zu perfekt-“
„Was? Spinnst du? Deswegen musst du mir gleich nachrennen? Wie kommst du drauf, dass ich perfekt bin?“
„Na, schau dich doch an! Deine verdammt blonden, langen Haare, deine Figur, dein Gesicht! Du schreibst lauter gute Noten! Dich mag jeder und bist außerdem mit dem Typen der Schule zusammen. Man, scheiße, wenn man das nicht perfekt nennen kann. Weiß auch ich auch nicht.“ Sie schüttelt nur mit ihrem Kopf und gibt ein „tz tz“ von sich.
„Na, dann haben dir die letzten zwei Wochen ja was anderes gezeigt, was?“ Sie zündete sich ne Kippe an. „Ich rauche.“ Sie sah ihre Lucky Strike an. „Ich nehme Pillen zum Konzentrieren. Ich schlafe mit einem Typen, damit ich da rankomme, da ich schon leicht süchtig bin. Das Zeug nehme ich, damit ich gut in der Schule bleibe, sonst verprügeln mich meine Eltern und schmeißen mich aus’m Haus. Und meine Figur? Ich hab Bulimie.“ Sie sieht mich belustigt an und fängt dann an zu lachen. „Ach und Rick,… der ist schwul. Er hat mich gefragt, ob ich denn seine Scheinfreundin sein will, damit seine Homosexualität nicht rüberkommt. Und noch was. Ich bin nicht wirklich bei allen beliebt und die, bei denen ich „beliebt“ bin, … denkst du wirklich, das sind wahre Freunde?“ Das alles war wie ein Schlag ins Gesicht und ich brachte nur vier jämmerliche Worte hervor:
„Es tut mir leid.“
„Was soll dir denn leid tun? Mir tut nur eins leid, mein Name! Wie kann man nur Destiny heißen? Sag mir das bitte mal einer?“ Wir lachen beide und halten uns die Bäuche. Ach man, sie hat sogar Witz. Aber das gefällt mir.
Nach diesem Gespräch kam Destiny immer seltener zur Schule und wenn, hatte sie blaue Flecken. Ich war die einzige der sie erzählt hat, was los war. Ihr Vater ist ausgerastet, als er erfuhr, dass sie einen fünfundzwanzigjährigen Freund hatte. Sie nahm es auf die leichte Schulter. „Hey“ sagte sie dann immer zu mir „der verreckt auch irgendwann.“ Ich rang mir dann immer ein Lächeln ab. Leider wurde sie psychisch immer schwächer, und starb kurz vor dem Abschluss an einer Überdosis. Erst nach ihrem Tod erkannte ich, wir unperfekt sie war. Sie hatte so viele Schwächen, dass ich manchmal dachte, sie wäre eine Schwäche für sich. Was mich zu tiefst erschütterte, war die Teilnahmslosigkeit ihrer „Freunde“ nach dem Tod. Zur Beerdigung kamen nur ihre Eltern, enge Verwandte, Rick und ich. Wir standen beide beisammen und hielten uns gegenseitig die Hand. Verbittert und böse sah ich Destiny’s Vater an. „Arschloch“ dachte ich.
„Glaubst du, sie kommt in den Himmel?“ Fragte mich Rick wie ein Kleinkind, als wir gemeinsam Heim gingen.
„Natürlich.“ Ich sah gen Himmel „Sie war doch perfekt.“