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Du bist dran
„Ey, schaff dein Rad da weg!“ Mit quietschenden Reifen stoppte Tobias direkt neben Andy. „Das hier ist mein Ständer.“
„Dein Ständer?“ Andy staunte.
„Bist du schwer von Begriff? Schaff! Dein! Rad! Weg!“ Mit seinem Vorderrad rempelte er gegen Andys Schutzblech. Es schepperte.
„Meine Güte, Tobias. Andy ist neu hier“, rief ich herüber. „Woher soll er denn wissen, dass du einen Stammplatz hast?“
Langsam löste Andy den Vorderreifen aus den Bügeln und schob sein Rad rückwärts.
„Jetzt weiß er es.“ Tobias rammte sein Rad in den Ständer.
Andy streckte ihm die linke Hand entgegen. “Ich möchte mich bei dir dafür entschuldigen, dass ich deinen Ständer benutzt habe.“
„Hau ab und mach das bloß nicht noch mal.“
„Dann halt nicht.“ Andy zuckte mit den Schultern und ließ sich, auf einem Pedal stehend, zu mir herüber rollen. „Ist der immer so?“
Mit dem Schlachtruf „Runde! Runde! Runde!“ rannten wir zu Beginn jeder Pause zu unserer Tischtennisplatte. Meine Mutter hatte mir einen Schläger gekauft, damit ich mitspielen konnte. Mit dem ersten Ballkontakt, spätestens aber mit dem Zweiten, flog ich jedes Mal wieder raus. Mir war das egal, denn alle spielten mit. Alle außer Andy.
„Hey Andy! Tobias sagt, du kannst gar nicht Tischtennis spielen.“
„Was Tobias über mich erzählt, interessiert mich nicht.“
„Möchtest du meinen Schläger leihen? Dann kannst du es ihm beweisen“, hatte ich ihn gefragt, aber er hatte nur abgewunken. Sein Blick klebte an den Seiten seines Buches.
„Du könntest auch das Buch nehmen.“
„Bücher sind zum Lesen da und nicht zum Tischtennis spielen.“
Begleitet vom Pausengong kehrten wir in unseren Klassenraum zurück. Mein Blick fiel sofort auf Andys aufgeklapptes Deutschheft. Jemand hatte die Seite mit der Hausaufgabe herausgerissen und in kleinen Fetzen über sein Heft gestreut.
„Sehr einfallsreich“. Andy schob die Fetzen mit der linken Hand zusammen und legte sein Heft darüber.
In dieser Zeit mussten wir jede Woche eine Bildergeschichte von Vater & Sohn nacherzählen.
„Wir beginnen wieder mit der Hausaufgabe. Nathalie, du fängst an.“
„Äh, ich habe die Hausaufgabe vergessen.“
„Dann kannst du dir nach der Stunde die Extraaufgabe abholen. Julia, du bist dran. Das erste Bild, bitte.“
Unaufhaltsam rückte Andy in der Reihe der Vorleser nach vorne. Erst kamen noch acht vor ihm dran. Dann nur noch drei.
„Andy, was hast du zum vierten Bild geschrieben?“
Die Klasse war mäuschenstill. Andy begann ein paar Sätze vorzulesen. „Sehr schön beschrieben“, urteilte unsere Lehrerin, um dann gleich mit Andys Sitznachbarn fortzufahren.
In der Sportstunde spielten wir Brennball. Ich war kurz in den Umkleideraum gegangen, um einen Schluck zu trinken. Aus der Halle drangen anfeuernde Rufe herein. Ich kramte in meiner Tasche. Im Augenwinkel sah ich, wie Tobias aus dem Duschraum kam und eine Trinkflasche in Andys Tasche stopfte.
„Wenn du was sagst, bist du dran“, zischte er mir zu und ging zurück in die Halle.
Sekunden später kam Andy. Er ging zu seiner Tasche. Er zog die Trinkflasche hervor. Er setzte sie an seinen Mund.
„Nicht trinken!“ Aber da hatte er schon einen gierigen Schluck genommen, den er jetzt in hohem Bogen ausspuckte.
„Bäh! Du Sau!“ Die Trinkflasche flog in meine Richtung, doch ich duckte mich weg. Andy stürmte auf mich los. Er packte mich, noch bevor ich in die Halle flüchten konnte. Wir beide endeten mit einer Sammlung blauer Flecke.
Ein paar Tage später zwang uns Regen dazu, die Pause im Klassenraum zu verbringen. Tobias und seine zwei Mitläufer griffen sich Andy und zerrten ihn vor die Tafel. Andy erwischte einen Haarschopf und zog kräftig daran.
„Aua! Lass los!“
„Hey, guckt mal her!“ Andys Jeans und Unterhose hingen um seine Knöchel. Grölen erfüllte den Raum. Ich konnte seine blauen Flecke sehen. Sie hatten inzwischen die gleiche gelbgrüne Farbe wie meine.
„Sie kommt!“
Ruck zuck löste sich die Veranstaltung auf. Als unsere Lehrerin den Raum betrat, setzte Andy sich gerade. Ich konnte von meinem Platz aus sehen, wie er sein Hemd wieder in die Hose stopfte. Er war immer noch knallrot im Gesicht.
Das nächste Mal schleiften Tobias und seine Mitläufer Andy aus dem Klassenraum hinaus zum Flur. Etwas fiel klackernd aus Andys Jackentasche. Es kreiselte zu mir herüber und blieb an meinen Füßen liegen. Ich hob es auf. Stirnrunzelnd betrachtete ich es von allen Seiten. Es war eine gebogene Plastikröhre. Innen steckte eine Patrone aus Blech, auf die mir unbekannte Wörter gedruckt waren. Ich stopfte das Ding in meine Hosentasche und eilte den Stimmen auf dem Flur entgegen.
Jemand hielt die Tür vom Jungsklo offen.
„Los! Eintauchen, Eintauchen!“, war zu hören. Die Spülung rauschte.
„Ihr seid ekelig!“, entfuhr es mir.
Ein Schmerzensschrei ließ mich stehen bleiben. Dann noch einer.
„Nimm endlich die Hand von seinem Mund!“
Eine zappelnde Gruppe schob sich aus der Tür heraus.
„Shit!“
„Pass doch auf!“
„Und jetzt?“
Ich sah Andy zwischen den Jungs auf dem Boden sitzen; auf beide Arme gestützt. Sein Hemd war aus der Hose gerutscht. Seine Haare waren zerzaust. Keuchend rang er nach Luft. Seine Lippen wurden blau.
„In die Klasse mit euch, aber sofort!“ Unsere Lehrerin kam angerannt und hockte sich neben Andy. Ich sah, dass sie außer Atem war. Mit einer Hand wischte sie sich Haare aus dem Gesicht. Die ganze Klasse blieb auf dem Flur stehen.
„Andy! Sag was!“ Sie legte ihn lang auf den Boden. Ihre Jacke stopfte sie unter seinen Kopf. „Was ist passiert? Tobias? Was hast du dazu beigetragen?“
„Wir mussten ihn festhalten. Er ist im Klo plötzlich wild geworden.“
„Hör auf zu spinnen, Tobias“, erwiderte ich.
„Halt's Maul!“
Sofort herrschte betretenes Schweigen.
„Nathalie.“ Unsere Lehrerin guckte sie direkt an. „Du läufst sofort ins Sekretariat und sagst, dass wir hier einen Notarzt brauchen.“
Mit einer Hand drückte sie Andys Kinn hoch. Nathalie rührte sich nicht.
„Verdammt, Nathalie! Du sollst los laufen und einen Notarzt holen! Jetzt! Andy kriegt keine Luft!“ Ihre Stimme schrillte in meinen Ohren. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. „Andy! Bleib bei mir!“. Sie rüttelte ihn an den Schultern. Andy gab ein Grunzen von sich.
Jetzt endlich setzte Nathalie sich in Bewegung.
Mit einem Röcheln drehte Andy den Kopf zur Seite. Ich sah direkt in seine Augen und fühlte seine Angst in mir. Es war furchtbar. Noch nie zuvor hatte ich so eine tiefe Angst erlebt. Ich konnte mich nicht mehr rühren.
„Der Inhalator!“ Unsere Lehrerin wühlte durch Andys Taschen. „Andy, hat doch irgendwo einen Inhalator bei sich,“ murmelte sie in die Stille. „Aha, hier.“ Sie zog ein benutztes Taschentuch und eine Dose Fahrradflickzeug aus seiner Tasche. Beides schmiss sie vor unsere Füße. „Scheiße!“ Ruckartig richtete sie sich auf. Sie war knallrot im Gesicht.
„Die Jacke! Das Ding muss in der Jacke sein.“ Aus der Hocke heraus angelte sie nach Andys Jacke. Sie wischte sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht und klopfte mit flachen Händen auf der Jacke herum. Nichts. Hektisch fasste sie nochmal in Andys Hosentaschen.
Andys Gesicht wurde bläulich. Sie rüttelte ihn erneut. „Andy! Bleib bei mir! Bitte!“
Er reagierte nicht mehr.
„Ab in die Klasse mit euch!“ Sie holte tief Luft. „Haut endlich ab!“
Sie beugte sich über Andys Gesicht, hielt ihm die Nase zu und legte ihre Lippen über seinen Mund. Es sah aus wie im Fernsehen. Aber statt wohliger Spannung fühlte sich in mir alles taub an. Langsam drehte ich mich um und ging mit den anderen in den Klassenraum. Ich hörte jemanden leise weinen. Erst einer, dann mehrere. Als ich mich setzte, fühlte sich meine Hose feucht an.