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- 10.07.2007
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Du bist das Gefäß
In meinem Traum kann ich den Himmel sehen. Er ist klar und sternenübersät, und ich würde ihn schön finden, wenn ich nicht wüsste, dass ich gleich sterben werde. Ich liege mit angewinkelten Beinen auf einer Steinplatte. Ein Altar, daran erinnere ich mich aus meinen früheren Träumen. Mein Bauch ist gewölbt, so stark, dass ich meine Knie nicht sehen kann. Weit entfernt höre ich Menschen singen. Das Lied ist nicht zu verstehen, dennoch macht es auf eine Art und Weise Angst, die ich nicht erklären kann. Als die Wehen einsetzen, bin ich beinahe erleichtert, dass es jetzt vorbei sein wird. Aber dann setzt der andere Schmerz ein. Das Monster in mir bahnt sich seinen Weg ins Freie, es wird nicht abwarten, bis die Wehen ihren Zweck erfüllt haben. Es zerreißt mich von innen. Ich schreie, aber inmitten des anschwellenden Gesangs bin ich kaum zu hören. Irgendwie ist alles weit weg, sogar der Schmerz. Endlich höre ich ein anderes Geräusch. Etwas scharrt über die Steinplatte, und ich fühle einen heißen Schwall von Blut zwischen meinen Beinen. Und da verlöschen die Sterne, einer nach dem anderen.
Ich muss mich übergeben, noch bevor ich richtig wach bin. Scheiße. Aber das war bestimmt nicht das erste Mal, dass jemand in dieses Motelbett gekotzt hat.
Der Badezimmerspiegel zeigt mir eine Frau, die mir nicht ähnlich sieht. Schrecklich sieht sie aus. Augenringe wie ein Waschbär. Die Leute von Planned Parenthood werden mich wahrscheinlich für einen Junkie halten, aber das ist egal. Die Wahrheit kann ich ihnen ohnehin nicht erzählen.
Die Haare habe ich schon vor einer Woche gefärbt, aber ich bin noch immer nicht an den Anblick gewöhnt. Ich bin einfach nicht zur Blondine geboren.
Und ich fürchte, wenn Jasons Handlanger mich aufspüren, wird es nicht einmal helfen. Sie würden mich sowieso nicht an Äußerlichkeiten erkennen. Sie orientieren sich an ihm, werden von ihm angezogen wie Motten vom Licht. Mein Bauch ist noch flach, aber sie würden trotzdem spüren, dass es darin wächst. Aber vielleicht hilft es wenigstens, wenn sie Fotos von mir herumzeigen und Leute nach mir fragen.
Die Pentagramme auf meinen Handflächen schmerzen. Die Schnitte sind längst vernarbt, doch es hat nie aufgehört wehzutun. Aber das ist wie mit den Haaren, denke ich – jedes bisschen Schutz ist besser als nichts.
Das Gebäude von Planned Parenthood ist leicht zu erkennen, an den Protestlern davor. Sie stehen in einiger Entfernung zum Eingang – nach dem Gesetz dürfen sie sich den Frauen, die hierher kommen, nicht mehr in Weg stellen. Dafür schwenken sie ihre Transparente umso aggressiver. Und Babypuppen voller Kunstblut. Ich sehe weg. Ich habe mir immer ein Kind gewünscht, irgendwann später, nach dem College. Aber das Ding in meinem Bauch hat damit nichts zu tun.
Im Wartezimmer starre ich die ganze Zeit an die Wand, sitze so weit wie möglich von den anderen Frauen entfernt und sehe keiner von ihnen in die Augen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Mein Bauch fühlt sich an, als wäre er von einem Eiszapfen durchbohrt worden, und ich hoffe wirklich, dass das nur die Angst ist. Als ich an der Reihe bin, muss ich gebeugt gehen wie eine Achtzigjährige, weil mein Unterleib so sehr verkrampft ist.
Die Beraterin ist eine dicke ältere Frau mit kurzen Haaren. Ihr Blick ist neutral – falls sie irgendwelche Schlüsse aus meinem Aussehen zieht, lässt sie sich nichts anmerken.
„Ich bin Megan“, sagt sie. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich bin schwanger“, sage ich. „Und ich kann es auf keinen Fall bekommen. Mein Freund - mein Ex – er … er hat mich missbraucht. Ich wollte das nicht. Er ist gefährlich, und … geisteskrank. Verstehen Sie – ich kann es nicht bekommen.“
Meine Selbstbeherrschung ist dünnes Eis, jeden Moment kann sie zerbrechen und das nackte Elend enthüllen, das unter der Oberfläche treibt. Ich greife nach dem Glas Wasser auf Megans Schreibtisch, weil mein Mund so trocken ist, aber meine Hände zittern richtig. Ich stoße es um.
„Scheiße. Tut mir leid!“, sage ich. Jetzt zittert auch meine Stimme.
„Beruhigen Sie sich erst mal, Schätzchen“, sagt Megan, während sie aufwischt. „Sie sind in einer schlimmen Situation, aber das ist nicht das Ende der Welt. Wir beide reden jetzt ganz in Ruhe über ihre Möglichkeiten, und dann treffen Sie Ihre Entscheidung.“
Ihre Freundlichkeit ist zu viel für das Eis. Es zerbricht, und darunter kommt ein Wasserfall zum Vorschein. So laut und hemmungslos habe ich nicht mehr geweint, seit ich sechs war.
Megan sitzt da wie ein Fels, unbeeindruckt, und reicht mir eine Packung Kleenex. Sie glaubt bestimmt, sie hätte schon viele Frauen wie mich gesehen, aber da irrt sie sich. Ich bin ein einzigartiger Fall.
In einem hat sie allerdings Recht, es ist nicht das Ende der Welt. Noch nicht.
Jede Nacht, die ich in diesem Motel zubringe, ist schlimmer als die davor. Ich habe solche Angst, dass Jason oder einer seiner Leute mich findet. Ich habe sein Auto und das ganze Bargeld aus seinem Versteck gestohlen, von dem er dachte, ich kenne es nicht. Er muss so wütend sein. Er kann mich nicht umbringen, wegen dem Ding in meinem Bauch, aber er hat viele andere Möglichkeiten. Um das Ding auszutragen, brauche ich zum Beispiel keine Zunge, keine Finger und keine Augen.
Ich würde gern beten, aber ich habe Angst vor dem, was mich erhören könnte. Ich würde gern schlafen, aber ich fürchte mich vor meinen Träumen.
Außerdem rasen meine Gedanken, immer im Kreis, das Übliche. Hätte ich es verhindern können, wenn ich früher bemerkt hätte, wo ich hineingeraten bin? Als ich mit Jason zusammenkam, war ich richtig verliebt. Seinen Kult habe ich überhaupt nicht ernst genommen. Er sagte Dinge wie „Wenn der rechtmäßige Herrscher wiederkehrt, wird das Universum wieder in den natürlichen Zustand des Chaos zurückfallen“, und ich fragte ihn, ob wir nicht ins Kino gehen könnten. Ich hörte ihm nie wirklich zu, ich starrte bloß in seine dunklen Augen, auf seine langen Haare und seine Tattoos; ich dachte und benahm mich wie all die Mädchen, die ich in der Highschool zu dummen Tussis erklärt hatte. Und als mir endlich klar wurde, dass er viel mehr war als ein gewöhnlicher Bad Boy, da war es zu spät.
Hat er es geplant? Wusste er es schon, als er mich zum ersten Mal ansprach? Oder war ich bloß die einfache, naheliegende Lösung, als er jemanden brauchte, weil die Sterne gerade richtig standen? Es ist absurd, aber diese Fragen quälen mich. Ein Teil von mir interessiert sich immer noch verzweifelt dafür, ob es je eine Zeit gab, wo er mich auf seine verdrehte, finstere Art wirklich geliebt hat.
Wie viel von all dem ist meine Schuld? Ich habe mich nicht gegen das Ritual gewehrt. Zu dem Zeitpunkt habe ich ihn schon zu sehr gefürchtet. Ich habe gesehen, dass die Macht, von der er so gern redet, nicht eingebildet ist. Er kann Menschen mit seinen Gedanken töten. Und mit Hilfe der Wahnsinnigen, die er seine Jünger nennt, kann er einem noch viel Schlimmeres antun.
An das meiste aus jener Nacht kann ich mich nicht richtig erinnern, und wahrscheinlich ist es besser so. Ich weiß nur eins mit Sicherheit, dass etwas in mich eingedrungen ist. In meinen Alpträumen besteht es komplett aus Dunkelheit.
Ich erinnere mich eigentlich nur an den Schmerz, und an Jasons Gesicht.
Er sah so stolz aus. Ich glaube, er freute sich für mich.
„Du bist das Gefäß“, sagte er. „Du wirst den rechtmäßigen Herrscher wieder in diese Welt bringen.“
Die Sonne scheint, als ich mich auf den Weg zur Klinik mache, aber mir ist von innen kalt.
Es könnte sein, dass ich den Arzt in Gefahr bringe. Schon ein paar Tage nach dem Ritual ist mir aufgefallen, dass Menschen in meiner Nähe Kopfschmerzen und Nasenbluten bekommen, wenn sie zu lange mit mir in einem Raum sind. Blumen verwelken, wenn ich vorbeigehe, und kleine Tiere sterben. Es ist, als wäre ich radioaktiv. Und es wird immer stärker.
Trotzdem muss ich es durchziehen. Ich hätte mich für RU486 entschieden, aber ich kann nicht sicher sein, dass die Pille die gleiche Wirkung hätte wie bei einer normalen Schwangerschaft. Sie müssen das Ding raus saugen, nur so kann ich sicher sein.
Die Klinik ist ein großer, hässlicher Klotz aus Beton und Glas. Vom Haupteingang sind mehrere Sirenen zu hören. Es muss wohl einen größeren Unfall oder so etwas gegeben haben. Ich betrete das Gebäude durch den Nebeneingang, wie Megan es mir geraten hat, nehme den Fahrstuhl, und versuche das ungute Gefühl zu ignorieren, das sich in mir breitmacht. Bald ist es vorbei, ich habe es fast geschafft, sage ich mir immer wieder. Aber das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, will einfach nicht verschwinden.
Der Weg zur gynäkologischen Station ist versperrt. Ein Polizist steht auf dem Gang, er beantwortet keine Fragen, sondern sagt nur: „Es tut mir leid, Sie können hier nicht durch, Ma’am.“
„Ich muss aber zu Doktor Coleman!“, beharre ich. „Ich habe einen Termin.“
Er schüttelt den Kopf.
Eine Frau in Schwesternkleidung kommt den Gang hinauf. Sie ist sehr bleich, und geht an dem Polizisten vorbei, ohne ihn anzusehen.
Ich lege eine Hand auf ihren Arm, damit sie stehen bleibt. „Bitte, was ist hier los?“ frage ich sie. Ein Teil von mir ahnt es schon, aber es wird erst real sein, wenn jemand es ausspricht.
„Sie haben Dr. Coleman erschossen“, sagt die Schwester tonlos.
„Wer…?“, frage ich.
„Na, die Pro-Life-Aktivisten. Die haben es ja oft genug angekündigt.“ Sie lacht bitter, und dabei kommen ihr die Tränen. Aus ihrer Nase läuft ein dünnes Rinnsal Blut. Ich hätte sie nicht anfassen dürfen.
„Es tut mir leid“, sage ich.
Im Vorbeigehen schüttelt sie den Kopf, als ob sie sagen will, dass ich nichts dafür kann.
Ich stehe einen Moment unschlüssig auf dem Gang, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Dann folge ich der Krankenschwester, Richtung Ausgang. Es tut mir wirklich leid, Dr. Coleman. Es ist meine Schuld. Ich weiß, Leute wie er leben gefährlich, und es ist nicht das erste Mal, dass Fundamentalisten einen Arzt ermordet haben, weil er Abtreibungen durchführt. Aber ich bin mir sicher, er wäre noch am Leben, hätte ich nicht heute diesen Termin gehabt. Vielleicht haben Jasons Leute ihre Finger im Spiel, oder vielleicht hat das Ding selbst dafür gesorgt, dass nichts seiner Geburt im Weg steht. Aber mit Sicherheit war das kein Zufall.
Mir ist schwindelig, als ich die Klinik verlasse. Ich gehe wie eine Betrunkene, und in meinem Kopf dreht sich sowieso alles. Was soll ich jetzt tun? Das nächste Krankenhaus, wo überhaupt Abtreibungen durchgeführt werden, ist in einem anderen Staat. Ich habe nicht mehr viel Geld übrig, ich bin nicht versichert, und die Zeit läuft ab. Welche Möglichkeiten habe ich noch? Den Selbstversuch mit einem Kleiderbügel?
Vielleicht könnte ich einen Supermarkt überfallen, denke ich, sobald mir nicht mehr schwindelig ist … Plötzlich ist da ein fremder Arm um meine Taille, und eine Hand auf meinen Mund. Jason!
Sie haben mich gefunden! Ich versuche zu schreien, und ich versuche zu kämpfen, aber sie sind zu dritt, und ich bin völlig ausgelaugt.
Ich hatte sowieso nie eine Chance.
Erst nachdem sie mich in ihr Auto gezerrt haben, kann ich sie richtig sehen. Es ist nicht der Anblick, den ich erwartet habe. Alle drei sind jung, glattrasiert, tragen dunkle Anzüge und kurze Haare. Am Revers des Mannes neben mir steckt eine US-Flagge – und daneben ein kleines goldenes Kreuz. Das sind nicht Jasons Leute.
„Was soll das? Was wollen Sie?“
„Sei still“, sagt der Mann neben mir.
Er sieht mich an, als wäre ich ein Kaugummi an seiner Schuhsohle. Wenn ich mich hier übergeben muss, werde ich mir Mühe geben, seinen Anzug zu ruinieren, denke ich noch, aber er hat plötzlich eine Spritze in der Hand, und dann ist alles dunkel.
Sie sagen, es wäre sinnlos, wenn ich versuche zu fliehen. Hier in der Gegend sind alle Leute gute Christen, die mich aufhalten und zurückbringen würden. Das behaupten sie, aber sie haben mich trotzdem am Bett angekettet. Und ich muss einen Nachttopf benutzen. Das stört mich mehr als alles andere. Abgesehen davon, dass die Welt untergehen wird, wenn ich nicht bald eine Möglichkeit finde, hier rauszukommen.
Ich weiß nicht genau, wohin sie mich gebracht haben, und sie beantworten keine Fragen. Die Gemeinde ist nicht sehr groß, glaube ich. Ich kenne praktisch nur zwei Leute. Matthew, der Pastor, hat das Auto gefahren als sie mich gekidnappt haben, und kam am Anfang mehrmals am Tag vorbei, um zu fragen ob ich mit ihm beten will. Irgendwann habe ich ihm gesagt, dass seine Mutter Schwänze in der Hölle lutscht, seitdem kommt er nicht mehr. Gott sei dank. Ich dachte, Jasons Leute wären schlimm, aber das war bevor ich diese Turbochristen getroffen habe.
Jetzt kommt nur noch Grace. Irgendjemand muss mir ja was zu essen bringen und sich um den ekelhaften Nachttopf kümmern.
Ich glaube, Grace ist nicht viel älter als ich. Es ist schwer zu sagen, weil sie diese unförmigen Sackkleider trägt und ihre Mundwinkel immer nach unten hängen. Aber wenn sie das Wort „Sünde“ sagt, sehe ich in ihren Augen so etwas wie Neid. Ich wette, sie hat nie Gelegenheit gehabt, selbst auszuprobieren wie sündigen sich anfühlt.
Grace und ich werden nie gute Freundinnen sein, aber wenn es jemanden gibt, mit dem ich reden kann, dann ist sie es. Und das muss ich bald tun. Man sieht es mir noch nicht an – dieses kleine Bäuchlein ist nichts, was ich nicht auch ein paar Cheeseburgern zuviel hingekriegt hätte – aber ich fühle, dass es bald zu spät sein wird. Meine Alpträume werden immer schlimmer.
Sie bringt mir Suppe, also muss es schon wieder Mittag sein. Alles an ihr ist grau – das hochgeschlossene Kleid, die Augen, und sogar ihr Gesicht. Meine Nähe tut ihr nicht gut. Sie hat praktisch andauernd Nasenbluten.
„Ihr solltet euch abwechseln“, sage ich. „Du könntest Krebs kriegen oder so was.“
„Gott hält seine Hand über mich“, sagt Grace.
„Er macht seinen Job nicht sehr gut“, versuche ich es weiter. „Du siehst echt schlimm aus. Ich habe gute Gründe, warum ich es los werden will, weißt du? Es ist kein richtiges Baby. Es ist gefährlich.“
„Abtreibung ist Sünde“, sagt sie, wie ein bescheuerter Papagei.
„Keine Ausnahmen? Angenommen, die Mutter würde bei der Geburt sterben …“
„Alles was geschieht, ist der Wille des Herrn“, sagt Grace und drückt mir den Löffel in die Hand.
Dann wäre es auch sein Wille gewesen, wenn ich eine Abtreibung gehabt hätte, du dumme Kuh, denke ich. „Was ist wenn alle Menschen bei der Geburt sterben?“, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. „Ich kann dir nicht helfen. Es ist Gottes Wille.“
Etwas an ihrem Tonfall lässt mich hoffen, dass sie schon darüber nachgedacht hat, mir zu helfen. Irgendwo hinter der frommen Fassade muss ein richtiger Mensch mit einem Selbsterhaltungstrieb verborgen sein.
„Grace, du musst mir glauben. Es ist der Antichrist. Wenn es geboren wird, dann wird die Welt untergehen.“
Der erste Teil ist natürlich nicht wahr. Jasons Götter sind viel älter als das Christentum, mit Graces Jesus haben sie nichts zu tun. Das Ding in meinem Bauch ist nicht das Gegenteil ihres Erlösers – es ist mehr oder weniger das Gegenteil von Allem. Aber das kann ich ihr nicht erklären, sie würde es nie begreifen. Wenn ich sie überzeugen will, muss ich ihre Sprache sprechen … aber ich glaube, mein Wörterbuch ist nicht sehr gut.
Grace lächelt. Das habe ich noch nie gesehen.
„Ich weiß, das hört sich verrückt an, aber …“
Sie schüttelt den Kopf, noch immer lächelnd.
„Überhaupt nicht. Was glaubst du denn, warum du hier bist?“
„Was meinst du?“, frage ich. Ihr Gesichtsausdruck ist unheimlich. Jasons Jünger haben auch immer so gelächelt.
„Wir können nicht jede gottlose Schlampe, die ihr Baby töten will, davon abhalten, so sehr wir es auch wünschten. Gott wird für Gerechtigkeit sorgen; all diese Frauen und ihre geldgierigen Ärzte werden am Ende bekommen, was sie verdienen. Aber dich mussten wir aufhalten.“
„Warum?“, frage ich. Ich fürchte, ich kenne die Antwort schon.
„Es ist die Prophezeiung aus der Offenbarung. Der Antichrist muss geboren werden. Gott wird seine Getreuen zu sich holen, bevor seine Herrschaft und die Zeit der Großen Trübsal beginnt. Erst wenn die Prophezeiungen in Erfüllung gegangen sind, wird Jesus zurückkehren, um über die Lebenden und die Toten zu richten.“
Ich spüre, wie mir ein Lachen im Hals stecken bleibt. Ich habe geglaubt, jeder würde einsehen, dass es wichtig ist, den Weltuntergang zu verhindern. Wie dumm von mir.
„Ihr denkt also, ihr müsstet nachhelfen, damit die Prophezeiung in Erfüllung geht? Ist euer Gott wirklich so unfähig?“
Grace schlägt mich. Nicht sehr fest; so wie man ein ungezogenes Kind schlägt. Ich kann den Gefallen nicht erwidern, aber ich sehe mit Genugtuung, wie aufgebracht sie ist. Und dass ihre Nase wieder blutet. Sie wischt geistesabwesend mit ihrem Ärmel daran herum, während sie weiter spricht.
„Wir erfüllen Gottes Plan. Wir sind es leid, die Sünden und die Gottlosigkeit in diesem Land mit anzusehen. Wir beten jeden Tag, dass die Entrückung nicht mehr lange auf sich warten lässt. Alle Zeichen deuten darauf hin, und die Geburt des Antichristen ist das einzige Puzzleteil, das noch fehlt. Der Herr hat uns geleitet, damit wir dich finden und aufhalten.“
Ich lasse mich schwer in mein Kissen sinken, als mir die unendliche Blödheit der Situation bewusst wird. Vor nicht allzu langer Zeit war ich ein normales Mädchen, das aufs College gehen wollte. Jetzt bin ich ein Werkzeug, um den Weltuntergang einzuleiten. Und es gibt mehr als eine Gruppe von Leuten, die ihn sehnsüchtig erwarten.
Ich wünschte wirklich, ich könnte glauben, dass es keine Götter gibt.
Grace steht noch immer neben meinem Bett. Ihr Gesicht ist jetzt weicher.
„Du kannst immer noch erlöst werden, weißt du? Dass du den Antichristen in dir trägst, bedeutet nicht, dass du verdammt bist, du bist nur das Gefäß. Bitte Jesus, in dein Herz zu kommen und deine Sünden wegzuwaschen, dann kannst auch du errettet werden wie wir.“
„Grace“, sage ich. „Jesus ist seit über zweitausend Jahren tot. Du wirst bald sehen, was passiert, wenn ein echter Gott geboren wird, und dann kann dich keiner mehr retten.“
Sie sieht mich traurig an, verlässt aber endlich das Zimmer.
Jeden Tag versuche ich mir einzureden, dass ich noch nicht aufgegeben habe. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber jeden Tag wird mein Bauch dicker, und jede Nacht habe ich denselben Traum. Mein Körper und mein Kampfgeist werden zunehmend schwächer.
Matthew kommt ins Zimmer wie eine Antwort auf meine Gebete. Ich brauche jemanden, den ich hassen kann, und Grace eignet sich dafür nicht besonders.
„Du hast Besuch“, sagt Matthew.
„Fick dich“, sage ich. „Wenn es nicht das FBI ist, bin ich nicht interessiert.“
„Ein Pastor von einer befreundeten Gemeinde. Du wirst deine schmutzigen Worte für dich behalten, sonst …“
„Sonst was, sperrst du mich in einen Keller und kettest mich ans Bett?“
Jemand schiebt Matthew zur Seite und betritt das Zimmer. Ich will schreien, aber es ist, als wäre ich gelähmt.
Jason trägt einen Anzug und einen Priesterkragen, aber sie müssen doch das Tattoo gesehen haben. Es bedeckt sein halbes Gesicht, und man kann es wirklich nicht mit einem christlichen Symbol verwechseln.
Aber Jason kann diese Dinge. Er hypnotisiert die Leute. Wenn Matthew nicht immer so aussehen würde wie ein Schaf unter Drogen, wäre mir sein leerer Blick bestimmt aufgefallen.
„Es stimmt, was man über schwangere Frauen sagt“, sagt Jason. „Du siehst sehr hübsch aus.“ Er setzt sich auf den Rand des Betts und streicht über meine Wange. „Mir gefällt, was du mit den Haaren gemacht hast.“
Er nimmt eine Strähne in die Hand – die untere Hälfte ist noch blond, oben ist es dunkel wieder nachgewachsen. Allerdings sind viele der nachgewachsenen Haare grau.
„Was willst du hier?“, frage ich. Ich hasse mich dafür, dass es wie ein Wimmern klingt.
„Ich musste es einfach sehen“, sagt er. „Ich habe mein ganzes Leben darauf hingearbeitet.“
Matthew steht noch immer in der Ecke. Blut läuft aus seiner Nase und aus einem Augenwinkel. Die Wirkung des Dings ist jetzt sehr stark, niemand sollte lange in meiner Nähe sein. Nur Jason scheint es nichts auszumachen. Er sieht gut aus, keinen Tag älter als damals, als er mich zu unserem ersten Date eingeladen hat.
„Du hast also nicht vor, mich zu bestrafen?“, frage ich.
„Bestrafen? Du hast es endlich möglich gemacht, Ihn in diese Welt zu bringen. Ich bin sehr stolz auf dich. Dein kleiner Ausflug ist nicht von Bedeutung. Du hättest Ihn niemals aufhalten können. Ich habe überall Freunde wie diese.“ Er lächelt in Matthews Richtung. Der Pastor sieht aus, als könnte er sich kaum noch auf den Beinen halten, aber er steht noch immer mit einem leeren Lächeln in der Ecke. „Auch sie warten darauf, dass ihr Gott zurückkehrt. Ich habe ihnen natürlich nicht verraten, dass wir nicht für dasselbe Team spielen.“
Ich habe mir geschworen, nicht zu weinen, zumindest nicht bevor er gegangen ist. Soweit reicht meine Beherrschung gerade noch. Aber ich bringe kein Wort heraus.
„Du hast es bald geschafft“, flüstert Jason und gibt mir einen Kuss.
„Hast du von Anfang an gewusst, dass ich es sein würde?“, frage ich. Es ist wirklich bescheuert, aber ich will das immer noch wissen.
Er lächelt, und streicht noch einmal durch meine zweifarbigen Haare. „Natürlich“, sagt er. „Seit dem Tag deiner Geburt.“
In meinem Traum sehe ich die Sterne verlöschen. Ich sehe, wie Sonnensysteme vergehen und Galaxien sterben.
Es ist richtig so.
Er hat mir das gesagt. Er spricht jetzt mit mir, so wie Er mit Jason gesprochen hat. Er war vor all dem da und wird ewig sein, und Er braucht diesen ganzen Schrott nicht. Die Entstehung von Leben – die Entstehung von überhaupt etwas – war ein Irrweg. Was hat es denn gebracht, außer Leiden? Es muss jetzt enden. Er wird in dieses Universum zurückkehren, und Er wird es nach Seinem Bild formen, dafür sorgen, dass überall Kälte und Dunkelheit herrschen und alles andere aufhört. Er ist der wahre Erlöser dieser Welt, und ich kann stolz darauf sein, dass ich Sein Gefäß war. Jetzt bin ich Seine Pforte.
Beim Aufwachen spüre ich die ersten Wehen.