Mitglied
- Beitritt
- 13.07.2017
- Beiträge
- 563
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Druckerfarbe
Blasen bilden sich beim Zerdrücken der Packung, während der letzte Rest Milch in die Kaffeetasse tröpfelt. Als Jess in die kleine Küche zwischen unseren Büros kommt, mustert sie mich einen Moment lang. Sie stellt sich neben das alte, wuchtige Holzregal und verschränkt die Arme.
„Soll ich dir einen Macadamia-Cookie vom Einstein mitbringen? Siehst aus, als könntest du einen vertragen.“
„Nee, danke. “
Anstatt zu gehen, schaut sie mich an und hebt die Augenbrauen.
Ich atme geräuschvoll aus. „Ach Jess. Ich bin zurzeit einfach dauergenervt. Jeder beschissene Tag spult sich vor mir ab, nix bleibt hängen.“ Meine Hände sinken herab, während ich mich an die Wand neben sie lehne und den Kopf an ihre Schulter lege.
„Hey Sonnenschein.“ Jess streicht mir über den Arm. „Wenn du mal was Neues machen willst, gebe ich dir gern einen Stapel von meinen Orderanfragen ab. Oder …“, fügt sie mit einem amüsierten Grinsen hinzu, „du gehst für mich zur Druckerei.“
Als Jess meinen Gesichtsausdruck sieht, hebt sie beschwichtigend die Hände. „Schon verstanden, Mara. Du bremst dich lieber wieder selbst aus.“
Trotzig schiebe ich mich mit meiner Kaffeetasse an ihr vorbei, raus aus der Küche.
„Weißt du? Lieber sich vor Schiss selbst ausbremsen, als mit Halsschmerzen vor Sehnsucht und wie in Watte gepackt durch den Tag zu laufen!“
Jess und ich kennen uns seit Studienbeginn. Ich kann nicht sagen, dass ich sie von Anfang an mochte. Jess war besserwisserisch, widersprach den Dozenten und machte sich mit ihrer schonungslos ehrlichen, manchmal patzigen Art nicht unbedingt beliebt bei unseren Kommilitonen. Am Ende des zweiten Semesters jobbten wir im selben Club an der Garderobe. Durch ein kleines Fenster hinter dem Garderobentresen sah man direkt auf die Spree und die angeleuchteten Türme der Oberbaumbrücke, deren rote Ziegel dann zu glühen schienen. Am besten waren aber die auf der Wasseroberfläche glitzernden ersten Strahlen bei Sonnenaufgang und die stundenlangen Gespräche mit Jess. Als ich letztes Jahr die freie Stelle im gleichen Agenturbüro bekam, feierten wir - aus nostalgischen Gründen mit Lambrusco vom Späti - die ganze Nacht auf meinem Balkon.
Gestern wurde es auch wieder spät. Sich mit Jess zu unterhalten tut gut, aber sie kann mich nicht aus jedem Tief ziehen. Während sie noch auf meiner Couch schläft, stehe ich am Bahnsteig auf dem Weg zum Flohmarkt. Sie hätte schon genug Kram, argumentierte Jess knapp, als ich fragte, ob sie mitkomme. Ich schaue hoch auf die U-Bahn-Anzeigentafel, wippe auf meinen Füßen hin und her und beobachte die Leute um mich herum. Sonntagmorgen in Berlin teilen sich die Menschen in zwei Hälften: Die eine, in der die Menschen schon geschlafen haben und die andere, in der die Partyhungrigen noch immer nicht müde werden.
Mein Atem hängt weit oben im Brustkorb fest, als ich ihn um das Geländer am Treppenende gehen sehe. Mein erster Gedanke: Flucht. Wenn er mich erst einmal gesehen hat, kann ich unmöglich so tun, als würde ich ihn nicht erkennen. Er schaut mir ins Gesicht, hebt zum Gruß kurz die Hand und kommt auf mich zu. Seine Hand ist voller blauer Flecken. Druckerfarbe? Oder ihm ist wieder der Kugelschreiber ausgelaufen, wie an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal durch die großen Fenster der sanierten Fabriketage in den gepflasterten Innenhof geschaut habe. Wäre ich nicht so angespannt, würde ich bei dem Gedanken daran wohl schmunzeln.
An dem Morgen betrat er mit den Probedrucken das große Zimmer, in dem ich wartete. „Hi. Hast du es noch geschafft, trocken hierher zu kommen? Es wird gleich richtig anfangen zu schütten.“
„Ja, ganz knapp. Es geht gerade los. Die ersten großen Tropfen fallen schon platschend auf die alten Pflastersteine.“
„Wenn es regnet und alles grau aussieht, kann man sich gut vorstellen, wie es früher hier ausgesehen hat.“
„Stimmt. Und der kurzbeinige Fabrikchef“, ich deutete in den Innenhof, „mit dem gezwirbelten Bärtchen und der Anzugsweste über der Bundfaltenhose schaut nachdenklich auf seine Taschenuhr, bevor er sie wieder in seine Westentasche steckt. Die Kupferlieferung hätte längst kommen müssen. Er ist in Sorge, dass nun sein ganzer Produktionsplan hinfällig ist. Doch die junge neue Telefonistin, die gerade in Richtung Büro läuft, zerstreut seine Gedanken. Denn sie hat diese neuen echt sexy Nylonstrümpfe mit der langen Naht an der Rückseite der Beine an.“ Ich kam mir plötzlich blöd vor und schaute starr aus dem Fenster. Ich war mir sicher, dass ich rot angelaufen war. Doch dann sah ich, aus dem Augenwinkel heraus, wie er mich anlächelte.
Ich schaue unsicher zum anderen Bahnsteigende, dann zu Boden und greife mir an den Hinterkopf, um meine Haare über die Schulter nach vorn zu holen.
Ich weiß nicht. Finde ich es gut oder schlecht, dass ich ihn tatsächlich wieder treffe?
Kopf hoch, Schultern straffen! Diese Begegnung habe ich doch gewollt. Schon so oft im Kopf durchgespielt. Mir jeden Satz zurechtgelegt. Alle Punkte, die mir wichtig sind. Damit er es versteht, mich versteht. Meine Handflächen kribbeln. Er braucht auch nichts zu sagen. Ich erwarte gar keine Antwort. Das bringt nur neue Unbekannte in mein gut inszeniertes Stück.
Als er vor mir stehen bleibt, schlucke ich schwer den fahlen Geschmack weg.
„Hey, Oliver“, presse ich durch angespannte Lippen hervor und versuche so gelassen wie möglich zu wirken.
Er scheint die Ruhe selbst zu sein.
„Hi Mara, wie geht’s?“
„Gut“, antworte ich hastig. „Bis auf die Halsschmerzen“ füge ich murmelnd hinzu. „Hör mal.“ Ich atme tief durch. „Irgendwie habe ich mich immer total blöd verhalten, wenn ich wegen der Broschüren bei dir in der Druckerei war. Das fing eigentlich immer relaxed an und dann bin ich quasi im Hechtsprung von einem Fettnapf in den nächsten gesprungen und habe dabei deine Arbeit schlechtgemacht.“
Oliver sagt nichts dazu, legt nur den Kopf schief und kneift die Augen etwas zusammen.
Gut so. Schließlich bin ich noch nicht fertig mit meinem Michselbsterklären.
„Wollen wir uns setzen?“, unterbricht er meinen Gedankengang und deutet auf eine Bank nicht weit von uns entfernt.
„Nee“, antworte ich, „gemütlich sitzen brauch ich jetzt nicht.“
Er nickt und sieht mich mitfühlend an. Was soll das denn? Zu meiner Unsicherheit kommt eine leichte Wut. Egal, weiter.
„Ich wollte taff und selbstsicher rüberkommen, kam mir hinterher aber völlig daneben vor. Und du hast dich auch immer hilfsbereit und professionell verhalten.“ Ach verdammt. Ich bin echt so ein Schisser. Jess hätte hundertprozentig nicht den Schwanz eingezogen. Sie wäre sowieso längst zur Druckerei gegangen, um mit Oliver Klartext zu reden.
„Hilfsbereit? Professionell?“ Olivers Gesichtsausdruck verändert sich, irgendwie nachdenklich. Er schiebt die Hände tief in seine Jackentaschen. Seine Kiefermuskulatur spannt sich sichtbar an.
„Ähm, ja. Und dafür wollte ich dir auch danken“, fahre ich heiser, mutlos und innerlich angekotzt von meiner eigenen Feigheit fort. „Als du mir erzählt hast, dass du zu den Großkundenaufträgen wechselst, hätte ich dir sagen können, nein müssen, dass ich es schade finde, nicht mehr mit dir zu arbeiten.“
Er schweigt, starrt auf die alten Sprossenfenster neben dem Bahnsteig.
Was bedeutet das jetzt? In meinen verschiedenen Versionen der Gesprächsabläufe hatte ich mir nie seine Reaktion ausgemalt. Meine Sätze standen lange fest. Einzelne Worte wurden durch andere, aussagekräftigere ersetzt. Der ganze Plot war in sich stimmig. Klar, eigentlich war das jetzt nicht alles, was ich ihm zu sagen hatte. Aber das kann er nicht wissen. Soll ich einfach gehen? Schultern zurück, ein letztes Nicken, umdrehen und mit festem Schritt davonschreiten? Doch bevor ich den gekonnten Abgang vollziehen kann, sagt er doch etwas.
„Und bekomme ich jetzt noch eine Urkunde?“ Seine Augen funkeln getroffen, als er einen Schritt auf mich zugeht. „Das wolltest du mir also unbedingt noch sagen, ja?“ Er steht zu dicht vor mir. So kann ich mich nicht konzentrieren. Ich merke, dass ich ihn gern packen und näher zu mir ziehen will.
Mit dem Gefühl gegen eine Wand gelaufen zu sein, atme ich flach in die Brust und kräusele die Stirn. Oliver schaut mir fest und herausfordernd in die Augen. Die Arme steif zum Boden gestreckt und die Fäuste geballt erwidere ich seinen Blick. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Mit einem ironischen Unterton, der aber wenig überzeugend klingt, frage ich, „Was willst du denn hören? Dass ich kaum denken konnte, wenn du mich mit deinen wahnsinnsgrünen Augen angeschaut hast und ich überlegt habe, wie wohl die Haut an deinem Hals schmeckt?“ Atemlos sehe ich ihn an.
Ohne wegzuschauen, hebt er leicht das Kinn, entspannt seinen Gesichtsausdruck und entgegnet schmunzelnd: „Jip, das wäre ein guter Anfang.“
„Idiot!“
Zwanzig Minuten nachdem ich den Flohmarkt betreten habe, gehe ich wieder, ohne etwas zu kaufen. Mein Kopf ist voll, kann sich nicht mit neuem alten Zeug beschäftigen. Durch die gegenüberliegenden Fenster in der U-Bahn sehe ich die Häuserfronten vorbeirasen. Ich fühle mich müde und abgekämpft.
Zu Hause angekommen sehe ich Jess mit einer Jumbotasse voll Tee und der Zeitung vor sich an meinem Küchentisch sitzen. Sie deutet auf eine Anzeige, „Heute Abend ist wieder der Poetry Slam in Adlershof. Wollen wir hin?“
"Geht nicht, bin mit Oliver zum Essen verabredet."