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Drive By
DRIVE BY
Der schwarze BMW stand genau am Anfang der Fußgängerzone, geparkt am EDEKA-Laden. Der Fahrer, Fabian Juther, drehte sich hinter zu Roland Timczeck, der auf dem Rücksitz saß, seine AK-103 streichelnd.
"Bist du sicher?", fragte Juther. Meuchelmörder, kam ihm in den Sinn, wir sind zwei feige Meuchelmörder. Aus der Dunkelheit greifen wir an und in die Dunkelheit verschwinden wir. Heute morgen hing ich noch fest in einem Drive In, und gleich geht es mit einem Drive By weiter. Abwechslung pur.
"Ja.", antwortete Timczeck kurz angebunden. Seine Stimme war verzerrt, als würde er versuchen, einen Weinkrampf zurückzuhalten.
Don't drink and drive.
"Er hat meine Familie zerstört...", fuhr er fort, von Dramatik getrieben.
"Meine Mutter muss jetzt jeden..." Der Satz ging in einem dicken Schluchzer unter. Timczecks Augen wurden klarer, entschlossener. Er hob den Kopf.
"Schmitt wird für alles, für alles, was er meiner Schwester angetan hat, heute. Hier und jetzt wird abgerechnet."
Es war vier Uhr nachmittags. Dr. Schmitt war um diese Uhrzeit für gewöhnlich gerade nach Hause gegangen, aber nicht, ohne vorher einen Fuß in "Kühn's Backwaren" zu setzen. Die Brötchen holte der Anwalt stets nach der Arbeit.
Und da würden sie ihn erwischen. Vor der Bäckerei würde der schwarze BMW vorbeisausen, unerkannt würde Timczeck seine Rache in das 100er-Magazin seiner AK-103 packen, abdrücken. Nur ein unkenntlicher Haufen zerschossenen, blutigen Fleisches würde auf dem Kopfsteinpflaster vor "Kühn's" liegen bleiben, wenn der schwarze BMW wieder so unerkannt verschwand. Wie er kam, so ging er. Aus der Dunkelheit zurück in die Dunkelheit. Ein perfektes Drive By.
"Kühn's Backwaren" waren etwa in der Mitte der Mühlenstraße, an deren Anfang Juthers Wagen jetzt stand. Gegenüber der Bäckerei war ein Marktplatz, an dem die Friedensgasse vorbeiführte. An der Ecke Mühlenstraße - Friedensgasse stand die Mühle, ein altes Gebäude, umfunktioniert zum Rathaus. Eine ruhige Gegend. Ab der Bäckerei, kaum zweihundert Meter weiter, war Dr. Paul Schmitts Büro. Ein unauffälliges, sauber gehaltenes Schild weiste darauf hin. Dann ging die Mühlenstraße noch gut einen Kilometer weiter, um dann in die Honeckerstraße zu münden. Die Wohnung des unglaublichen Dr. Schmitt lag auf der von der Bäckerei entferntesten Seite des Marktplatzes.
Egal wie man es nahm, Timczeck musste die Augen offen halten, wenn er seine Rache wollte. Es war nicht so, dass er blutrünstig war, nein - er wollte NUR den einen. Den Anwalt. Den Feind. Er würde zielen, treffen, und verschwinden. Seelenheil. Es war nur fair. Dr. Paul Schmitt hatte eine Familie zerstört. Roland Timczeck würde nur ihn. Damit wären sie mehr oder weniger quitt.
Fabian Juther drehte den Schlüssel im Zündschloss und die Kiste sprang an. Er schaute durch den Rückspiegel in Timczecks Augen. Er nickte. Juther fuhr los.
Kurz blickte Roland auf sein Gewehr und die fünf 30er-Ersatz-Magazine. Er lud sein Geschütz. Langsam näherte sich der Wagen, stets innerhalb der Geschwindigkeitsbeschränkungen. Timczeck ließ das Fenster hinten auf der rechten Seite des BMWs herunterfahren. Auf der Seite, auf der Dr. Schmitt die Bühne betreten würde. Auf der Seite, auf der er sie verlassen würde.
In der Ferne wurde der unverkennbare Aushang der Kühnschen Bäckerei sichtbar, ein Brätsel. Das Aushängeschild war über all die Jahre dunkelbraun geworden, was eine bittere Ironie erzeugte. Juther sah eine Gestalt in schwarzen Maßanzughosen, verhüllt durch einen beigen Echtledermantel. Juther legte einen höheren Gang ein. Beschleunigte.
Timczeck atmete tief durch. Der Lauf der Kanone lugte aus dem offenen Fenster.
Es ging los.
Kaum noch vier Wagenlängen, und der BMW würde direkt vor Schmitt stehen.
Drei.
Zwei.
Timczecks rechter Zeigefinger verkrampfte am Abzug. Nichts. Schnell entsinnte sich der Schütze und entsicherte.
Schüsse fielen. Vier. Fünf. Sieben.
Schmitt taumelte einige Schritte zurück.
Timczeck lächelte.
"Erledigt", flüsterte er und verschwand ins Innere des BMWs.
Der Anwalt richtete sich auf, zog eine kleine Beretta aus dem Ärmel. Die Hinterscheibe des Wagen zersplitterte an drei Stellen. Dr. Schmitt schrie.
"Er lebt noch", sagte Timczeck hastig, "er lebt noch, dreh bei, er lebt noch!"
"Nein!", rief Juther.
"ICH WILL MEINE RACHE!" schrie Timczeck ihn an. "ICH WILL IHN TOT SEHEN, HEUTE NOCH!"
Juther riss das Auto rum. Er beschleunigte. Timczeck ließ das Fenster auf der linken Seite herunter und beugte sich heraus. Der Anwalt feuerte. Die Kugel sauste knapp an Timczecks Ohr vorbei und schlug durch die Karosseriedecke.
Die AK-103 entließ einen Schuss. Zwei. Drei folgten. Der Anwalt fiel auf den Boden, hob seinen rechten Arm und schoss den vorderen linken Reifen auf.
"BASTARDE!", stieß Schmitt heraus, gurgelnd. Das Blut floss ihm den Rachen herab.
"Er WILL einfach nicht abtreten!", schrie Timczeck auf den Advokat, "Dreh den Wagen, Fabi, er will einfach nicht verrecken!" Timczecks Augen waren geweitet. Sehr sogar. Er sprang wieder zum rechten Fenster, als Juther den BMW drehte. Die Reifen quietschten. Schmitt stand auf. Er wechselte schnell das Magazin der Beretta.
"BASTARDE!", schrie er wieder, doch der Ton ging im Blut unter. Er spuckte einen Ballen auf die Pflastersteine und schoss. Der Beifahrersitz schluckte drei Kugeln. Die Motorhaube bekam einen hässlichen Kratzer ab.
Timczeck zielte wieder. Er feuerte Salve für Salve auf den Anwalt. Die Beretta fiel aus den zerschossenen Fingern und rutschte auf den Boden. Mit der heilen Hand fasste Schmitt sich an den Bauch. Ein Geschoss drang durch die Hand, zerfetzte die Därme.
Timczecks Augen weiteten sich. Ein Lächeln wuchs.
Drei Kugeln zerschmetterten des Anwalts Kopf. Die Glasvitrine von Kühn’s zersprang.
Der BMW fuhr weiter, an zwei Passanten.
Der Schütze ließ seinen Finger nicht vom Abzug. Er lachte auf. Die Passanten gingen unter im Kugelhagel und fielen stöhnend neben Schmitts Kadaver zu Boden.
Timczeck feuerte abermals auf die Leichen ein, die sich in einer Blutlache über das Kopfsteinpflaster ausgebreitet hatte. Dann zog weiter nach vorn und erwischte eine junge Frau. Es knallte zweimal. Sie starb.
Er riss die AK-103 weg vom rechten Fenster und rutschte zum anderen. Das Magazin war zur Hälfte geleert. Juther hatte schnell gewendet, unter quietschenden Reifen, um in die Friedensgasse zu stürmen. Auf dem Marktplatz standen drei Polizeiwagen.
Die zweite Hälfte des 100-Schuss-Magazins verpulverte Timczeck in zehn Sekunden. Er sah die Körper der Polizisten zusammensacken. Wahnsinn in den Augen. Sie waren geweitet und fast so schwarz wie die eines Hundes geworden.
"Was machst du da?", schrie Juther.
"Fahr weiter auf der Mühlenstraße!", wies ihn Timczeck zu recht. Es war nicht Timczeck. Der Mann, der auf dem Rücksitz das Gewehr neu lud, war ein mordlustiges Tier. Ein Grinsen auf den Lippen. Juther drehte erneut und bretterte mit Tempo 100 durch die Fußgängerzone.
Timczeck steckte seinen Oberkörper aus dem Fenster und zielte auf eine pummelige Frau am Straßenrand.
Sie sackte leblos zusammen.
Im Rückspiegel sah Juther gerade noch vier Polizeiwagen aufkreuzen, als Timczeck, die AK erneut durchgeladen, die hintere Scheibe in Scherben schoss und auf die Bullen ballerte. Er verfiel in einen Rausch. Den Juther nicht teilte. Er würde nun alles dafür geben, nochmal im selben BMW am Drive In festzuhocken und sich den Streit eines fetten Hungersleidenden anzuhören. Aber er war auf der Fußgängerzone. Und Timczeck schoss auf alles, was sich bewegte oder nicht.
Dutzende Schüsse, Schreie. Timczeck lachte auf. Und schoss weiter.
Aus dem Augenwinkel sah er auf der linken Seite der Straße einen Passanten, der versuchte, seine Schulterknochen durch die Schusswunde wieder ins Fleisch an den rechten Platz zu drücken. Die Knochenfragmente lugten wie Puzzleteile hinter der blutroten Hand hervor. Juther übergab sich auf seinen Schoß. Es hätte schlimmer kommen können. Ach ja, richtig, es WAR schon schlimmer gekommen, mit schlimmer hatte es angefangen - mit seinem Freund seit Schulzeiten Roland Timczeck, der gerade Menschenmassen erschoss.
Der Schütze, mit dem Oberkörper durch die hintere Scheibe geschlüpft, saß auf der Rücksitzlehne, halb im Wagen, halb außerhalb. Er drehte sich nach hinten, schoss, traf einen Fahrer der Bullen. Der Polizeiwagen drehte nach rechts ab und fuhr gegen die Wand. Zwei blutverschmierte Beamte krochen aus dem Wrack. Sie krochen auf dem Boden. Zweimal kurzes Knallen, die Kriechenden rührten sich nicht. Timczeck drehte seinen Körper, um nach vorne zielen zu können. Das Wagendach war ihm nun genau im Bauch. Ein Schuss. Eine Frau am linken Straßenrand, ein kleines Mädchen an der Hand führend, taumelte zu einer Hauswand und schmierte daran herunter. Das Mädchen begann zu weinen.
Juther hasste Timczeck. Schulfreund hin oder her, jetzt hasste er ihn. Außerdem ging ihnen die Mühlenstraße aus. Juther hatte nicht vor, weiterzufahren. Nicht mehr. Die Rache ging ZU WEIT. Es war keine Rache mehr, nicht mehr DIE Rache, die es sein sollte. Es war... Timczecks Entertainment. Er hatte Spaß am Töten.
Timczeck hatte nicht begriffen, was vor sich ging, als der schwarze BMW ruckartig bremste - und das Karosseriedach ihm am Bauch die Luft wegschnitt. Sein Oberkörper klappte vor, sein Gesicht zerschmetterte auf dem Wagendach.
Der BMW überschlug sich. Timczecks Leib, angequetscht vom Gewicht des Wagens, rührte sich nicht mehr. Er war tot.
Fabian Juthers Gesicht, angegriffen von Hunderten von Glassplittern, die ihn zerschneiden wollten. Das Dach des BMWs drückte ihm auf den Schädel. Seine Lunge entließ ein leidiges Stöhnen.
Mit einem Gefühl, als würden seine Augen aus dem Kopf treten, wenn nicht etwas passierte, gab der Rest Juthers auf. Wenn ein Mensch eine Seele besaß, wäre das der Moment, an dem sie ihn verließ.
Und er dachte an den Idioten mit den Sommersprossen, der ein Problem mit Fetten hatte. Ans Drive In. An Timczeck.
Er hatte ihn gestoppt.
Ans Drive By.
Meuchelmörder. Aus der Dunkelheit gekommen, angegriffen...
...und ins Flutlicht des Stadions verschwunden, wo Abertausende mit dem Finger auf sie zeigten.
Massenmörder.
Spaß am Töten.
5. Juni 2002