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Dritte Charge
Entstanden im Rahmen eines Contests, bei dem innerhalb von 90 Minuten eine Geschichte geschrieben werden musste. Aufgabenstellung: Der Protagonist muss "Alexander" heißen, aus dem Fenster blicken und dort etwas Ungewöhnliches entdecken.
Das Grauen hatte Einzug in Alexanders Schlafzimmer gehalten.
Schreiend, schrillend qoull es aus dem kleinen Lautsprecher des Radioweckers und presste sich mit Gewalt in Alexanders staubige Träume von hohlen Räumen und eckigen Schatten, die seinen Schlaf durchzogen.
Er presste beide Hände fest auf die Ohren und kniff die Augenlider noch stärker zusammen, um die Geräusche auszublenden, doch sein Bewusstsein hatte bereits wieder Oberhand über den Schlaf gewonnen und schob langsam die geistigen Schublanden zu, aus denen die verworrenen Träume hervorströmten. Alexander konnte sich nicht mehr gegen die Realität abschotten. Die Realität, in der die aufdringlich gutgelaunte Stimme eines Radiomoderators alle Träume vertrieb.
Alexander hob leicht seinen Kopf. Eine Anstrengung, die er gleich darauf bereute, denn irgendein Spaßvogel hatte seinen Kopf offensichtlich mit Beton ausgegossen. Alexander wunderte sich, dass Beton derartige Schmerzen verursachen konnte. Nachdem der erste Versuch kläglich fehlgeschlagen war, unternahm er einen neuen Anlauf. Dieses Mal gelang es ihm sogar, die Augen zu öffnen und das in schummeriges Licht getauchte Schlafzimmer wahrzunehmen. Der Radiomoderator kündigte gerade den neuesten Song der derzeit aktuellen Girl-Group an. Anlass genug, den Kopf wieder in das Kissen sinken zu lassen und darüber nachzudenken, wie man einen Radiowecker mit möglichst geringem Aufwand möglichst nachhaltig zerstören konnte.
Der gestrige Abend war zuviel gewesen. Eindeutig. Sieben Flaschen Bier – mehr, als Alexander selbst an einem feucht-fröhlichen Wochenende zu sich nahm. Nun forderte Elmars Geburtstagsfeier ihren Tribut.
„Komm schon, Alter, auf ein Bier kannste doch noch bleiben...“ Mindestens viermal hatte Alexander diesen Satz aus Elmars Mund zu hören bekommen, und zwar jedesmal, wenn er ankündigte, nun nach Hause zu gehen. Erst nach dem siebten Bier und weit nach Mitternacht war dann keine weitere Aufforderung mehr gekommen, weil einerseits die Biervorräte erschöpft und andererseits Elmar zu betrunken war, um seine Umgebung noch wahrzunehmen. Alexander hatte die Gelegenheit genutzt, um mit unsicheren Schritten nach Hause zu schwanken und kopfüber in sein Bett zu stürzen. Wie es ihm gelungen war, den Radiowecker noch zu aktivieren, war Alexander völlig schleierhaft.
Eines war jedoch sicher: Es war ihm gelungen! Die kreischende Girl-Group, die gerade einigen sinnlosen Text über Sonne, Sex, ein „Sweet Honey“ und allerlei „Fun“ von sich gab, bewies dies.
Alexander wälzte sich schwer auf den Rücken und starrte zur Zimmerdecke hinauf. Vielleicht sollte er einfach noch zwei Stunden weiterschlafen und anschließend einen kurzen Anruf bei der Firma tätigen, um den heutigen Tag krankzufeiern.
Der Gedanke lullte ihn so sehr ein, dass er beinahe das Verstummen der Girl-Group nicht mitbekam. Erst nach einigen Sekunden wurde ihm bewusst, dass im Radio absolute Stille herrschte.
Nein.
Keine absolute Stille.
Ein leises, weißes Rauschen war zu hören.
Alexander wandte schwerfällig seinen Kopf um und fixierte den Radiowecker, der mit seinen roten Leuchtziffern ein gespenstisches Licht auf den Nachttisch warf. Im gleichen Augenblick ertönte die Stimme.
„Hallo?“
Alexander stutzte.
„Können sie mich hören?“
Es war eine hohle, tonlose Stimme, teilweise überlagert von krachenden Störgeräuschen. Für einen Augenblick überlegte Alexander, ob das Radio direkt zu ihm sprach, doch er verwarf diesen unsinnigen Gedanken sofort wieder. Die Stimme redete weiter, langsam und monoton, jedes Wort überdeutlich artikulierend: „Erste Knotenpunkte sind lokalisiert. Zugangswege werden unterbrochen. Alle optischen Frequenzen werden blockiert. Die Erste Charge rückt vor.“
Für einen Augenblick gerieten alle Kopfschmerzen in Vergessenheit und Alexander hob den Kopf ein Stück. „Was ist das für Scheiße?“ murmelte er leise vor sich hin.
Beinahe im gleichen Augenblick johlte das Radio: „My Baaaaaaaby, let’s have some FUN-FUN-FUN!“ Alexander wäre beinahe senkrecht aus dem Bett gesprungen. Die Girl-Group hatte das Ruder wieder fest in der Hand.
Sein Puls raste, und sein Herz schien seinen Körper durch den Mund verlassen zu wollen.
Nach einem kurzen Moment ließ Alexander seinen Kopf wieder schwer in das Kissen fallen. Seine Gedanken jagten im Kreis, während er versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen. Was hatte er da gerade gehört? Knotenpunkte, Frequenzen, die Erste Charge... er konnte es nicht einordnen.
War er für einen Augenblick wieder eingeschlafen? Hatte ihn der berühmt-berüchtigte Sekundenschlaf ereilt, der schon so manchem Autofahrer zum Verhängnis geworden war? Oder hatten sich irgendwelche Frequenzen im Radio überlagert?
Alexander wusste es nicht.
Er stellte aber erstaunt fest, dass ihm die Stimme unheimlich gewesen war. Nicht nur das: Er hatte Angst. Sein heftig schlagendes Herz bewies es.
Dann flackerte das Licht.
Alexander blinzelte irritiert. Wie konnte das Licht flackern, wenn er es noch nicht eingeschaltet hatte?
Er kniff die Augen fest zusammen und rieb mit beiden Händen heftig über seine geschlossen Lider. Dabei murmelte er leise: „Oh Mann! Scheiß Suff! Verdammter scheiß Suff!“
Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich nichts geändert. Das Schlafzimmer lag im Zwielicht, die Girl-Group hatte ihren Song beendet und die Sonne fiel durch die schmalen Schlitze des nicht komplett geschlossenen Rolladens.
Kein flackerndes Licht, keine unheimliche Stimme.
Keine Erste Charge.
Alexander entspannte sich ein wenig und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er entschied, den sich anbahnenden Kater für die seltsamen Wahrnehmungen der letzten Minuten verantwortlich zu machen.
Seiner täglichen Routine folgend, griff Alexander nach den Zigaretten, die er auf dem Nachttisch deponiert hatte, während der Radiomoderator die Sechs-Uhr-Nachrichten ankündigte. Alexander zündete sich eine Zigarette an und wartete auf die Stimme des Nachrichtensprechers. Die täglichen Schreckensmeldungen würden ihm helfen, seine verstaubten Träume endgültig abzustreifen.
In diesem Augenblick flackerte das Licht erneut.
Alexanders Hand, die gerade dabei war, das Feuerzeug auf den Nachttisch zurückzulegen, verharrte bewegungslos in der Luft. Er hatte es sich nicht eingebildet. Das Licht hatte tatsächlich geflackert. Doch es war nicht die Deckenlampe gewesen, sondern das Sonnenlicht, das durch die Rolladenschlitze in das Schlafzimmer strömte.
Es flackerte für einen Sekundenbruchteil, von Goldgelb zu Grau und wieder zurück.
Alexander stockte der Atem.
Als einen Augenblick später die Stimme erneut ertönte, schien auch sein Herzschlag auszusetzen. Es war nicht die erwartete Stimme des Nachrichtensprecher.
Es war die Stimme.
„Der Progress ist initialisiert. Die Erste Charge geht in Wartepositionen zurück. Weitere Frequenzen werden angepasst. Gase in den oberen Schichten sind nun zur Modifikation bereit. Widerstand ist bislang gering, ich wiederhole, Widerstand ist gering. Sicherheit in den äußeren Regionen wird hergestellt. Die Zweite Charge rückt vor.“
„...die weiteren Aussichten bis Donnerstag: Morgens meist heiter...“
Alexander richtete sich ruckartig auf, als die vertraute Stimme des Nachrichtensprechers plötzlich ertönte.
Er hatte die Stimme erneut gehört. Es war weder ein Traum noch eine Halluzination gewesen. Und auch das Sonnenlicht, das von draußen hereindrang, belegte die Realität der Stimme.
Es hatte seinen goldenen Glanz verloren.
Es war grau.
Schmutzig grau.
Er erhob sich nun vollständig, bis er auf zittrigen Beinen vor seinem Bett stand und den Radiowecker ängstlich beobachtete. Das Gerät quäkte munter die gute Laune des Morgenprogramms hinaus.
Sein Blick wanderte zum Fenster.
Irgendetwas ging dort draußen vor sich. Die Zweite Charge rückte vor. Die Erste Charge hatte das Sonnenlicht entfärbt...
Ein eisiger Schauer arbeitete sich langsam Alexanders Wirbelsäule hinab, eine klamme Kälte, die mit tausenden von winzigen Nadeln auf sein Rückenmark einstach.
Alexander spürte, dass etwas auf ihn zurollte. Etwas Großes, etwas Kolossales.
Es war nicht nur die Stimme, die ihn zu dieser Annahme veranlasste. Er wusste es einfach. Er spürte es. Die feinen Haare auf seinen Armen richteten sich auf, während das Licht graue Streifen auf seinen Körper warf.
Wie in Trance ging Alexander zum Fester, packte dort die Schnur des Rolladens, während er seine Zigarette achtlos auf den Teppich fallen ließ.
Er dachte für einen Augenblick daran, zum Telefon zu greifen. Irgendjemanden anzurufen. Erklärungen zu verlangen. Impressionen auszutauschen. Doch er verwarf den Gedanken rasch. Er wusste instinktiv, dass er niemanden erreichen konnte. Schließlich waren alle Frequenzen blockiert.
Dann schoss ein scharfer Schmerz durch Alexanders Kopf. Die Herren Binding und Warsteiner meldeten sich wieder zu Wort. Alexander biss die Zähne fest zusammen, versuchte, den Schmerz zu verkneifen.
So stand er da, bereit, den Rolladen in die Höhe zu ziehen.
Seine Gedanken rotierten, schweiften in verschiedene Richtungen ab.
Ich bin besoffen.
Nein.
Es passiert.
Was?
Etwas. Etwas Großes.
In meinem Kopf?
Nein.
Wer hat es gemacht?
Wir.
Warum?
Ich muss zur Arbeit!
Nein.
Nie wieder.
Was immer es auch ist, ich habe es nicht gewollt...
Alexander spürte eine leichte Vibration unter seinen Füßen, begleitet von einem dumpfen Grollen. Nur am Rande nahm er wahr, dass die Stimme des Radiomoderators erneut verstummt war. Bevor seine Gedanken zu weit abschweiften, sammelte er sich und überlegte, weswegen die Leute vom Radio nichts bemerkt hatten.
Als die Vibrationen stärker wurden, überlegte Alexander, ob er an all diesem Schuld war. Ob er nicht so viel Bier hätte trinken dürfen. Ob er früher zu Bett hätte gehen sollen. Ob er den Wecker nicht hätte stellen dürfen.
Er ließ seinen Kopf sinken. Es war egal. Alles war egal. Wer auch immer die Schuld an dem trug, was dort draußen gerade geschah, es würde keine Gelegenheit geben, es ungeschehen zu machen.
Die Stimme ertönte erneut, und Alexander wusste, dass er sie zum letzten Mal in seinem Leben hörte.
„Letzte Feinabstimmungen sind abgeschlossen. Die Zweite Charge kehrt in Warteposition zurück. Wir schalten nun ab. Ich wiederhole: Wir schalten ab. Halten Sie sich bereit.“
Ein leichtes, versonnenes Lächeln umspielte Alexanders Lippen. Er wusste, es war soweit. Mit einem entschlossenen Ruck zog er den Rolladen nach oben, fasste nach und zog noch einmal, bis das Fenster vollständig geöffnet war.
Er blickte nach draußen und sah die Dunkelheit gleich einer gigantischen Flutwelle heranrollen.
„Haben wir’s doch noch geschafft“, murmelte er, ohne zu wissen, was er selbst damit meinte.
„Die Dritte Charge rückt vor“, tönte die Stimme im Radio.
„Scheiße“, sagte Alexander, noch immer lächelnd.
Und verstummte in der Dunkelheit.