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Dreizehn und Vierzehn
Dirk sagt, ich solle mich nicht so anstellen, aber Dirk versucht auch seit dreihundert Jahren das perfekte Sonett zu schreiben, wie ernst kann man den schon nehmen?
Ralf hat sich mal wieder vorgedrängelt, muss immer der Erste sein, immer in der ersten Reihe stehen, falls mal was passiert. „Ich hab so das Gefühl, heute passiert was“, sagt Ralf immer. Irgendein Wahnsinniger zieht ein Sturmgewehr und mäht Subway to Sally nieder. Diese Dudelsack spielenden Emporkömmlinge, einfach weg. So was malt sich Ralf aus. In irgendeiner Turnhalle ein Gemetzel epischen Ausmaßes. „Hast du den Fotoapparat dabei?“, fragt Ralf. Er liegt nachts wach und denkt in irgendeiner Zukunft, wenn Menschen sich nur noch von nahrungsergänzenden Tabletten ernähren, beugt sich eine rothaarige Studentin mit einer Taille, die man mit Daumen und Zeigefinger umschließen kann, über uraltes Archivmaterial. Flugzeugabstürze, Zugunglücke, Turnhallensturmgewehrmassaker und sie hält den Atem an, sie vergisst zu atmen. Denn da ist ein Mann, auf all diesen Fotos von Ereignissen, die Generationen und Generationen und Abergenerationen entfernt voneinander stattgefunden haben. Da ist ein und derselbe Mann. Und dieser Mann ist Ralf. Und ich glaube, das treibt ihm echt die Tinte in den Füller.
„Ich weiß wirklich nicht, wie mich das inspirieren soll“, sagt Dirk. Er steht, die Hände über der Brust verschränkt, an einem Pfeiler, hat natürlich keinen Fotoapparat dabei und nickt missmutig mit dem Kopf. „Was soll das überhaupt bedeuten? Um was geht’s denn da?“, fragt Dirk. „Ist das irgendwie ein Witz, den ich nicht verstehe? Findest du das komisch?“, fragt er mich.
„Nein, nein“, sag ich. Da gebe es auch nichts zu verstehen. Es sei nur Musik.
„Nur Musik?“, brüllt er.
Und Ralf natürlich vorne mit dabei. Leute rempeln ihn an, stoßen gegen seine Schulter, eine windende Masse, ein Haufen Haare fliegen, es wird geschwitzt und Ralf lauscht dem Klicken eines Sturmgewehrs entgegen, das einfach nicht kommt.
„Wir sollten ihm einen Gefallen tun und den Pfeiler da wegsprengen“, sage ich.
„Mir tut auch keiner einen“, sagt Dirk und dann legt er einen Finger an den Mund, weil er irgendeine Textzeile gehört haben will und macht „Psst“.
Dirk sagt Der Fänger im Roggen sei von ihm. Und Jurassic Park auch. Ich weiß nicht, auf was er stolzer ist. Ich weiß nur, Jurassic Park macht ihn wütender. Man kann nicht an einem Dinosaurier vorbeigehen, ohne dass Dirk einen fürchterlichen Wutanfall bekommt. Ice Age, sagt er, sei auch nur ihm zu verdanken. Weil er ja die ganze Dinosaurierwelle erst losgetreten habe. Die Feuersteins waren ja schon lange vorbei und dann erst wieder Jurassic Park von dieser schlechten Entschuldigung eines Zahnarztes, und auf einmal wusste jedes Kind, das eine Brille trug, wie man Triceratops schrieb und Pterodactylus.
„Das diffundiert“, sagt Dirk immer. Das sei so eine Art kosmischer Witz. Er denke sich die tollsten Dinger aus, Abfallprodukte, während seine Kreativität sich dem Sonett widmet, und die Ideen trieben dann wie Bordsteinschwalben durch die Nacht und ließen sich beim Erstbesten nieder, der ihnen ein warmes Plätzchen am Kamin zu bieten habe. „Diese Nutten“, sagt Dirk. „Diese verdammten Drecksnutten.“
„Also mir gibt das gar nichts“, sagt Dirk. „Ich weiß nicht, fühlst du dich irgendwie durchdrungen?“
„Ein bisschen“, sag ich, nur um ihn zu ärgern. „Ich hab da so eine Idee mit einer Riesenkrabbe, die in einer Zukunft über eine Armee von Kindersoldaten regiert.“
„Arsch“, sagt Dirk. „Wenigstens hab ich den Chef nicht abgeknutscht.“
Nicht wieder die Leier.
Ralf teilt die Menge, als wäre sie das Rote Meer, und bahnt sich langsam einen Weg zu uns, er hält eine Hand über den Kopf, so als balanciere er ein heißes Getränk. Ralf ist der absolute Meister, was Menschenmengen angeht. Er sagt, er habe da jeden Trick drauf, den man sich nur vorstellen könne, irgendwie löse es in den Menschen einen uralten Instinkt aus, wenn man so tue, als halte man eine brühend heiße Flüssigkeit nach oben. Wenn er das früher gewusst hätte, hätte man sich viele blaue Flecken erspart. Auch dem Chef. Niemand widerspricht Ralf.
„Ich hatte so ein gutes Gefühl“, sagt er.
„Hier?“, frag ich. „Es sind vielleicht vierhundert Leute da.“
Ralf winkt ab. „Lennon wurde auch ohne Publikum erschossen“, sagt er. „Libanon kann ja jeder, das ist wie schummeln.“ Ralf überspringt gerne zwei Gedanken. Vielleicht liegt das an der vielen Musik oder er führt in seinem Kopf ein Interview mit dieser rothaarigen Studentin, seiner Muse.
„Ich weiß genau, was du jetzt denkst“, sagt Dirk, der noch immer die Hände um die Brust verschlossen hat. „Du brauchst endlich ein Ziel.“
„Das wird’s sein“, sag ich. „Komm, wir verschwinden hier.“
„Es wär so viel leichter, wenn ich eine Frau wäre“, sagt Dirk. „Schon mal von einer männlichen Muse gehört?“
„Einem Muserich?“, frage ich.
Dirk macht ein fletschendes Geräusch mit den Zähnen. Wir folgen Ralf, dem besten Menschenpflug aller Zeiten.
„Dirklinde Crichton“, sagt Dirk.
„Du könntest schwul werden“, sage ich.
„Hey“, Ralf dreht sich zu uns um, ich stoße mit dem Kopf gegen seine Brust. „Lass das. Mir hilft auch keiner.“
Wir hängen an einem Tresen und der Geschmack des Versagens hat sich in den Mündern der anderen beiden eingenistet.
„Nine Eleven“, sagt Ralf traurig.
„Oh Mann, nicht das wieder”, sagt Dirk.
„Los Angeles, ich war so dicht dran.“
Ich leg ihm eine Hand um die Schulter und sage: „Bitte, wir haben das schon sehr oft gehört.“
„Chicago, Washington, Los Angeles, New York. Ich hatte es auf vier Städte runtergebrochen. Aber Nein, wir mussten ja auf den da hören!“, murrt er und zeigt mit einem Finger auf Dirk.
„Ich dachte, die Idee zieht“, sagt Dirk.
„Die Riesenkrabbe? Du hast einfach kein Talent. Irgendeiner muss dir das mal sagen: Du hast einfach kein Talent.“
Dirk, der Ralf an einem guten Tag knapp bis zum Bauchnabel reicht, nun auf dem Barhocker aber zumindest Schulterhöhe erreicht, starrt ihn an.
„In zweitausend Jahren“, sagt Ralf. „In zweitausend Jahren hattest du nicht eine einzige, halbwegs vernünftige Idee! Sogar ein Schimpanse hätte in der Zeit wenigstens einen kleinen Erfolg gehabt. So was wie Phantom-Kommando, das hätte dir doch wirklich mal einfallen können. Unbreakable! Na! Unbreakable! Das ist doch mein Leben!“
„Diffundiert!“, sagt Dirk und zieht die Hände wie eine Quetschkommode auseinander. „Es ist einfach wegdiffundiert!“
Ralf stürzt seinen Drink runter, eine goldbraune Flüssigkeit, Dirk tut es ihm Sekunden später nach, knallt das Glas aber zuerst auf den Tresen: „Und was ist mit dir? Was für ein Scheiß Elends-Tourist bist du eigentlich? Du kannst ja nicht mal einen Grippeausbruch vorhersagen, der da“, sagt er und zeigt auf mich, „sogar der hat damals gesagt: Bleib bei Bobby Kennedy, der Blitz schlägt immer zweimal ein.“
„Der Blitz schlägt immer zweimal ein“, äfft Ralf. „Das ist doch das Dämlichste, was je einer gesagt hat.“
„Du bist so oft mit nem Scheiß Flugzeug geflogen, da hätte aus Zufall mal eins abstürzen müssen, rein statistisch.“
„Früher“, sagt Ralf. „Die Beulenpest, wer stand da am Hafen von Konstantinopel? Die Wiedertäufer in Münster, wer saß da unterm Käfig? Wenn du mal ein gescheiter Maler gewesen wärst …“
„Jetzt fang nicht wieder damit an, ich hab doch gesagt, die Malerei ist einfach nicht mein Medium.“
„Und ich hab nur eine kleine Pechsträhne.“
„Eine Pechsträhne. Seit die Fotografie erfunden wurde, klar eine kleine, vorübergehende Pechsträhne …“ Dirk macht wieder die Quetschkommode, diesmal zieht er sie zusammen.
„Es fing alles mit Lincoln an. Im Theater, wer erschießt denn jemanden in einem Theater!“
So kann das noch den ganzen Abend gehen, denke ich.
„Vielleicht können wir ja noch mal mit ihm reden“, sage ich und zeige mit dem Kopf nach oben. „Die anderen haben ja auch alle gute Jobs bekommen. Petrus am Tor, und der Rest – man hört nur Gutes – Santiago de Compostela, die pilgern immer noch zu Thomas’ Grab und der war ja wirklich nicht der Hellste, – und ihr? Was macht ihr? Nee, du, Chef, lass mal, wir machen das schon. Lass uns einfach hier bleiben, wir suchen uns schon eine Beschäftigung. Na, vielen Dank!“
Dirk dreht seinen Kopf zu mir und flüstert: „Beschreib deinen Schmerz. Nagt er an dir? Diese Leere? Wie fühlt es sich an? Heiß? Kalt? Wie ein Brennen?“
Und Ralf legt mir eine seiner Pranken um die Schulter und sagt: „Weißt du, wenn da eine Wut in dir ist. Unterdrück sie nicht. Wir könnten zurück zu dem Konzert gehen und auf dem Weg vielleicht noch einen Fotoapparat kaufen und ein kleines, handliches –“
„Ich red grad mit ihm!“, sagt Dirk
Ich schaue an die Decke der Kneipe. „Versteht ihr nicht, das ist ein Fluch.“
Dirk schaut mich skeptisch an, Ralf murmelt „So ein Käse.“
„Stell dir mal vor, du wärst der einzige Überlebende nach einem Flugzeugabsturz. Meinst du, das würde keinem auffallen?“
„Details“, sagt Ralf.
„Und bei dir, wenn du der neue Lyrik-Star wirst.“
„Eine Frage der Zeit“, sagt Dirk und nippt an seinem Drink. „Nur eine Frage der Zeit.“
„Wird dann vielleicht irgendeiner mal schauen, was für ein Privatleben du so führst. Wo du zur Schule gegangen bist? Wie deine Vergangenheit genau aussieht?“
„Er arbeitet doch nicht mit Flüchen, Mann. Er ist Jesus und nicht Bibi Blocksberg.“
Ich massiere meine Nasenwurzel. „Ihr habt zwei Möglichkeiten. Entweder ihr glaubt mir und es ist ein Fluch oder ihr beiden seid seit zweitausend Jahren die größten Luschen der Menschheitsgeschichte.“
„Weißt du, was dein Problem ist?“, fragt Dirk.
„Ja“, sag ich. „Ich hab genau zwei.“
„Du brauchst einfach ein Ziel.“
„Such dir doch eine Beschäftigung“, meint Ralf. „Damals mit Bobby Kennedy, das war doch eine gute Idee, vielleicht bist du ja hellseherisch begabt.“
„Hey! Ich könnte darüber schreiben: Der Prophet des jüngsten Tages! Eine packende Geschichte über einen zweitausend Jahre alten Unsterblichen, der ziellos durch die Weltgeschichte irrt, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen.“
Und Ralf ergänzt: „Ich könnte im Hintergrund mitspielen. Der Statist! Ich könnte in allen möglichen Filmen mitspielen. Jahrtausende lang und irgendwann würde eine rothaarige …“
„Wer redet denn hier überhaupt von einem Film?“
„Das bist du mir wirklich schuldig, du Gartenzwerg.“
„Seit zweitausend Jahren ziehst du mich runter, und ich soll dir irgendetwas schulden?“
Ich schaue erneut an die Decke der Kneipe. Es war ein Kuss, Chef. Vor zweitausend Jahren. Und du machst mich zum Schutzheiligen der hoffnungslosen Fälle.
„Oh schau, der feine Herr Judas hat wieder seine Identitätskrise.“
„Der braucht einfach eine Aufgabe“, meint Dirk.