Drei Worte
Halten Sie Ausschau nach einer Flaschenpost!
Wir haben Hunderte dem Meer anvertraut. Jede Flasche birgt einen kleinen weißen Zettel, einen Zettel mit einer Botschaft.
Drei Worte.
Drei Worte, die ihr Leben verändern könnten.
Als ich den anderen das erste Mal begegnete, geschah es auf einem Ausflugsdampfer. Sie kennen diese Butterfahrtsschiffe, zweigeschossig, nach hinten heraus mit einem offenen Deck, auf dem man sich bei gutem Wetter den Wind um die Ohren wehen lassen kann.
Ich war aus einer Laune heraus hier.
Vielleicht brauchte ich Abwechslung, neue Eindrücke. Das offene Meer. Vielleicht, ganz vielleicht, hegte ich die heimliche Hoffnung, ich könnte ein wenig schreiben.
Die Fahrt würde drei Stunden dauern. Ich trank meinen Kaffee und beobachtete die Leute. Der Dampfer war kaum ausgebucht, es war die falsche Jahreszeit. Draußen war es kalt und grau und das Aussichtsdeck war geschlossen. Ich verzog mich in die äußerste Ecke, nicht weit von der schmalen Treppe nach oben entfernt.
Ein junger Mann mit Rucksack war der Erste.
Er trat an den Aufgang, schwang ein Bein über die Kette, die den Durchgang versperrte, und schlüpfte unerlaubterweise nach oben aufs Deck. In seinem Rucksack klirrte es, als schlüge Glas aneinander. Wenig später tat ein gepflegter Herr im Anzug es ihm gleich. Auch er trug eine Tasche. Eine Frau mit buntem Schal folgte ihm. Sie sahen sich verstohlen um, schlüpften unter der Kette hindurch und in den Beuteln, die sie trugen, schlug Glas aneinander. Mein Kaffee war nur noch lauwarm. Ich zog meine Jacke über, trat wie beiläufig an den Aufgang. Als niemand hinsah, stieg ich über die Kette und folgte hinauf an Deck.
Die Sitzbänke und Tische waren nass vom Regen und es blies ein scharfer Wind. Doch einer Handvoll Menschen schien das nichts auszumachen. Sie standen verteilt an der Reling, jeder von ihnen hatte eine Tasche oder einen Rucksack bei sich, aus denen Flaschenhälse ragten. Und sie warfen diese Flaschen ins Meer. Obwohl sie sich gegenseitig nicht ansahen, nicht miteinander sprachen, so schienen sie sich doch zu kennen. Als folgten sie einem geheimen Ritual, blickten sie hinaus aufs Meer, griffen ab und zu nach einer Flasche und schleuderten diese mit Schwung über Bord, wobei sie darauf achteten, es nicht alle gleichzeitig zu tun. In jeder Flasche blitzte das Weiß eines aufgerollten Zettels auf.
„Ist das eine Flaschenpost?“
Ich wagte, eine alte Dame anzusprechen. Sie war eine von diesen Frauen, die sich auch in hohem Alter noch sorgfältig schminkten.
„Ganz recht, das ist eine Flaschenpost.“ Aus der Handtasche über ihrem Arm lugten Flaschenhälse verschiedener Form und Größe hervor. Die Korken waren mit rotem Wachs versiegelt, und in jeder steckte ein weißes Blatt Papier.
„Ich dachte, die werden nur von Schiffbrüchigen und Kindern geschrieben“, scherzte ich.
„Diese nicht. Diese hier enthält eine Botschaft.“ Mit Würde und Ernsthaftigkeit ließ sie eine Weinflasche über Bord fallen. Wir beugten uns über die Brüstung und sahen zu, wie die Flasche auf dem Wasser aufschlug. Sie verschwand in den grauen Fluten, aber kurz darauf tauchte sie ein Stück weit im Kielwasser des Schiffes wieder an die Oberfläche.
„Was für eine Botschaft?“
Die alte Dame lächelte. „Drei Worte. In der Flasche befinden sich drei Worte. Sie haben mein Leben verändert.“ Die feinen Falten um ihre Augen unterstrichen das Lächeln. „Meines und das der anderen hier.“
Ich sah mich um. „Wie meinen Sie das?“
Der Anzugträger, die Frau mit dem bunten Schal, der junge Mann mit Baseballcap … sie alle warfen dieselbe Botschaft ins Meer?
„Wir alle haben einst eine Flaschenpost mit den drei Worten erhalten. Und jetzt geben wir sie weiter.“
Der Wind zerrte an uns.
„Sehen Sie den jungen Mann da?“ Sie deutete auf den Rucksackträger. „Er war Praktikant in einer Firma, hat kaum genug verdient, um über die Runden zu kommen. Bis er sich getraut hat, sein Konzept der Geschäftsleitung vorzustellen. Jetzt ist er Abteilungsleiter.“ Sie drehte mich am Arm herum. „Der da hat lange gezögert, seinem Sohn die Verantwortung für den Familienbetrieb zu übertragen. Er hatte bereits einen Herzinfarkt und die Ärzte rieten ihm, kürzerzutreten. Doch erst als er eine Flaschenpost fand und die Botschaft las, war er bereit, in Rente zu gehen. Jetzt geht es ihm gut, sein Sohn leitet den Betrieb ohne Schwierigkeiten.“
„Und Sie?“
„Ich?“ Die alte Dame drückte mir eine Flasche in die Hand. „Mein Mann ist vor zwei Jahren verstorben. Fünfzig Jahre waren wir verheiratet gewesen. Die letzten zehn davon habe ich ihn pflegen müssen. Als er starb, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Plötzlich war ich allein. Dann fand ich eine Flasche beim Spaziergang am Elbstrand. Darin befand sich eine Botschaft. Es war, als wären die Worte direkt an mich gerichtet.“ Sie verstummte und bedeutete mir, die Flasche dem Meer zu übergeben. Ich ließ sie fallen, und sah zu, wie sie im Nass verschwand. Die alte Dame hakte sich bei mir unter. „Und was werden Sie jetzt ohne ihren Mann tun?“, fragte ich.
„Ich gehe auf Weltreise. In zwei Wochen geht es los. Ich habe das Haus verkauft und mich auf einem Kreuzfahrtschiff eingebucht. Ich werde aufbrechen und mir die Welt ansehen.“
Sie lächelte. Ich musste auch lächeln.
“Was steht denn nun auf dem Zettel?“
Sie tadelte mich mit dem Finger. „So funktioniert das nicht. Ich kann es Ihnen nicht einfach sagen. Die Botschaft muss zu Ihnen kommen. Sie müssen schon danach suchen. Halten Sie Ausschau nach einer Flaschenpost!“
Ich habe wohl ein säuerliches Gesicht gemacht. Jedenfalls fragte sie: “Und Sie, junger Mann? Was führt Sie hierher?“
„Och, ich dachte, ich könnte hier auf der Fahrt ein wenig schreiben. Die Eindrücke auf mich wirken lassen. Ich wäre nämlich gerne Schriftsteller, wissen Sie.“
Sie drückte meinen Arm. “Und? Worauf wartest du?“
Wieder zurück im Warmen setzte ich mich mit meinem Notizbuch hin und starrte aus dem Fenster. Ab und an sah ich eine Flasche im Wasser an mir vorbeiziehen. Molotowcocktails der Erkenntnis. Konnten Worte eine so große Macht haben? Drei Worte? War ich es nicht, der ein Schriftsteller sein wollte? Mit Worten Menschen erreichen? Seit Jahren träumte ich davon, eines Tages einen Roman zu schreiben. Mein Notizbuch lag jungfräulich auf dem Tisch vor mir. Ich griff in meine Jackentasche auf der Suche nach einem Stift, da stießen meine Finger gegen Glas. Ich zog eine kleine Schnapsflasche hervor. Der winzige Korken war sorgfältig mit rotem Siegelwachs verschlossen und innen aufgerollt lag ein weißes Stück Papier. Eine Miniaturflaschenpost. Ich erbrach das Siegel und schüttelte das kleine Papierröllchen auf meine Hand, entrollte das blütenweiße Papier und las die Worte.
Drei Worte.
Und ich verstand.
Inzwischen bin ich einer von ihnen.
An den Wochenenden fahren wir raus und schicken Flaschen mit der Botschaft auf Reise ins offene Meer. Wir werden immer mehr. Bald werden wir unseren Radius erweitern und auch in andere Gewässer aufbrechen müssen.
Ich schreibe an meinem Roman.
Wir haben Flaschen mit einer Botschaft ausgesetzt, einer Botschaft, die ihr Leben verändern könnte. Drei Worte! Worauf wartest du?
Halten Sie Ausschau nach einer Flaschenpost!“
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