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- 18.10.2019
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autobiographisch; Versuch einer Verarbeitung
Drei Weieren
Drei Weieren
Eher zufällig und spontan bin ich heute zu den «Drei Weieren» hoch; rastlos schlenderte ich durch die Stadt,
auf der Suche nach mir, auf der Suche nach Ruhe. Ziellos fuhr ich mit dem Wagen umher, in Zeitlupe, und doch
in unerklärlicher Eile. Wohin, wozu, wie lange noch? Wo könnte ich Besinnung finden? Welcher Ort in der Nähe
hat Tiefe und gleichzeitig Perspektive, ermöglicht Weitblick? Drei Weieren! Ich musste wenden, um dorthin
fahren zu können; aber dann war ich überzeugt, dass es richtig ist, dass ich das jetzt endlich machen sollte.
Ich habe nicht gedacht, dass der Ort mich noch so anfassen würde. Ich erinnere mich noch zu genau, dass die
Kerze nicht erlöschen wollte, dass der eigentlich kräftige Herbstwind vor nun fast sechs Jahren das kleine Boot
verschonte, das Boot, das wir aus einem einfachen Brettchen gesägt hatten, und das das Teelicht über das
Wasser trug. Immer wieder haben wir auf dem Weg zurückgeblickt und neu aufgeweint, wenn wir gesehen
haben, dass das Licht immer noch brannte; da haben wir verstanden, was wir getan haben, gespürt, dass es
nicht richtig war, dass wir es nicht hätten tun dürfen.
Aber, wohin hätte es geführt? Hätten wir die Kurve geschafft? Wäre es besser geworden, zu dann fünft? Oder
hätte noch ein Wesen mehr unter all dem Streit gelitten, hätte noch ein hungriges Mäulchen gefüttert werden
müssen, hätten wir noch weniger Zeit gehabt für ein sanftes Beilegen der Streitigkeiten?
Ich war sicher, dass wir es nicht schaffen würden, dass es uns vollends überfordern würde. Dass womöglich
irgendwas Schlimmes passieren würde, wenn noch mehr Verantwortung auf mir lasten würde. Ich gebe zu,
dass ich es forciert habe; dass ich Dich motivieren musste, überzeugen, überreden musste; dass Du eher nur
funktioniert hast, es hast geschehen lassen, es hast über Dich ergehen lassen.
Als alles halbwegs überstanden schien, hattest Du die Idee mit dem Ritual; an welchem Tag war das nochmal?
Ich erinnere kein Datum und kann auch keines rekonstruieren; irgendwann im Spätherbst 2013 muss es
gewesen sein. Wir wollten ein Ritual versuchen, um die Seele loszulassen, um ihr ein neues, besseres Zuhause
zu ermöglichen. Hatte sie das verstanden? Hatte sie UNS verstanden? Konnte sie uns verzeihen? Konnte sie
etwas Neues finden? Wissen wir das? Können wir irgendwie irgendwo das nachlesen, das herausfinden? Nein,
können wir nicht; können wir nicht.
Der Ort war heute herbstlicher, wärmer, auch heller. Ein Weiher war trocken gelegt für Bauarbeiten an den
sicher hundert Jahre alten Gebäuden der Badeanstalt dort; man konnte die Konstruktion sehen, die
Fundamente, die gemauerten Pfeiler sehen, die sonst immer unter Wasser sind. Auch den Grund des Weihers
sehen, den Schlamm, die grössere graubraune Pfütze, die noch geblieben ist. Nackt und offen lag er da,
ungeschützt, ausgetrocknet, gestorben.
Im mittleren Weiher sass auf einem Steg ein junges Paar, einander zugewandt, schweigend, sehr nah. Offenbar
besprachen sie etwas, klärten etwas, entwarfen vielleicht eine gemeinsame Zeit. Was für ein schöner Ort, um
sich zusammen auf einen Weg zu machen! Ich sah ihnen zu, setzte mich auf eine Bank, wurde müde, legte mich
auf die Bank, zog die Jacke aus und stopfte sie mir unter den Kopf, entnahm dem Knäuel die Kapuze und
verbarg so meine Tränen. Ich muss eingeschlafen sein, kurz, sicher nicht lange, Hundegebell in der Ferne
weckte mich. Das Paar sass noch immer dort, ich stand auf und setzte meinen Weg fort. «Macht es besser!»,
flüsterte ich ihnen zu.
An dem Häuschen vor Kopf, von wo wir das Bötchen damals losschickten, verweilte ich nur kurz; zu sehr
übermannte mich die Erinnerung, zu sehr wollte ich vermeiden, dass man einen erwachsenen Mann dort
weinen sieht. Ich ging den Weg zurück, den auch wir zurückgegangen sind; das Auto ist immer noch dasselbe…
Was würde ich dafür geben, wenn wir das endlich aufräumen könnten.