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Drei Tage
Drei Tage danach.
Marie öffnete den obersten Knopf ihrer verschwitzten Bluse und lehnte sich im Bürostuhl zurück. Dann füllte sie zum dritten Mal das Glas zwei Finger breit mit Single Malt und kippte sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit hinunter, ohne das Gesicht zu verziehen. Ihre Armbanduhr zeigte Viertel vor zwei Uhr nachts. Marie konnte kaum noch atmen, die stickige Luft in ihrem kleinen Büro verursachte ihr Kopfschmerzen. Sie riss das Fenster auf und setzte sich auf das Fensterbrett. In der linken Hand hielt sie eine Akte, die vom ständigen Durchblättern zerknittert war, mit der rechten zündete sie sich eine Marlboro Light an und blies den Rauch in die Dunkelheit.
„Irgendwo da draussen versteckst du dich“, murmelte sie, während gleichzeitig ein Schwall Rauch aus ihrem Mund strömte. „Wir werden dich finden! Und dann kriege ich dich dran, darauf kannst du Gift nehmen!“
Seit drei Tagen hatte Marie kein Auge mehr zugetan. Als sie das Vibrieren ihres Diensthandys hörte, liess sie sich vom Fensterbrett gleiten, die Kippe zwischen den Zähnen.
„Verdammt, wo ist denn jetzt dieses Scheissteil“, zischte Marie vor sich hin, tastete im Chaos von Papieren und Büchern nach ihrem Telefon, bis sie es schliesslich unter einem leeren Pizzakarton fand.
Marko leuchtete auf dem Display auf, daneben ein Herz. Sie drückte ihn weg. Kaum aus der Hand gelegt, klingelte das Handy erneut. Diesmal war es der Chefermittler der Polizei. Nervös nahm sie den Anruf entgegen.
Drei Tage zuvor.
„Staatsanwaltschaft“, sagte Marie knapp, bevor man das Absperrband zur Seite schob und sie in das Wohnzimmer eintreten konnte. Eine Person lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich, eine zweite befand sich in sitzender Position auf dem dunkelgrünen Sofa, den Kopf unnatürlich nach hinten geknickt. Bevor Marie regelmässig an Tatorte ausrücken musste, war ihr nicht bewusst gewesen, dass Blut stank. Ja, in der ganzen Wohnung stank es nach Blut und Tod und Verzweiflung. Sie kniete sich neben die Leiche auf dem Teppich, in deren Hinterkopf gut sichtbar ein Einschussloch prangte. Es war eine junge Frau in ihrem Alter, vielleicht Mitte Dreissig. Der Typ auf dem Sofa war etwas älter und trug einen teuren Anzug von Baldessarini. Wäre sein weisses Hemd nicht blutdurchtränkt gewesen, hätte man glauben können, dass er nach einer durchzechten Nacht eingeschlafen sei.
Marie hielt sich den linken Arm vor Mund und Nase, damit der Geruch ihren Verstand nicht vernebelte. Die Spurensicherung war bereits bei der Arbeit. Es gab keine durchwühlten Schränke und keine Unordnung, was einen Raubmord unwahrscheinlich erscheinen liess. Alles sah nach einem Verbrechen aus Leidenschaft aus. Kurz notierte sich Marie einige Details, besprach sich mit dem Chefermittler der Polizei. Sie wusste, was ein Doppelmord bedeutete – schlaflose Nächte, ein pausenlos klingelndes Diensthandy und kein Privatleben, bis der Täter gefasst war.
Als Marie endlich ins Freie trat und die Nachtluft einatmete, standen bereits ein Dutzend Journalisten mit Kameras vor dem Gebäude, bereit, die Sensationsgier der Leute zu stillen und die Zeitung des nächsten Tages mit Neuigkeiten zu füllen. Sie drängte sich an ihnen vorbei und flüchtete um die Ecke in eine Seitenstrasse, wo ihr schwarzer Audi stand. Mit einem Bein auf dem Fahrersitz kniend, suchte sie im Handschuhfach nach ihrer zerknautschten Packung Marlboro Light, steckte sich eine Kippe in den Mund. Für einen Moment lehnte sie sich gegen die Motorhaube und lauschte dem beruhigenden Knistern, wenn die Zigarette aufglomm.
Drei Tage danach.
„Treffer!“
Nachdem Marie die Worte des Chefermittlers hörte, nahm sie nichts mehr wahr, griff nur noch instinktiv nach ihrem Blazer, der über der Stuhllehne hing, und stürmte aus dem Büro. Als sie den langen Flur zum Verhörraum entlangschritt, umgab sie die gewohnte grosse Leere, die sie immer spürte, kurz bevor sie einen Beschuldigten vernehmen musste. Es war keine Nervosität, sondern vielmehr absolute Fokussierung auf ihre Arbeit, die sie liebte. Kurz liess sie ihre Hand auf der kalten Metallklinke ruhen, bevor sie eintrat. Das war ihr Ritual. Drei Mal einatmen, drei Mal ausatmen. Eintreten. Erst als sie sich gegenüber der von Polizisten bewachten Person an den Tisch setzte, blickte sie ihr zum ersten Mal in die Augen – und erschrak.
Damit hatte sie nicht gerechnet.
Drei Tage zuvor.
Nach dem letzten Zug von ihrer Zigarette schnippte Marie die Kippe weg und stieg in ihren Audi, um nach Hause zu Marko zu fahren. In der Küche brannte Licht, obwohl es schon ziemlich spät war. Sie warf ihren Autoschlüssel auf den Küchentisch. Dann sah sie ihren Ehemann.
„Marko“, sagte sie. Das war alles.
„Verdammt, Marie, was machst du denn schon hier!“ Marko sprang vom Sofa auf, und mit ihm die höchstens fünfundzwanzigjährige Nachbarstochter.
Marie wartete auf die berühmten Worte, aber den Beteiligten war klar, dass hier alles genau so war, wie es aussah. Sie starrte die beiden an und schwieg.
Das war ein verdammter Tatort, und sie war einmal mehr mittendrin.
Drei Tage danach.
Vor ihr sass eine Frau in Handschellen.
Konzentrier dich, verdammt. Marie spürte ein Rinnsal aus Schweiss über ihren unteren Rücken perlen, während sie durch die Papiere blätterte, die auf dem Tisch im Verhörzimmer bereitlagen, um ihr die nötigen Informationen zu liefern.
„Rahel Tannenberg, Sie werden verdächtigt, am 21. Juli 2017 in die Wohnung ihrer Nachbarin eingebrochen und diese sowie ihren Ehemann mit mehreren Schüssen getötet zu haben. Was sagen Sie dazu?“ Marie war ungewohnt unsicher, und das machte ihr Angst.
Die Beschuldigte legte die Hände auf den Tisch, ohne den Blick von Marie abzuwenden.
„Ja“, sagte sie nur. „Ja, das habe ich, und dieser Mistkerl hat es verdient!“
Marie schwitzte, in diesem Raum schien es unerträglich heiss. „Schildern Sie, was an jenem Abend passierte“, forderte sie bestimmt, aber sie spürte, dass ihre Stimme zitterte.
„Er betrog mich mit dieser Schlampe von nebenan, ich habe ihm immer wieder verziehen, doch es hörte nicht auf, es hörte nie auf! Die ganzen Lügen machten mich krank. Er hat mein Leben zerstört, mein Vertrauen, einfach alles!“
„Ich verstehe“, erwidert Marie. Jetzt sollte sie die Beschuldigte am Reden halten, ihr jegliche Details entlocken, um einen klaren Fall für eine klare Anklage zu bekommen. Aber es ging nicht. Da war plötzlich dieses Verständnis für die Frau, die ihr in Handschellen gegenübersass.
Marie stand auf.
„Einen Moment bitte“, sagte sie und verliess den Raum. Draussen lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die kühle Backsteinwand. Die Bluse klebte an ihrem Körper. Mit zittrigen Fingern kramte sie ihr Smartphone hervor und wählte Markos Nummer.
„Verschwinde aus meinem Haus, Marko, verschwinde aus meinem Leben! Ich will nichts mehr von dir und deinem Kram sehen, wenn ich nach Hause komme!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie auf.
Drei Tage zuvor.
„Ich liebe dich, Marie“, flehte Marko sie an. „Das war der grösste Fehler meines Lebens, das schwöre ich dir!“
Sie erwiderte nichts, stand nur da. Das war eine dieser Situationen, deren Ausgang hätte klar sein müssen, die sich aber in Wirklichkeit ganz anders abspielten. Sie warf ihn nicht raus. Sie brauchte ihn, auch wenn das bedeutete, dass sie es nicht mehr ertragen würde, sich selbst im Spiegel zu betrachten.
„Ich hasse dich“, sagte sie leise, und es stimmte. „Ich hasse dich!“
Mit der flachen Hand schlug Marie gegen Markos Brust, schreiend und weinend, bis sie in seinen Armen zusammenbrach.
Marko hielt sie fest. „Verzeih mir“, flüsterte er, und es war keine Bitte. Es war ein Befehl.
Drei Tage danach.
Das Verhör dauerte drei Stunden. Als Marie endlich zu Hause ankam und den Schlüssel in das Schloss ihrer Haustüre steckte, fühlte sie sich befreit. Im Innern war es dunkel und still. Erleichtert ging sie in die Küche, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Mit den Unterarmen auf den Chromstahl gestützt stand sie am Spülbecken und liess den Kopf sinken. Plötzlich hörte sie leise Schritte.
„Marko, nein!“, schrie sie, aber da drückte er ihr bereits mit beiden Händen die Kehle zu und stiess sie gegen die Wand, die sie bei ihrem Einzug gemeinsam eierschalenfarben gestrichen hatten.
„Du wirst mich nicht verlassen!“ Seine Stimme klang fremd. Er drückte noch fester zu, um sie dann fallen zu lassen. Marie sank röchelnd neben seinen Füssen zu Boden und schluchzte.