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Drei Tage Ligurien
Drei Tage Ligurien
Eine Lemmingway-Geschichte
Eine Lemmingway-Geschichte
Es war im Juni.
«Glaubst du», fragte sie, «glaubst du, wir haben Glück?»
«Wieso fragst du?», fragte er.
«Ich meine: Glaubst du, wir kommen durch?»
«Ich weiß nicht. Ich weiß nur, es wird sich alles ändern.»
Ihr Ford stand neben dem Hotel. Die Straße schlängelte sich die Küste lang. Über dem Meer flirrte die Sonne. Pasolito lag auf einem Hügel. An der Piazza lag ein Restaurant. Er bestellte Krebssuppe, sie Thonsalat. Den Wein ließ er sie aussuchen.
«Sag einmal», sagte sie, «wie geht’s eigentlich Franziska?»
«Franziska? – Ich kenne keine Franziska.»
«Ich meine die, für die du schreibst.»
«Die Stories?»
«Ja, die Stories. Diese grässlichen, öden und miesen Stories über einfältige Burschen und deren gemeinen und niederträchtigen Väter.»
«So niederträchtig sind die nicht.»
«Hat er nicht seine Frau und seine beiden Söhne erniedrigt?»
«Wer?»
«Na, der in der letzten Geschichte.»
«Nein, eigentlich nur sich selbst.»
«In dieser neuen Skizze, dieser witzlosen Anekdote, die du schreibst, stellst du ihn aber ganz schön widerlich dar.»
«Du meinst die Stories?»
«Natürlich, von was rede ich denn die ganze Zeit?»
«Ja, die Stories. Aber da ist etwas, etwas dunkles, darüber kann man nicht reden.»
«Ach so, na dann. Bitte schön!»
Auf dem Rückweg schwiegen sie. Sie fuhren durch das Hinterland. Die Straße schlängelte sich zwischen Olivenhainen und staubigen Gehöften durch. In Porto Santa Pietra trockneten Fischer ihre Netze. Fischer, Netze und Wellblechschuppen erinnerten ihn an das Pier 42 in San Antonio, Chile. Dort hatte er mit einem Mann namens Buk Forsey gearbeitet.
«Habe ich dir schon von Buk erzählt?», sagte er. Er steuerte an den Fischern vorbei. Ein Fischerjunge musste beiseite springen. Er hätte ihn sonst überfahren.
«Ja, hast du.»
«Habe ich dir auch erzählt, dass Buk zwei Jahre in San Antonio war?»
«Ja, hast du.»
«Buk war unbeschreiblich, wirklich, ganz große Klasse. Er hatte den flachen Blick eines Maschinengewehrschützen. Einen zweiten wie ihn habe ich nie mehr gesehen. Ich meine, jeder von uns war ein Ass. Buk aber war …»
Sie drehte das Radio an. Sie wusste, wie es war in Italien: Radiomoderator gleich Quasselmoderator.
Dann machte sie es. Sie stellte das Radio nach und nach lauter. Er erzählte einfach weiter.
«Buk hatte da so etwas an sich», rief er, als würde sie noch zuhören.
Sie drehte das Radio noch lauter. Er wurde auch lauter.
«Man konnte nicht sagen, was es war. Wer Buk aber kannte, der sah es.»
Sie drehte das Radio noch einmal lauter und wandte sich ab. Er begann zu brüllen.
«San Antonio war ein verdammt heißes Nest in Chile.» …
Er war ganz der Stier, dem man ein rotes Tuch vorhält. Er steigerte sich in einen Kampf mit dem Radiomoderatoren hinein. Sie lächelte, denn er hatte nicht bemerkt, wer von ihnen der Matador war.
Im Hotel gingen sie auf das Zimmer. Sie trat ans Fenster. Auf der Gartenmauer des Nachbarhauses saß eine Katze. Er stellte die Tasche mit den Strandsachen neben die Tür.
«Lass sie dort nicht stehen», sagte sie. «Die Badetücher müssen zum Trocknen aufgehängt werden.»
«Ja», sagte er und ging auf die Toilette. Sie hörte ihn urinieren.
–oOo–
Ihr Tisch stand vor einer Wand aus Spiegeln. Sie bestellte sich einen Meersalat mit Crevetten, er Pasta al Livorno.
«War’s nicht genauso, wie ich’s gesagt habe?», fragte sie.
«Was?»
«Ach, nichts», sagte sie.
«Sag’s mir, Mädchen, ich will’s wissen.»
«Ich weiß, du möchtest es wissen.»
«Ja, ich will’s wissen, auch wenn’s gefährlich ist.»
Sie schwiegen. Er sah im Spiegel zu, wie sie Crevetten schälte. Der Kellner fragte, ob sie noch gerne Wein hätten. Sie nickten beide. Der Kellner holte eine zweite Flasche Nero di Pavese.
Als sie zum Auto liefen, war die Katze auf der Gartenmauer weg.
«Willst du fahren?», fragte er.
«Du kannst es nicht verstehen», sagte sie.
«Du wirst es mir zeigen, stimmt’s?»
«Ja, wenn’s so weit ist, wirst du’s sehen.»
«Dann fahre ich», sagte er.
Sie hatte das Seitenfenster geöffnet. Die Geräusche des Autos übertönten ihr Summen. Ihre Blicke gingen auf das Meer hinaus. Im Mondschein glänzten die Wassermassen am Horizont.
«Weißt du eigentlich», sagte sie, «wie lang wir schon zusammen sind?»
«Nein, aber du wirst es mir gleich sagen.»
«Es ist nicht so, wie ich’s mir gedacht habe.»
«Was?»
«Na alles, das ganze.»
«Wegen der Stories?»
«Du sagst doch selber: Da ist etwas Dunkles.»
«Ja, habe ich gesagt. Aber ich weiß halt auch nicht.»
«Hast du die Strandsachen aufgehängt?»
«Nein, habe ich nicht.»
Sie schaute zum Seitenfenster hinaus. Wenn sie sich nicht täuschte, waren die Lichter in der Ferne, die von Genua. Aber vielleicht täuschte sie sich.
Er stand am Rand der Klippe. Sie stand neben ihm. Der Wind blies. Wellen brandeten gegen die Felsen.
«Warum bist du so grob?», fragte sie.
Er schwieg. Sie wartete eine Weile und fragte dann: «Wieso schreibst du eigentlich?»
Nachdem sie wieder eine Weile auf eine Antwort gewartet hatte, fragte sie weiter: «Ist es das wert?»
«Die Stories?», fragte er zurück.
«Ich meine den Müll, dem du alles opferst. Wieso bist du so gemein?»
«Wieso Müll?»
«Ich bin nicht deine Franziska!»
«Ja», sagte er. «Meine widerlichen, trostlosen und lausigen Stories über das Leben und die Jugend, und über saufende, gewalttätige Vaterfiguren, die – aber die können nichts dafür. Es war schon immer so.»
Er schaute die Klippe hinab. Sie trat hinter ihn. Er wusste, dass ein Sturz in den Abgrund gefährlich wäre. Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte er: «Weißt du, als ich sieben war, sagte er einmal: Kleiner, hör mir gut zu! Im Leben ist es wie damals, in Vietnam, in den Sechzigern. Es war da verdammt heiß. – Danach schaute er mich prüfend an. Ich wusste, dass ich antworten musste. Ich sagte: Na klar, dort war es verdammt heiß. Er sah, dass ich nichts verstanden hatte, und sagte: Glaub mir, Kleiner, irgendwann wirst du’s verstehen.»
Man konnte das Meer hören, dessen Wogen gegen die Küste rauschten. Eine Möwe schrie. Man konnte Seetang riechen. Der Mond schien. Die Möwe flog auf das Meer hinaus.
«Vietnam?», fragte sie. «Habe ich richtig gehört, du redest von Vietnam?»
«Ja, mein Bruder sagte oft solche Dinge. Da war etwas in ihm. Ich weiß nicht, was. Aber es war etwas Dunkles.»
«War er dort?»
«Wo?»
«Im Krieg, meine ich.»
«Nein, er hatte Asthma. Die nehmen keinen, der Asthma hat.»
«Na klar, er hat nur so geredet. Aber da ist etwas, das dir nicht klar ist und trotzdem wichtig vorkommt. Ich habe allerdings jemanden getroffen. Mir ist jetzt alles klar.» Sie trat näher an ihn heran. Er stand zwischen ihr und dem Rand der Klippe.
–oOo–
Sie setzte sich hinters Lenkrad. Es war einfach geschehen. Sie war erstaunt, wie schnell es gegangen war. Vielleicht war da wirklich etwas Dunkles gewesen. Sie lachte. Immer hatte er geraunt: Ein Eisberg liegt zu Sieben Achteln unter Wasser. Dort liegt so vieles verborgen. Das kannst du nicht verstehen, aber glaub mir einfach. - Ja, wer weiss, vielleicht lag da etwas verborgen, von dem wir bloss ahnten.
Sie startete den Wagen und fuhr über den Feldweg zur Autostraße. Sie bog auf die Fahrbahn ein. Als sie auf die Autobahn fuhr, machte sie das Radio an. Auf dem Beifahrersitz lag ihre Handtasche. Sie griff hinein und zog ein Handy hervor.
«Hallo Franziska», meldete sie sich kurz darauf. «Geht es dir gut? – Schön, das hört man gerne. Ich wollte nur sagen, dass es gut gelaufen ist … Ja, ich melde mich wieder, wenn ich in den Staaten bin. Also, bis dann!»
Sie legte das Handy in das Fach zwischen den Sitzen.
Bei einer Raststätte lenkte sie den Wagen auf den Parkplatz, ging auf die Toilette und holte sich am Automaten eine Light-Limonade. In der Ferne sah sie Lichter. Es waren die von Genua, nicht die von San Antonio und auch nicht die von Casablanca.
– Ende –