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Drei Sekunden
Ich blicke von meinem Buch auf, erwarte sie quietschend vor Lachen auf der Schaukel zu sehen, mir zurufend, ich solle mit ihr spielen. Erwarte sie kurz darauf auf mich zuzukommen und mich zum Klettergerüst zu ziehen, wobei ihr völlig egal ist, dass ich genervt protestiere. Doch anscheinend höre ich ihre unerträgliche Lache schon chronisch, denn erst als ich meinen Blick auf die Schaukel richte, fällt mir auf, wie still es geworden ist. Die Schaukel ist leer und pendelt ruhig vor sich hin. In nur drei Sekunden schießen so viele Gedanken durch meinen Kopf, so viele Fragen durchbohren ihn. Die leichte Brise, die mir schon den ganzen Tag das Gesicht kühlt, erscheint mir auf einmal unwirklich kalt und die Sonne wirft Dunkelheit auf den verlassenen Spielplatz. Würde ich nicht spüren, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt, stünde ich jetzt auf und suchte sie am Klettergerüst, überzeugt, sie spiele Verstecken mit mir.
Doch so ist es nicht.
Das ist kein Spiel, sagt mir mein Bauch.
Ach, die kommt schon irgendwann wieder, sie will dich sicher nur wieder reinlegen, sagt mir mein Verstand.
Ich spüre, wie die Blässe in mein Gesicht steigt, als ich realisiere, dass mein Bauch recht hat.
Wo ist sie?, fleht mein Herz und pocht stärker in meiner Brust, sodass ich befürchte, meine Rippen könnten brechen.
Ich atme kurz und schwerfällig, die Stimmen in mir werden lauter.
Es ist kein Spiel, sagt mir mein Bauch.
Die kommt schon wieder, sagt mir mein Verstand.
Wo ist sie?, fleht mein Herz.
"Lyla!", schreit meine Stimme.
Schnell fällt mein Blick auf den kleinen Schuh, der grau und einsam am Fuß eines Mauerstücks liegt.
Lylas Schuh.
Ich möchte dort hin rennen, ihn nehmen und nach Lyla suchen. Doch meine Glieder sind erstarrt, ich kann mich nicht rühren.
Tränen brennen mir hinter den Augen, ich spüre das Blut in meinen Adern pulsieren und mein Herz weiter gegen den knochigen Käfig hämmern. Der Wind weht mir eine krause Haarsträhne ins Gesicht, doch wenn ich auch nur daran denke, sie mir hinter das Ohr zu streichen, wird mir übel. Ich habe mich die ganze Zeit nur für mein Aussehen und meine dummen Bücher interessiert, habe Lyla ignoriert und nur an mich gedacht, ich bin schuld, dass sie...ich weiß es nicht. Ich weiß nicht wo sie ist, bei wem sie ist, warum sie dort ist und ob...ob sie diesen Ort jemals wieder verlassen wird. Bei diesem Gedanken hasse ich mich so sehr, dass ich mir, hätte ich eines zur Hand, ohne zu zögern ein Messer in die Brust rammen würde, könnte ich Lyla dadurch helfen. Doch ich kann es nicht, und das weiß ich. Weder ich kann ihr helfen, noch irgendjemand anders. Mit einem Mal verstehe ich überhaupt nicht mehr, warum ich ihr gegenüber immer so abweisend war. Schuldgefühle durchzucken mich und lassen einen stechenden Schmerz durch meinen erstarrten Körper fahren. Sie hat mir doch nie etwas getan, warum konnte ich nicht einmal von meinem Egoismus ablassen und etwas mit ihr spielen? Oder sie einfach mal in den Arm nehmen? Warum habe ich mich immer zwingen lassen, bevor ich mit ihr auf den Spielplatz gegangen bin und mich dann doch nur um mich selbst gekümmert habe? Ich würde alles mit ihr spielen, käme sie doch nur heil aus irgendeiner Nische gekrochen und lachte mich aus, weil ich auf ihren Scherz hereingefallen war.
Doch sie kommt nicht.
Und auf einmal weicht das Schuldbewusstsein der Angst. Was soll ich nur sagen, wenn ich nach ihr gefragt werde? Dass ich sie ignoriert habe und mich genervt in mein Buch verkrochen habe? Dass ich nicht aufgepasst habe, weil sie mir zu anstrengend war? Dass es mir egal war, wie es ihr ging und ich nur an meine Ruhe gedacht habe? Das alles wäre die Wahrheit. Und diese Wahrheit tut so verdammt weh.
Ich liebe sie, das weiß ich jetzt.
Nur dass es dafür inzwischen zu spät ist.
Als ich kurz darauf meinen Blick abermals auf die Schaukel richte, die einsam und nur vom Wind angetrieben vor und zurück schwingt, sehe ich etwas kleines Rosafarbenes vor ihr auf dem Boden liegen. Eine Haarschleife.
Lylas Haarschleife.
Meine Brust verengt sich, als wolle sie meine Lunge daran hindern, weiterhin Sauerstoff durch meinen Körper zu pumpen, wolle mich daran hindern zu atmen. Die Stimmen in mir werden lauter, fast schon schreien sie mich an.
Es ist kein Spiel!, schmettert mein Bauch.
Wo ist sie? Wo ist sie?, ruft mein Herz verzweifelt immer und immer wieder, mit jedem Mal lauter und eindringlicher.
Mein Verstand ist verstummt.
Meine Brust wird enger und mein Herz versucht nur noch panischer aus ihr zu entkommen, hämmert gegen die schwachen Knochen und ein weiterer stechender Schmerz durchzuckt mich. Die Tränen brennen stärker hinter meinen trüben Augen, aber sie fließen nicht. Dafür fühle ich mich zu taub. Zu erstarrt. Fühle mich...tot. Fühlt es sich so an, wenn man stirbt? Wenn ja, dann werde ich hier sterben, auf einer hässlichen Bank auf einem hässlichen Spielplatz. Ich bin unfähig mich zu bewegen, spüre nur diesen Schmerz, der mich aussaugt, mich tritt und schlägt, mir ins Gesicht spuckt und mich spüren lässt, wie qualvoll Liebe sein kann, wenn man sie nur zu spät entdeckt. Ich sehe die in Schatten getränkte Schaukel, wie sie hin- und herpendelt, ihr leises Quietschen fährt mir durch alle Glieder, kriecht mir unter die Haut wie eine Spinne, die ihre dürren Glieder streckt, mir langsam die Zellen zersticht und mich von innen sterben lässt.
Ich habe nur noch einen einzigen Wunsch. Ich möchte meine Arme um Lyla legen, sie behutsam hin- und herwiegen, ihren Atem auf meinem Arm spüren und ihr ein Märchen erzählen. Sie hat sich das immer gewünscht, ich habe immer wütend nein gesagt und sie angeschnauzt, dass ich Besseres zu tun hätte als einem 4-jährigen Mädchen dumme Geschichten zu erzählen.
Wie konnte ich so gemein sein?
Wie konnte ich nur so grausam zu meiner eigenen Schwester sein?