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Drei Schüsse
Der Mann versucht seine Hände unter den Achseln aufzuwärmen. Vergeblich. Selbst unter den Fäustlingen werden die Finger taub und unbeweglich. Die Haut nimmt zunehmend einen weiß-grauen Ton an und schmerzt beim kleinsten Versuch einer Bewegung. Seine Füße nimmt er nur noch als steife Klumpen wahr, deren Geschwüre gegen die Mokassins drücken.
Kälte und Schnee. Seit Tagen nichts als frostiger Nordwind und gelegentlich auftretender Schneefall. Gewohnheitsgemäß mahlt er Kautabak zwischen seinen gelben Zähnen. An guten Tagen bekam er stets ein viertel Pfund davon zu seinem Lohn dazu, vorausgesetzt die Lieferung wurde als zufriedenstellend erachtet. Unfähig, den andauernden Speichelfluss Einhalt zu gebieten, bilden sich stetig wachsende, bernsteinfarbene Eiskristalle in seinem schwarzen, verfilzten Bart. Der schneidende Wind schmerzt im Gesicht. Automatisch reibt er sich mit der Rückseite des Fausthandschuhs Wangenknochen und Nase. Sobald er damit aufhört, stellt sich das taube Gefühl in seinem Gesicht wieder ein. Jeglicher Bewegung seiner Glieder entmächtigt, hockt er zusammengekauert an einem etwa 20 Fuß hohen, grauen Felsen.
Unlängst konnte er noch einige Runden um sein Quartier traben, um die Blutzirkulation anzuregen und sich somit warm zu halten. Er kletterte sogar einige Male den Felsen hinauf und heulte im Einklang mit den Wölfen. Ohne es bewusst wahrzunehmen, fühlte er sich, als einzig denkendes Wesen, wie der Herr von jenem Abschnitt der ungezähmten Wildnis, den er für sich beansprucht hatte. Sein Geist hat die Natur erobert und die Natur ihn. Instinktiv verschmolzen sie zu einer Einheit. Die ihm anerzogenen Konventionen wurden plötzlich bedeutungslos. Er verspürte Freude darüber, zu glauben, sich im Urzustand menschlichen Seins zu befinden. Er war froh, es alleine zu schaffen. Und er war froh, frei zu sein. Sein Revolver lag schwer und gut in seiner Hand. Übermannt von stiller Euphorie, schoss er dreimal in den Himmel, um die Lichtung endgültig zu seinem Besitz zu erklären. Hätte sich zu diesem Zeitpunkt noch Jagdbares in der Nähe befunden, so war es von nun an fort. Das störte ihn jedoch wenig. Die Begeisterung machte ihn blind für die Realität. Er fühlte sich sicher, da er im Umkreis einer Meile genug Fallen aufgebaut hatte und zudem noch im Besitz von einem Sack Reis und über zwei Pfund Trockenfleisch war. Zwar waren die Bäche größtenteils zugefroren, doch konnte er jederzeit Schnee über dem Feuer schmelzen.
Vor seinen Füßen sieht er die Überreste des abgebrannten Lagerfeuers. Die Glut ist bereits erloschen. Wie lange schon, vermag er nicht zu sagen. In den letzten Jahren lernte er das Land gut kennen und weiß, dass er zu dieser Jahreszeit die Sonne tagelang nicht zu Gesicht bekommen würde, selbst dann nicht, wenn keine Wolke den Himmel streifte. Diese Tatsache erschwert ihm, einzuschätzen, wie viel Zeit er bereits hier draußen verbringt. Er weiß nur, dass es kalt ist und er aus eigener Kraft kaum fähig sein würde, all die Meilen zurück zu wandern, zumal seine dürftigen Vorräte aufgebraucht sind. Was würde ihn zuhause schon erwarten? Diese bittere Erkenntnis und seine Unbeweglichkeit entledigen ihn von zufriedenstellenden Perspektiven. Wie in Trance starrt er in den Fichtenwald, der ihn zu umzingeln scheint. Die Lichtung begrenzt seinen Kosmos auf das Wesentliche.
Das Leben hat sich zurückgezogen, als beuge es sich einem höheren ungeschriebenen Gesetz.
Selbst die Wölfe haben aufgehört zu heulen. Zumindest glaubt er das. Seine Sinne lassen nach. Er versucht anstatt ihrer zu heulen, doch seine Kehle schmerzt. Ein trockenes, lebloses Krächzen durchschneidet die Stille. Rote-braune Flecken aus Blut und Speichel bilden ein blütenartiges Muster im Neuschnee. Gespannt betrachtet er das Gebilde, während er mit seinem Handrücken über die trockenen, aufgeplatzten Lippen fährt.
„Was hast du im gottverdammten Norden verloren, Trottel? Ich gebe dir maximal 'n paar Monate, bevor du mit eingezogenem Schwanz und völlig pleite zurückkommst. Die nach Gold buddeln, haben die besten Tage schon längst hinter sich gelassen. So isses doch. Alles Schwachköpfe. Draufgehen wirst du. Brichst dir das Genick. Ich prügel dir die Flausen schon aus deinem Schädel.“ Die Worte seines Bruders schwirren dumpf in seinem Kopf, während das Blumenmuster zu einer undefinierbaren Form verschwimmt. Er mochte seinen Bruder sehr, doch hatte dieser nie viel Verständnis für seine Vorstellung vom Leben. Vor Kälte zitternd denkt er an dessen durchgeschwitzten Leib im Süden. Nahezu mechanisch schlagen seine Zähne aufeinander und übernehmen das Kauen des Tabaks automatisch.
Er lebt nun bereits seit fünf Jahren im gottverdammten Norden. Das Glück des großen Goldfundes blieb tatsächlich aus. Dafür fand er eine Stelle bei der Post und erschuf sich mit bloßen Händen und letzten Ersparnissen ein durchaus akzeptables Grundstück nahe einer Siedlung am Yukon. Schnell konnte er mit den Schlittenhunden virtuos umgehen, eine Eigenschaft, die ihm einige Privataufträge unter den grünen Glücksrittern des Nordens einbrachte. Schließlich lernte er Elly kennen und brach so endgültig die Brücken zu seiner Vergangenheit ab. Das Leben hätte, so dachte er, schöner nicht sein können. Könnte er den kleinen, in dieser Gegend jedoch fast absurd ungeeignet wirkenden Körper seiner Liebsten nur noch ein einziges Mal an den seinen drücken und ihr seine Hingabe zeigen. Nur noch ein einziges Mal, so wird ihm jetzt bewusst, will er sehen wie sie mit filigranen Fingern; jungen Zweigen gleich; die Unordnung in ihrem braunen Haar beseitigt, die der arktische Wind mit sich bringt. Dabei pflegte sie, ihr Näschen zu rümpfen und über den Norden zu fluchen, den sie doch so sehr liebte, wie er selbst.
Monotone Stille herrscht auf der Lichtung. Der Wind rauscht im Geäst der Bäume, ist inzwischen für den Mann jedoch in unhörbare Ferne gerückt. Er schaukelt vor und zurück, versucht aufzustehen und scheitert. Seine Gliedmaßen versagen. Die Befehle werden von seinen Beinen ignoriert. Seine Knie sind steif und unbrauchbar. Mit dem Rücken gegen die glatte Felswand gestemmt, versucht er sich erneut aufzurappeln. Er rutscht immer wieder weg und muss seine Unterlegenheit schmerzlich akzeptieren. Würde sie ihn suchen kommen? Sie weiß, mit dem Schlitten umzugehen. Er hatte es ihr oft genug gezeigt. Er taumelt nach vorne, kann sich kniend unter großen Anstrengungen aufrichten und versinkt einige Inches im Schnee, bevor er aus dem Gleichgewicht kommt und seitlich zu Boden fällt. Der Schnee brennt in seinem Gesicht und gelangt unter die Ohrenklappen seiner Mütze. Reflexartig dreht er sich fluchend auf den Rücken. Worte hallen über die Lichtung. Wimmern und dann wieder Stille.
Er muss weg. Der Mann ruft nach Hilfe, ruft nach seinem Bruder, ruft nach seinen Hunden, ruft nach Elly. Die Worte brennen wie Feuer in seinem Hals. Seine Fäuste schlagen ins Leere. Eine tiefe Einsamkeit erfüllt sein Empfinden. Allein in schwarzer Unberührtheit. Keine Farben, keine Töne. Nur graue Dunkelheit. Er würde die Sonne nie wieder sehen. Nie mehr würde ihm warm sein. So soll es nicht enden. Er will kämpfen. Noch ein letztes Mal will er der Wildnis, dem Leben, trotzen.
In der Trommel seines Revolvers befinden sich noch drei Schüsse. Einer für jeden von ihnen, wie ihm jetzt klar wird. Eine für Elly und eine für den Mann, den sie liebt. Und eine für ihn. Ungelenk zieht er beidhändig seinen Revolver aus dem Holster und legt ihn auf seine Brust. Das kalte, schwere Eisen hebt und senkt sich im Takt seines Atems. Er blickt in den schwarzen Lauf und vermag nicht zu sagen, ob die Kälte oder die Angst Auslöser seines Zitterns ist. Er streift den Fäustling seiner rechten Hand ab. Wie Inseln aus Blut erheben sich rote Beulen aus der grauen Haut. Er versucht eine Faust zu ballen. Schmerz. Die Fingergelenke scheinen wie eingerostet. Langsam und sich seines Vorhabens unsicher umklammert er den Griff und führt den Lauf in seinen Mund. Der braune Tabak rieselt in den Schnee, wo er träge versinkt. Der Mann findet nicht die Kraft, den Abzug zu betätigen. Sein Finger ist zu schwach und ungelenk. Ein beißendes, unangenehmes Gefühl durchfährt seine Mundgegend. Die Zunge bleibt am eisigen Metall des Revolvers haften. Verzweiflung; dann Gleichgültigkeit. In seinem Herzen verflucht er Gott und den Norden. Er schließt die Augen und träumt von grünen Wiesen.