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Drei riesige Worte
"Words are, [...], our most inexhaustable source of magic; capable of both inflicting injury and remedying it." Harry Potter and the Deathly Hallows: Part 2
Severina hatte sich durch einen tiefen, schwarzen Ozean treiben lassen, dessen Wogen sie nun wieder an die Oberfläche spülten. Das Laken unter ihr hatte sich mit Schweiß vollgesogen. Noch bevor sie die Augen öffnete, wusste sie, dass es regnete. Laut und in einem monotonen Rhythmus wurden die Tropfen vom Wind gegen das Fenster gepeitscht. Ihr Körper signalisierte ihr hart und unmissverständlich, dass es besser sei, im Bett liegen zu bleiben. Doch im Grunde gab es für sie nichts besseres, als an diesem Samstag aus dem nassen Bett zu steigen, draußen durch den Regen zu rennen und an ihre körperlichen Grenzen zu gelangen. Denn nur dann würde sie abends wieder erschöpft in ihr Bett fallen können. So geschwächt, dass ihr Körper dem Hirn nicht mehr genug Kraft überließ, um allzu intensiv über ihre Situation nachzudenken. Hastig streifte sie ihr Nachthemd ab und hängte es zum Trocknen über eine Stuhllehne. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Medikamentenschachteln im Papierkorb. Dann wrang sie ihre Haare über dem Waschbecken aus. Irgendwo krähte ein Hahn. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch pünktlich sein.
Als sie mühsam keuchend auf dem rostigen Rad um die Ecke bog, standen bereits sieben große, neue Autos auf dem Parkplatz des Waldkindergartens. Die Eltern der Kinder wurden hin und wieder gebeten, am Wochenende bei Reparaturen oder der Pflege des Gemüsegartens mit anzupacken. Sie fuhren an diesen Helferwochenenden mit ihrem Mercedes aus der Stadt vor, um sich dann auf dem Schrebergartengelände des privaten Kindergartens im Schlamm zu tummeln und ihre soziale Ader zu demonstrieren. „Man muss ja auch an die Ökologie denken“, äffte sie die Eltern im Stillen nach und stieg vom Rad. Eine Zeit lang musste sie sich vornüber beugen und um Atem ringen. Dann fing sie sich wieder und öffnete das Gartentor. Die Hunde kamen ihr freudig entgegen. Kurz erinnerte sie sich daran, wie sie vor drei Monaten zum ersten Mal durch dieses Tor gegangen war., um sich hier als Praktikantin zu bewerben. Die Hunde hatten sie angeknurrt, so als könnten sie ihre Panik spüren. Damals fragte sie sich, ob sie ihr Geheimnis kannten.
„Guten Morgen, liebe Severina“, tönten ihr drei der Eltern entgegen, die gerade durch ein Salatbeet robbten und Unkraut jäteten.
Hastig nickte Severina und versuchte dabei, freundlich zu lächeln. Händeschütteln war eigentlich eine der wichtigsten Regeln hier im Kindergarten. Doch keiner machte Anstalten, ihr die Hand zu geben. Also schritt sie weiter zum Traktor und drehte den Zündschlüssel um. In ihrer Kindheit hatte sie das schon tausende Male getan. Genau deshalb war auch ihre Therapeutin auf die Idee gekommen: „Du musst raus aus diesem Großstadtchaos. Auf dem Land kommst du sicher zur Ruhe.“
Zur Ruhe kommen war so ziemlich das Letzte, was Severina wollte. Schnell brachte sie den Hebel in die richtige Position und beobachtete, wie sich der automatische Holzspalter am Ende des Schleppers in Bewegung setzte. Geschickt sprang Severina vom Sitz und begann damit, immer wieder neues Holz zum Spaltblock zu tragen.
Jascha und Mina kamen in ihrer knallbunten Regenkleidung herbeigerannt und schauten gebannt, was Severina da mit dem Holz anstellte. Als sie sich zu ihnen umdrehte, kamen die beiden Kinder freudig näher und reichten ihr die Hand. „Guten Morgen“, riefen sie und grinsten breit. Dann blieben sie noch eine Zeit lang verlegen stehen und plantschten mit den Gummistiefeln in einer großen Pfütze. Schließlich trauten sie sich, zu fragen: „Dürfen wir mal auf dem Schlepper sitzen?“ Unwillkürlich musste Severina an sich selbst denken. Wie sie als kleines Mädchen bei der Heuernte dabei sein wollte. Wie sie sich stolz auf den Traktor ihres Vaters gesetzt und sich ganz erwachsen gefühlt hatte. Anfangs hatten diese Erinnerungen geschmerzt wie eine offene Wunde. Sie hatte die Kinder deshalb kühl behandelt und abwimmeln wollen. Doch Kinder hatten weder große Scheu noch Vorurteile. Sie hatten nicht locker gelassen und Severinas Herz erwärmt. Das hatte dazu beigetragen, dass sie sich nun fast wieder wie damals fühlte, als sie selbst ein kleines Kind war. Die Unbefangenheit der Kleinen half ihr, die Angst als ein dumpfes Gefühl tief in ihr Inneres zu verbannen. Sie hob zuerst Mina und dann Jascha auf den Schlepper und ließ sich von ihrem Lachen mitreißen. Hinter ihr ertönte ein weiteres, angenehm tief klingendes Glucksen. Es war einer der Väter. Der einzige, den Severina näher kannte. „Hallo Severina!“ Er drückte ihre Hand auf die selbe Weise, wie er es bei ihrer ersten Begegnung auch getan hatte. Wolf war an jenem Montag vor drei Monaten, als er seine Mina vom Kindergarten abholte und die neue Praktikantin mit gesenktem Kopf Laub rechen sah, direkt auf sie zugegangen und hatte ihre Hand sanft aber bestimmt festgehalten. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen. Er trat nun sehr nahe an Severina heran, scheinbar um den Traktor genauer zu betrachten. Sie fühlte sich an jenen Abend erinnert, als er mit einer Flasche Wein und selbstgemachtem Gebäck vor ihrer Haustür gestanden hatte.
„Komm, lass uns irgendwo draußen picknicken!“, hatte er nur gesagt und gegrinst. Es war ein überraschend warmer Herbsttag gewesen, die letzten Strahlen der Sonne ergossen sich in einem satten Orange über die Wiesen und beschienen einen Teil von Wolfs Gesicht. Es roch noch einmal nach Sommer.
„Eigentlich passt es mir gerade nicht so sehr“, hatte sie damals gemurmelt, während sie von einem Fuß auf den anderen trat. Es würde ihr nie mehr passen.
„Oh... Entschuldige, es war ja auch nur eine Idee.“
In diesem Moment hatte Severina etwas in Wolfs Augen erahnt. Sie konnte nicht ausmachen, ob es an den Lichtverhältnissen lag, oder ob seine Gesichtszüge ihr etwas normalerweise tief verborgenes offenbarten. Sie fühlte sich ihm seltsam vertraut.
„Okay, lass uns gehen“, hatte sie gesagt. Sie setzten sich auf eine Wiese und beobachteten schweigend ein am Waldrand grasendes Reh. Plötzlich schreckte es auf und hetzte davon.
„Trinkst du Rotwein?“, fragte Wolf. Severina nickte. Sie genossen den fruchtigen Geschmack auf der Zunge, während die Sonne langsam hinterm Horizont verschwand.
„Mina hat mich mal gefragt, warum die Sonne immer wieder den Weg zu uns zurück findet“, erzählte Wolf.
„Das frage ich mich auch manchmal“, gab Severina zu. Sie mussten beide lachen. Ihre Blicke kreuzten sich. Für einen Augenblick blieben sie aneinander hängen.
„Minas Mutter hat gesagt, die Sonne wird uns immer finden. Sie orientiert sich am Schlag unserer Herzen.“, sagte Wolf. Seine Stimme klang seltsam gedämpft. Severina erkannte seinen Schmerz. Ihre Hand bewegte sich in seine Richtung.
„Sie ist... Sie hat... Sie hat mich von den Drogen weggebracht. Es war ein schrecklicher Kampf. Aber ich wusste, sie würde warten. Wenn ich stark bin, wenn ich es schaffe, dann bleiben wir für immer zusammen. Wie in einem Hollywoodfilm. Ich war mir sicher.“ Es wirkte, als wolle Wolf das Karomuster der Picknickdecke studieren. „Sie ist tot. Rettet mich vor der Drogensucht und dann wird sie gelbsüchtig. Ausgerechnet gelb“, sein Lachen klang nicht fröhlich. „Nur für meine Mina bleibe ich clean.“
Dann blieben sie beide stumm. Severina kam ihr eigener Atem unglaublich hohl und laut vor. Sie blickte in die Dämmerung und kniff die Augen zusammen. Dabei versuchte sie, den Punkt auszumachen, an dem zuvor das Reh gegrast hatte. „Das mit den Drogen... Ich weiß, wie es dir ging.“ Ihre Stimme bebte und war kaum hörbar. Fast wurde sie vom Zirpen der Grillen übertönt. Die ersten kühlen Tage des Herbstes hatten den Insekten noch nichts anhaben können.
Eine Ewigkeit blickten Mina und Wolf in Richtung Wald und bewegten sich nicht. Dann legte Wolf seine Handfläche vorsichtig in die Severinas. Sie schaute auf. In der Dunkelheit wirkten ihre Augen tiefschwarz. Wolfs Hand streichelte ihren Unterarm, während er langsam näher zu ihr rückte. Sein Kopf neigte sich. Er legte seine Lippen sanft auf ihre. Severinas Herz schien zu zerspringen. Alles um sie herum begann, sich zu drehen. Sie konnte diesen kurzen Moment genießen. Um dann einem plötzlichen Impuls folgend zurückzuzucken.
Nun standen sie sich hier im strömenden Regen gegenüber. „Ich habe noch deine Tupperdose. Willst du vielleicht mal wieder vorbeikommen?“, fragte sie ihn jetzt.
Er runzelte die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf, so als wolle er eine lästige Erinnerung fortschicken. „Das ist nicht wichtig, ich habe mehrere davon“, sagte er hastig und trat schnell einen großen Schritt zurück.
„Wolf, ich...“, ein Teil von Severina wollte es herauschreien, wollte es ihm sagen.
„Mina, komm wir müssen los“, rief Wolf, packte seine verdutzte Tochter und ging mit ihr zu seinem Mercedes.
„Warum musste Mina schon gehen?“ Jascha verstand die Welt nicht mehr.
Auch Severinas mühsam aufgerichtete Normalität bekam tiefe Kratzer. Ihr wurde seltsam heiß und ihr Mund fühlte sich ganz trocken an. „Ihr Papa musste halt los“, sagte sie unwirsch und hob Jascha unter dessen heftigem Protest wieder vom Traktor. Dann begann sie hastig damit, große Holzbrocken unter den Spaltblock zu hieven.
Wolf fühlte sich, als habe er vergessen, wie man atmet. Dieses Gefühl hatte mit Severina zu tun, das wusste er. „Eigentlich sollte ich umdrehen“, dachte er bei sich. Zurückfahren und sie einfach ganz fest halten.
„Papa, fahr doch nicht so schnell!“ rief Mina vom Rücksitz.
Es war, als sei ein stummer Startschuss abgegeben worden. Jascha rutschte auf dem Matsch aus und erschrak. Severina hörte ihn schreien. Sie schaute nicht, was ihre Hände taten. Nur wenige Kilometer entfernt drehte Wolf sich am Steuer zu Mina um. Sein Auto kam von der nassen Fahrbahn ab und prallte frontal auf einen Baum.
Die Eltern sahen von ihrem Gemüsebeet auf und rannten zum Schlepper. Dort saß die schreiende Severina. Der Spaltblock hatte ihren Arm an der Hauptschlagader getroffen. Alles war voller Blut. Jetzt konnte sie nicht anders, als die Worte hinaus zu schreien. Fühlte sich gezwungen zu sagen, was sie die ganze Zeit hatte verdrängen wollen. Was zu schrecklich war, um wirklich zu sein. Die Eltern starrten sie mit offenem Mund an. Alles schien für eine Ewigkeit eingefroren. Um dann plötzlich rasend schnell über sie hereinzubrechen.
Eine Mutter, die zur Hilfe geeilt war, wich erschrocken zurück und blickte auf das Blut an ihren Händen. Sie begann zu kreischen. Ihr Mann kam herbei, wollte sie festhalten. Doch dann verstand er, schrie nur: „Es hat nichts zu bedeuten!“ und reichte ihr mit spitzen Fingern ein Taschentuch.
„Das ist ja unerhört. Sowas in unserem Kindergarten“, brüllte irgendwer.
Immer mehr Blut schoss aus Severinas Adern. In ihren Ohren brausten die Wellen des Ozeans. Die Gesichter der Eltern konnte sie kaum noch erkennen.
„Mensch, ruft einen Krankenwagen“, rief jemand.
„Warum helft ihr denn nicht?“, fragte ein verschrecktes Mädchen.
„Bringt doch die Kinder hier weg“, sagte einer.
„Hilfe!“, schrie die Frau mit dem Blut an den Händen und ließ das Taschentuch achtlos auf den Boden fallen. Es wurde vom Regen fortgespült.
Irgendjemand rief irgendwann einen Krankenwagen. Er sagte nicht viel. Etwas von Kindern. Von Blut und Gefahr. Einem Unfall. An einer Landstraße. Bei einem Schrebergarten. Der Rettungsdienst dachte, es handle sich um den Autounfall, der bereits von einem kleinen Mädchen namens Mina gemeldet worden war.
„Du hast sie doch angefasst! Dann ist es schon egal, also hilf ihr doch“, sagte jemand zu der Mutter, die sich endlich das Blut von den Händen wusch. Severinas Arm zuckte. Die Kinder schrien und weinten. Nach ewigem Warten riefen die Eltern den Rettungsdienst ein zweites Mal. Als schließlich der Notarzt eintraf, war es zu spät. Jascha murmelte noch wochenlang die letzten Worte seiner großen Freundin vor sich hin, deren Bedeutung er doch nicht erfassen konnte: „Ich habe AIDS!“