- Beitritt
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Dreck und Abfall
DRECK UND ABFALL
Pater Brannigen´s Kopf lag neben mir auf dem Beifahrersitz und machte mir Vorwürfe. Ich hörte ihm nicht zu. Mich beschäftigten ganz andere Gedanken. Zum Beispiel wie ich aus dieser beschissenen Situation vernünftig rauskommen könnte. Wohin die Straße führen würde, auf der wir seit einer Ewigkeit dem Sonnenuntergang entgegen fuhren. Dieser verdammte nicht enden wollende Sonnenuntergang. Ich sah nicht nach vorn. Es war mir egal. Ich befand mich in meiner eigenen...
„Paß auf!“ schrie Brannigen´s Kopf.
„Was?“ Ich öffnete meine Augen, bremste und riß das Lenkrad um. Der Wagen drehte sich, Reifen quitschten, aber schließlich blieben wir stehen. „Scheiße.“ sagte ich.
„Du hättest sie beinahe überfahren.“ schrie Brannigen´s Kopf wütend.
Ich holte tief Luft. „Schon gut. Nichts passiert.“
„Sieh nach! Sieh nach!“
Ich drehte mich um. Auf der Straße stand ein kleines Mädchen. „Da steht ein kleines Mädchen.“ In letzter Zeit standen viele kleine Mädchen einfach so auf den Straßen. Ich zuckte mit den Schultern. „Können wir dann weiterfahren?“
„Nein!“ sagte Brannigen´s Kopf. „Du solltest nach ihr sehen.“
Ich lächelte. „Und wozu? Sie ist bestimmt so wie die anderen. Wir sollten einfach weiterfahren!“ Brannigen´s Kopf sagte nichts. „Oh Scheiße.“ Ich öffnete das Handschuhfach und nahm die Pistole. „Also gut.“ Ich stieg aus.
Langsam näherte ich mich dem Mädchen. „He, Kleines!“ rief ich. Sie stand einfach nur da. Das ist nicht wie sonst, dachte ich und blieb stehen. „Kleines?“ Und dann bewegte sie sich. Ich ging einen Schritt zurück und zielte mit der Waffe auf ihren Kopf. Die einzige Methode, um... Sie war nicht so wie die anderen Mädchen. Ich steckte meine Waffe weg und trat auf sie zu. Sie wich zurück. „Du mußt keine Angst haben.“ sagte ich leise.
„Angst?“ Das Mädchen sah mich mit fragenden Augen an.
„Ja, Angst. Weißt du was Angst ist?“
„Nein.“
Ich nickte. „Gut, das mußt du auch nicht wissen.“ Ich reichte ihr meine Hand. „Na komm. Du kannst bei mir mitfahren.“ Zögernd ergriff sie meine Hand. Wir gingen zum Wagen zurück.
„Das ist Pater Brannigen.“ sagte ich und deutete auf den Kopf. „Ich bin Jim.“ Das Mädchen sah entsetzt zu dem Kopf. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Es war bestimmt kein leichter Anblick für sie. „He, Kleines. Und du?“
Sie sah wieder zu mir. „Was?“
„Dein Name, Mädchen.“
„Was?“
Ich zeigte auf Brannigen´s Kopf. „Brannigen.“ Dann auf mich. „Jim.“ Dann auf sie. „Und du?“
Das Mädchen überlegte.
„Hast du deinen Namen vergessen?“ fragte Brannigen´s Kopf.
„Sei ruhig!“ herrschte ich ihn an.
Das Mädchen schüttelte den Kopf und sagte leise: „Sie haben mich immer als... Dreck bezeichnet.“
„Dreck ist doch kein Name!“ sagte Brannigen´s Kopf. „Nein, so geht das nicht. Wie wäre es mit Joy? Jim? Joy ist doch ein guter Name für ein kleines Mädchen.“
„Amen!“ sagte ich. „Ja, Joy klingt doch nicht schlecht.“ Ich berührte das Mädchen am Arm. „Möchtest du Joy heißen, Kleines?“
Ihr Lächeln sagte alles.
Wir fuhren weiter, diesem verdammten Sonnenuntergang entgegen. „Was hast du auf der Straße gemacht, Joy?“ fragte ich. Bei den anderen war es immer eine Falle gewesen, die waren niemals allein. „Joy?“
„Ich stand einfach dort.“
„Einfach so?“
„Ja, einfach so.“ Sie sah aus dem Fenster. „Wohin fahren wir?“
Ich zündete mir eine Zigarette an. Scheiße, was sollte ich ihr sagen? „Tja, weißt du...“ Brannigen´s Kopf rettete mich.
„Kennst du den Garten Eden?“ fragte er Joy.
„Nein.“
„Zu diesem Ort fahren wir, Joy.“ Ich dankte ihm für diese Worte.
„Und... was ist der Garten Eden?“
Ich zog an der Zigarette und sagte: „Ein Ort nur für uns. Ein Ort, zu dem die anderen nicht gelangen können.“ Die Straße wurde etwas holpriger. Joy sagte nichts mehr, sie schien mit der Antwort wohl zufrieden zu sein. Wir drei schwiegen, während ich weiter geradeaus fuhr, wohin auch immer. Und dann sah ich den Krater. Und hielt an.
„Jim?“ fragte Brannigen´s Kopf. „Warum hälst du?“
„Warum befinde ich mich in diesem Alptraum, hm?“ entgegnete ich. „Du bleibst bei Brannigen, okay?“ sagte ich zu Joy und stieg aus.
Ich stand am Rand des Kraters und war mir nicht sicher, ob ich lachen oder weinen sollte. „Scheiße.“ murmelte ich. Ich hob eine Hand auf. „Verfluchte Scheiße!“ Ich warf sie weg. Sie waren also schon hier gewesen.
„Jim?“
Ich drehte mich um. Es war Joy, und sie hatte Brannigen´s Kopf bei sich. „Was ist das?“
Ich konnte nicht erkennen, ob sie Tränen in den Augen hatte, aber ihre Stimme zitterte. „He, Kleines. Hab keine...“ Sie ließ den Kopf fallen...
„Argh! Scheiße!“ schrie Brannigen.
Ich hob ihn auf und wischte ihm den Dreck aus dem Gesicht. „Alles in Ordnung.“ sagte ich. Dann sah ich zu Joy. Ich wußte, daß sie so etwas noch nie gesehen hatte. „Ja.“ sagte ich. „Grausam, nicht wahr?“
Fassungslos sah Joy in den Krater. „Wer hat das gemacht?“ Sie kniete sich hin und berührte einen der vielen abgetrennten Füße. „Wer hat das gemacht?“ fragte sie erneut.
Ich setzte Brannigen´s Kopf vorsichtig auf den Boden und ging zu Joy.
Sie stand auf. „Wer hat das gemacht, Jim?“
Und jetzt konnte ich ihre Tränen deutlich erkennen. „Joy.“ Ich drückte sie an mich. Ich sagte nichts mehr. Ich konnte nichts mehr sagen.
„Jim!“ rief Brannigen´s Kopf. „Jim!“
Ich ließ Joy los. „Ja?“
„Dahinten! Siehst du?“
„Ja.“ sagte ich. Ich hob ihn auf und nahm Joy an der Hand. „Wir müssen weg.“
Im Rückspiegel konnte ich die Lichter erkennen. Ich beschleunigte. Scheiße, dachte ich.
„Wenn die uns bemerkt haben, dann gnade uns Gott.“ sagte Brannigen´s Kopf.
„Amen.“ sagte ich und sah wieder in den Rückspiegel. Die Lichter kamen näher. „Scheiße!“
Wir hatten Glück gehabt. Die Lichter waren irgendwann kleiner geworden und schließlich verschwunden. Wir drei hatten uns wieder etwas beruhigt. Ich zog an der Zigarette, während sich Joy mit Brannigen´s Kopf unterhielt.
„Und dieser Garten Eden. Er ist wirklich nur für uns?“ fragte Joy.
„Oh ja. Ein Ort der Ruhe, des Friedens und Glücks nur für uns. Nur für uns, die frei von Sünde sind.“
„Frei von Sünde?“
„Ja. Wir haben uns nichts vorzuwerfen, Joy. Wir haben die Grenze nicht überschritten. Die anderen schon. Und deshalb verfolgen sie uns. Verstehst du?“
„Nein.“
Ich kurbelte das Fenster herunter und warf die Zigarette nach draußen. „Ist auch nicht so wichtig. Hauptsache, wie begegnen den anderen nicht.“ Ich sah zu Brannigen´s Kopf. „Das ist die Hauptsache, verdammt.“ Brannigen´s Kopf sagte nichts, aber ich wußte, daß er mir zustimmte. Im Rückspiegel konnte ich Joy´s Gesicht sehen. Die vielen Fragen, die sie hatte. „Ich weiß es nicht, Joy.“ sagte ich. Ich versuchte, zuversichtlich zu sein. „Ich weiß es wirklich nicht.“
Für die anderen waren wir nur Dreck und Abfall, dachte ich. Ich lächelte. Ja, das mußten wir wohl sein. Neben mir Pater Brannigan´s Kopf auf dem Beifahrersitz. Auf der Rückbank Joy, welche nur noch einen Arm hatte. Und schließlich ich, mit einem großen Loch im Bauch, am Lenkrad des Wagens.
Schweigend fuhren wir dem nicht enden wollenden Sonnenuntergang entgegen. Ob wir jemals unseren Garten Eden erreichen würden, konnte ich nicht sagen. Pater Brannigen´s Kopf glaubte fest daran. Joy war zuversichtlich. Ich aber wußte es wirklich nicht.
ENDE
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Sodele!